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       # taz.de -- Hip-Hop in Vietnam: B-Boy or die
       
       > Zu Füßen Lenins üben Kids allabendlich Breakdance. Touristen und
       > Austauschschüler beflügelten das Entstehen einer Hip-Hop-Szene in
       > Vietnam.
       
   IMG Bild: Auch in Deutschland: Das Breakdanceteam „S.I.N.E. Crew“ aus Vietnam bei der Weltmeisterschaft „Battle of the Year“ im Oktober.
       
       Ein stickiger Dunstschleier hängt über der Stadt, die schwüle Luft trieft
       vor Abgasen. Als der Countdown-Zähler der Kreuzungsampel auf null springt
       und grün gibt, setzt sich eine hupende Armada aus Motorrollern in Bewegung
       und knattert die Dien-Biên-Phu-Straße hinunter. Ein Meer von Hondas – so
       offenbart sich die wirtschaftliche Öffnung Doi moi im pulsierenden Hanoi,
       Hauptstadt der Sozialistischen Republik Vietnam.
       
       Umrahmt wird das geschäftige Treiben von überdimensionalen Plakaten mit
       sozialistischer Propaganda und Polizisten in Uniform, die überall
       patrouillieren. Im angrenzenden Park scheint der in Bronze gegossene Lenin
       mit erhobener Hand gegen das Verkehrschaos und die Kakofonie der
       Millionenmetropole rebellieren zu wollen. Die Statue ist ein Relikt des
       Kalten Krieges. Von Revolution wollen die vietnamesischen Kids, die sich
       hier allabendlich tummeln nichts wissen. Wenn es dunkel wird, fangen sie an
       zu skaten, hören über Handy-Lautsprecher Musik und feilen an neuen
       Breakdance-Figuren.
       
       B-Boying ist in Vietnam eine der wenigen Möglichkeiten sich als Individuum
       auszudrücken, sich von der Masse abzuheben – und, wer hart genug trainiert
       kann es zu etwas bringen. Das zeigt das Beispiel der vietnamesischen
       B-Boy-Vereinigung Big Toe. Wenn es um Windmills, Backspins und spektakuläre
       Headspins geht, ist die Crew aus Hanoi im Land das Maß aller Dinge. Alle
       träumen davon, einmal in den Reihen von Big Toe tanzen zu dürfen.
       
       Für die meisten der mittlerweile auf 60 Mitglieder angewachsenen Crew
       eröffnet sich dadurch nicht nur Anerkennung bei Gleichaltrigen sondern ein
       aufregendes Leben. Mit Breakdance können junge Vietnamesen das Ticket
       lösen, das raus führt aus dem kollektivistischen Alltag. Im Namen des
       Goethe-Instituts Vietnam und unter Anleitung von Niels „Storm“ Robitzky –
       einem deutschen Breakdance-Veteranen – sowie dem Franzosen Sébastien
       Ramirez ist die Truppe 2005 mit dem eigens einstudierten Theaterstück „Xe
       Co“ (Traffic) quer durch Südostasien getourt.
       
       2011 führte der Weg für neun Big Toe-Tänzer sogar bis nach Europa. In
       Berlin und Paris führte die Crew „Nhieu Mat“ (Faces) auf. Leitthema der
       Stücke ist fast immer die Reibungsfläche zwischen Tradition und Moderne im
       aufstrebenden Schwellenland Vietnam.
       
       Während die Kommunistische Partei sich noch in vorsichtigen Schritten auf
       den freien Markt zubewegt, tanzt der Nachwuchs bereits mit Six-Steps in die
       Zukunft. An allen Ecken in Hanoi sind tanzende Teenager zu sehen. Mit
       akrobatischen Bewegungen scheinen die Straßenprotagonisten ihre Umgebung
       aus brutalistischer Architektur und sozialistischer Massenästhetik in ein
       modernes Ballett für sich umzuinterpretieren.
       
       Selbst um den Hoàn-Kiem-See, das Herzstück des altehrwürdigen Zentrums und
       soziale Plattform von Hanoi ist, sind Tänzer aktiv. Musik ertönt dazu leise
       vom Mobiltelefon oder schlichtweg gar nicht – die Polizei duldet das nicht.
       Bis ins Jahr 2000 war der zuweilen subversiv anmutende Breakdance sogar
       komplett verboten.
       
