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       # taz.de -- Alkoholismus in Deutschland: Immer mehr Süchtige
       
       > 1,8 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig. Das
       > Bundesgesundheitsministerium weist Vorwürfe politischer Untätigkeit
       > zurück.
       
   IMG Bild: Auch das noch: Alkohol am Steuer.
       
       BERLIN taz | Die Zahl der Alkoholabhängigen in Deutschland ist innerhalb
       weniger Jahre erheblich gestiegen – auf knapp 1,8 Millionen Menschen im
       Jahr 2012. Das entspricht einer Zunahme um 36 Prozent gegenüber dem Jahr
       2006 (1,3 Millionen Abhängige). Weitere 1,6 Millionen Menschen weisen einen
       Alkoholmissbrauch auf, trinken also in gesundheitsgefährdender Weise, ohne
       jedoch körperlich abhängig zu sein.
       
       Und: Insgesamt 7,4 Millionen Deutsche konsumieren mehr als die Höchstmenge,
       die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt. Das ist das Ergebnis
       des [1][jüngsten Epidemiologischen Suchtsurveys] des Münchner Instituts für
       Therapieforschung. Beauftragt und finanziert hatte die Studie das
       Bundesgesundheitsministerium mit 900.000 Euro.
       
       Die Ergebnisse zur Nikotin- und Medikamentenabhängigkeit [2][sind nicht
       minder alarmierend:] 5,6 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 18 und
       64 Jahren sind tabakabhängig; das entspricht 10,8 Prozent dieser
       Bevölkerungsgruppe. Zwischen 2006 und 2012 stieg zudem die Zahl der
       Medikamentenabhängigen von 1,5 Millionen auf 2,3 Millionen Menschen, also
       um 53 Prozent.
       
       „Vor allem bei älteren Menschen steigt durch häufige Parallelmedikation und
       lange Verordnungszeiten von Medikamenten die Gefahr gesundheitlicher
       Schäden“, warnen die Autoren der Studie. Und: „Man schätzt, dass 4 bis 5
       Prozent der häufig verordneten Medikamente, vor allem Schlaf- und
       Beruhigungsmittel, ein Missbrauchs- oder Abhängigkeitspotential haben.“
       
       ## Durchschnittlicher täglicher Alkoholkonsum rückläufig
       
       Das Münchner Institut hatte im Jahr 2012 insgesamt 9.084 Personen im Alter
       zwischen 18 und 64 Jahren per Zufallsstichprobe aus den
       Einwohnermelderegistern schriftlich, telefonisch und über das Internet
       befragt; die Antwortrate lag bei 53,6 Prozent. Die Einstufungen in die
       jeweiligen Abhängigkeiten erfolgten nach dem internationalen
       Klassifikationssystem DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual
       Psychischer Störungen).
       
       „Die Ziehung einer gestuften Zufallsstichprobe garantiert die
       Unabhängigkeit der Ergebnisse und damit ihre Generalisierbarkeit“, betonen
       die Autoren. Zum Vergleich: Bei repräsentativen Wählerumfragen werden in
       der Regel 1.000 bis 2.000 Personen befragt.
       
       Zwar sei der durchschnittliche tägliche Alkoholkonsum rückläufig –
       insbesondere bei den Männern. Diese tränken täglich 5 bis 7 Gramm
       Reinalkohol weniger als noch im Jahr 1995 (das entspricht etwa 0,1 Liter
       Wein). Gleichzeitig sei aber die Zahl der Abhängigen gewachsen. Übersetzt
       heißt das: Diejenigen, die trinken, trinken zunehmend mehr. Besonders
       gefährdet seien junge Erwachsene unter 25 Jahren.
       
       ## Keine Presseerklärung wert
       
       Bemerkenswert deutlich ist der Katalog politischer Forderungen, die die
       Münchner Wissenschaftler am Ende ihrer mehr als 300-seitigen Studie
       erheben: „Höhere Steuern auf alkoholische Getränke könnten neben
       Werbeverboten und Verkaufsbeschränkungen effektiv zur Verringerung des
       Alkoholkonsums und alkoholbedingter Probleme in der Bevölkerung beitragen“,
       schreiben sie.
       