       ## Headspins für Onkel Ho
       
       Austauschschüler haben die Tanzform Anfang der Neunziger – kurz nach dem
       Ausbruch aus der politischen und wirtschaftlichen Isolation – nach Vietnam
       importiert und die Jugend damit angesteckt. Thanh, 39, besser bekannt unter
       seinem Tagnamen „Lion-T“, war einer von ihnen. Der Vietnamese mit der
       rotbuschigen Mähne ist unbestrittener Chef der „Big Toe“ Crew und hat
       bereits 1992 mit Breakdance angefangen.
       
       Was es damit konkret auf sich hat, wurde ihm und seinen Mitstreitern jedoch
       erst zu einem viel späteren Zeitpunkt bewusst, als ein Niels „Storm“
       Robitzky aus Deutschland den geschichtlichen Hintergrund erläuterte und
       einen Zusammenhang mit den anderen drei Elementen der Hip-Hop-Kultur –
       DJ-ying, Rap und Graffiti – herstellte.
       
       Mittlerweile ist Breakdance fest in der vietnamesischen Popkultur
       verankert. Selbst die KP hat das Potenzial von Hip-Hop und den Einfluss von
       Big Toe längst für sich entdeckt und gibt sich pragmatisch: Wenn Breakdance
       schon so populär ist, dann sollen die Headspins wenigstens im Dienste von
       Onkel Ho und dem gelben Stern gedreht werden. Bei den pompös inszenierten
       Staatsfeiern sind die Tänzer an vorderster Front im Einsatz.
       
       In der Thái-Thinh-Straße, am Stadtrand von Hanoi, befindet sich Doàn Xiec,
       das Trainingszentrum der Big Toe-Crew. Jugendliche nehmen strapaziöse
       Anreisen aus entlegenen Teilen Nordvietnams in Kauf, um hier „Battles“
       auszutragen.
       
       Bei knapp 40° Celsius Raumtemperatur pressen sich Scharen von Tänzern in
       den Gymnastiksaal und messen sich mit ihren Tanzkünsten bis der Schweiß in
       Strömen fließt. Von konfuzianischer Zurückhaltung keine Spur: Anstelle von
       spröde aus dem Mobiltelefon träufelndem Sound, schallen hier subsonische
       Bassbeats von Run DMC und „Renegades of Funk“ von Rage Against the Machine
       aus den Boxen.
       
       Die Tanzeinlagen sind geprägt von außergewöhnlicher Athletik und
       asiatischer Artistik. Nach dem Air Freeze, einem Handstand mit nur einem
       Arm, geht es direkt über zur Windmill, bei der sich die B-Boys auf dem
       Boden um die eigene Achse drehen. Bei irrem Tempo wirbeln Sneakers mit
       bunten Schnürsenkeln durch den Raum. Packende zwei-gegen-zwei-Battles wie
       hier sind in den USA und Europa längst eine Seltenheit geworden – in
       Vietnam ist die Begeisterungsfähigkeit für B-Boying ungebremst. „B-Boy or
       die“ steht auf einigen Shirts zu lesen.
       
       ## Der bekannteste Rapper Vietnams ist eine Frau
       
       Getanzt wird überwiegend zu Musik des einstigen Klassenfeinds. Auf die
       Frage, wie es denn um den vietnamesischen Sprechgesang steht, winkt Thanh
       ab. Zu oft schon sind die Wortgefechte zwischen Rappern aus dem Ruder
       gelaufen und endeten in Schlägereien, die erst von der Polizei aufgelöst
       werden konnten. „Die Rapper werden schnell obszön und beleidigend. Die
       Atmosphäre bei Rap-Battles ist eher unentspannt“, erklärt der
       vietnamesische Tanzpionier, der Big Toe unter anderem schon unter die fünf
       Bestplatzierten bei der renommierten Südostasien-Meisterschaft geführt hat.
       
       Schaut man sich an, wie viele junge Mädchen bei der Big Toe-Crew aktiv
       sind, verwundert es nicht, dass der bekannteste vietnamesische Rapper eine
       Frau ist: Suboi. Die zierliche Wortakrobatin ist zarte 23 Jahre alt, heißt
       mit bürgerlichem Namen Hàng Lâm Trang Anh und stammt aus der
       südvietnamesischen Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt – dem früheren Saigon. Auch
       wenn sie schon mal einzelne Verse auf Vietnamesisch in ihre Strophen
       einstreut, rappt Suboi in erster Linie auf Englisch, das sie sich durch
       Texte von Eminem selbst beigebracht hat.
       