       Auch zum Rauchen haben die Wissenschaftler klare Vorstellungen:
       „Gleichzeitig ist es sinnvoll, sowohl Rauchstopp-Angebote als auch
       primärpräventive Maßnahmen für Jugendliche auszubauen, da eine
       längerfristige Abstinenz im Jugendalter das Risiko der Entwicklung einer
       Tabakabhängigkeit im Erwachsenenalter deutlich reduziert.“
       
       Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das
       Bundesgesundheitsministerium als Auftraggeberin der Studie deren Ergebnisse
       und Einschätzungen einer breiten Öffentlichkeit offenbar gar nicht zuteil
       werden lassen wollte: Publiziert wurde die Erhebung lediglich im Dezember
       2013 in dem wissenschaftlichen Fachmedium „Sucht“. Sie findet sich weder
       auf der Internetseite des Ministeriums noch war sie dem damaligen Minister
       Daniel Bahr (FDP) eine Pressemitteilung wert. Auf Nachfrage bestätigte ein
       Sprecher, dass das Ministerium bereits seit dem Herbst 2013 Kenntnis von
       den Zahlen gehabt hatte.
       
       Öffentlich machte sie statt dessen jetzt der grüne Bundestagsabgeordnete
       Harald Terpe: „Die Zahlen sind die Quittung für eine untätige Sucht- und
       Drogenpolitik in den letzten vier Jahren“, schimpfte er. Abhängige warteten
       oft Monate auf die Genehmigung einer Therapie. Auch zwischen Entgiftung und
       Therapie entstünden oft wochenlange Wartezeiten. Es sei „dringend
       notwendig, die Angebote für Suchtkranke zu verbessern“, so Terpe.
       
       ## „Verschiedene Interpretationsmöglichkeiten“
       
       Das Ministerium wie die Kritik zurück. Die Publikation in einem Fachmedium
       sei ein „normales Verfahren“, und: „Wenn man die Kürze der Zeit betrachtet,
       ist diese Studie sogar recht zügig veröffentlicht worden“. Der Verlag werde
       die Studie nunmehr aber für alle Bürgerinnen und Bürger „freischalten“,
       teilte das Ministerium mit.
       
       Die Studienergebnisse ließen „verschiedene Interpretationsmöglichkeiten“
       zu, so das Ministerium. Unbestritten und bedauerlich sei zwar der Anstieg
       der Alkoholabhängigen. Doch könne es sein, „dass die Gesellschaft
       inzwischen sensibilisierter beim Thema Rauschkonsum ist“ – und Menschen
       folglich öfter von ihren Freunden und Bekannten als in früheren Jahren auf
       ihren Alkolholkonsum angesprochen würden. Die Häufigkeit, mit der Menschen
       auf ihr etwaiges Suchtproblem angesprochen werden, wird von den
       Interviewern als ein Kriterium potenzieller Abhängigkeit gewertet
       
       Den Vorwurf der Untätigkeit wies das Bundesgesundheitsministerium zurück:
       Allein im Jahr 2013 seien 1,3 Millionen Euro in den Bereich der
       Alkoholprävention geflossen. Gefördert würden sowohl Projekte, die sich an
       Jugendliche richteten, aber auch solche zur Bekämpfung von „Sucht im Alter“
       und während der Schwangerschaft und Stillzeit.
       
       Nach Angaben des Ministeriums beträgt der jährliche Alkoholkonsum in
       Deutschland derzeit 9,6 Liter pro Einwohner. Das sei „im internationalen
       Vergleich ein hoher Wert“. Untersuchungen zu alkoholbezogenen
       Gesundheitsstörungen und Todesfällen gingen von etwa 74.000 Todesfällen pro
       Jahr aus, die allein durch den Alkoholkonsum oder durch den Konsum von
       Tabak und Alkohol bedingt sind.
       
       Gemäß dem Jahrbuch Sucht 2013 der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren
       seien etwa 26 Prozent dieser Todesfälle allein auf den Alkoholkonsum
       zurückzuführen. Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol beliefen
       sich auf 26,7 Milliarden Euro, davon entfielen allein 7,4 Milliarden Euro
       direkte Kosten für das Gesundheitssystem.
       
       10 Jan 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.psycontent.com/content/j3066072t423x578/?p=30ee64c8490545c08c7bc006aedfa195&pi=1
   DIR [2] http://www.psycontent.com/content/946m87w0g4812vu8/?p=30ee64c8490545c08c7bc006aedfa195&pi=2
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
       
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