       Kommerziell ist sie damit überaus erfolgreich – bei MTV-Vietnam laufen ihre
       Videos rauf und runter. Auch Sequenzen mit B-Boys sind in ihren Videos
       obligatorisch. Die Tänzer stammen von der Big South-Crew – dem südlichen
       Pendant zu Big Toe. Die Glitzerkettchen der Aktivisten funkeln hier noch
       etwas markanter und überhaupt ist Hip-Hop im Süden noch enger verknüpft mit
       modischer Erscheinung. Möglicherweise ist dieses Phänomen auf die frühere
       Präsenz der US-Armee in Südvietnam zurückzuführen, deren Einfluss auch
       lange nach dem Abzug noch spürbar ist und im Kontrast zum nüchterneren
       Norden steht.
       
       „Ich bin mir nicht sicher, wie viele Leute hier überhaupt verstehen, um was
       es bei Hip-Hop eigentlich geht“, beklagt sich DJ Jase aus
       Ho-Chi-Minh-Stadt. „Die meisten Kids kennen Hip-Hop nur so, wie MTV es
       ihnen präsentiert und wissen nichts über die Anfänge und den Hintergrund
       der Kultur.“ Die von Jase initiierte Vereinigung, The Beats Saigon, setzt
       sich seit 2007 für die Förderung urbaner Musik ein.
       
       „Wenn ich in Saigon ausgegangen bin, lief nirgendwo Musik, auf die ich
       selbst abgefahren bin. Die meisten DJs hier spielen überall den gleichen
       kommerziellen Mist in den Clubs – was besonders für einen DJ natürlich
       frustrierend ist“, erklärt Jase. „Seitdem setze ich mich für die
       Ausbreitung urbaner Musik ein und schmeiße meine eigenen Partys.“
       
       Während es im Norden mehr B-Boys gibt, sind Clubszene und Graffiti wiederum
       in Ho-Chi-Minh-Stadt weiter entwickelt. DAOS, 22, gehört zu den Vorreitern
       im Land. Seine Schriftzüge prägen das Stadtbild Saigons. Besonders das
       anspruchsvolle technische Level des jungen Sprühers überrascht, bedenkt
       man, dass es vor Aufpassern nur so wimmelt. Strafen für illegales Sprühen
       sind drakonisch: 500 Dollar kostet die Entfernung eines Graffitos – was für
       einen vietnamesischen Studenten unbezahlbar ist.
       
       ## Graffiti nicht zu stoppen
       
       Trotzdem ist Graffiti in Ho-Chi-Minh-Stadt nicht zu stoppen. „Nachts
       übernehmen wir die Straßen und malen überall wo wir Lust haben“, prahlt
       DAOS. „Ist die Polizei im Anmarsch, heißt es Rennen. Und dann rennen wir um
       unser Leben“, erklärt der Junge mit einem verschmitzten Lächeln. Erwischt
       wurde er bisher nicht. Erste Graffitis entstanden in Vietnam circa 2000 –
       in der Hauptstadt Hanoi. Touristen haben die Kunst aus der Dose
       mitgebracht. Bücher, ausländisches Fernsehen und das Internet taten ein
       Übriges.
       
       Vietnam und Hip-Hop, das steht zunächst im Widerspruch zu gängigen
       Klischees westlicher Touristen, die das Land noch immer mit fernöstlicher
       Kolonialnostalgie und Bildern aus der Zeit des Vietnamkriegs verbinden.
       Eben so, wie sie in Filmen wie „Apocalypse Now“ aufgetischt werden.
       Tatsächlich wurden jedoch zwei Drittel der jungen Bevölkerung erst nach
       Kriegsende 1975, geboren und haben selbst keine Erinnerungen an
       Auseinandersetzungen mit Franzosen und Amerikanern.
       
       Ihr Blick ist in eine verheißungsvolle ökonomische Zukunft gerichtet und
       nicht in die von Entbehrungen geprägte Vergangenheit. „Song voi“ (lebe
       jetzt) lautet das Motto der Jugend. Charlie surft nicht, das mag vielleicht
       stimmen – aber er liebt Breakdance!
       
       6 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Margara
       
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