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       # taz.de -- Beziehungen heute: Sehnsucht nach dem Puppenheim
       
       > Der Rückzug ins Private – Backlash der Frauenbewegung oder die
       > Emanzipation auf höherer Stufe? Es ist Zeit, über Gehen und Bleiben
       > nachzudenken.
       
   IMG Bild: Mädels, das ist doch echt hübsch!
       
       Am Ende geht Nora. Sie geht jedes Mal, seit 1879 immer wieder und wird es
       auch in Zukunft tun. Selbst wenn sie bleiben wollte, hat sie keine andere
       Wahl, sie selbst ist nämlich gar nicht gefragt. Es ist ihre moralische
       Pflicht, ihr Auftrag, es gibt Ibsens Nora nur, damit sie am Ende geht, aus
       einer toten Ehe heraus und aus gesellschaftlichen Erwartungen, an die sie
       den Glauben verloren hat.
       
       „Ich muss herauskriegen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich“, sagt
       sie in dem Drama „Nora oder Ein Puppenheim“ von Henrik Ibsen, das schon
       bald zu einem literarischen Meilenstein der Frauenbewegung wurde.
       
       Wenn ich mich heute umschaue, sehe ich in der Realität vorwiegend zwei
       Inszenierungen der zeitgenössischen Nora Helmer. Jene des ständig im Gehen
       begriffenen, des überbeweglichen modernen Akademiker-Alphatierchens, das
       der Gesellschaft nebenher auch noch ein oder zwei Kinder zuführt, um den
       demografischen Wandel abzumildern – das Familienministerium nickt es
       wohlwollend ab.
       
       Und jene, die plötzlich aufgibt, wofür sie so lange die Leistungstreppe
       hinaufgekraxelt ist, Kollegen überholt hat, erst in der Schule, dann im
       Studium, schließlich im Berufsleben. Und jetzt das Kind, und alles andere
       scheint nicht mehr zu zählen. Während ihr Freund, bisher Nummer zwei im
       Duo, gerade beruflich durchstartet, hat sie das alles schon hinter sich:
       den Kitzel des Erfolgs, die Bestätigung durch Leistung. Und war’s das?
       Achselzucken. Für eine Zeit, aber es gibt auch noch anderes.
       
       ## „Ich wache endlich auf“
       
       „Bis jetzt habe ich immer gedacht, ich müsste die Beste sein“, sagt eine
       Freundin zu mir. „Aber langsam merke ich, dass im Privatleben mehr zu holen
       ist als im Beruf. Es ist, als wache ich endlich auf.“
       
       Ist das nun der Backlash der Frauenbewegung oder die Emanzipation auf
       nächsthöherer Stufe, die Befreiung von einer allzu streng, allzu einseitig
       gewordenen Emanzipation und von einem gesellschaftlichen Erwartungsdruck,
       in dem Leistung und Erfolg als Glücksversprechen per se gelten? Das Weiten
       des Blicks für all das, was zunehmend in die Banlieues der Lebensentwürfe
       verbannt wurde? Oder doch eine Kapitulation vor beruflicher Verantwortung,
       für die das Selbstbewusstsein am Ende nicht reicht, sodass der Rückzug ins
       Warm-Häusliche angetreten wird?
       
       Mittlerweile wird Noras Erbe in der Pi mal Daumen fünften Generation
       durchgespielt, von Frauen der 1980er Jahrgänge, die in den ins Heute
       übersetzten Verhältnissen von Ibsens Nora leben. Frauen aus dem Bürgertum
       also, oder für die, denen dieser Begriff zu sehr 19. Jahrhundert ist, aus
       der Mittelschicht, und von der Mittelschicht eher nicht die untere Hälfte.
       Die meisten von ihnen haben studiert, einige sind von den Eltern über
       Bafög-Niveau durch die Semester finanziert worden, die meisten kaufen weder
       bei KiK noch bei Prada ein, sondern irgendwo dazwischen, und das, was sie
       dort kaufen, darf gern figurbetont sein und weiblich. Latzhosen haben sie
       zuletzt im Sandkasten getragen.
       
       Dass sie beruflich vorankommen wollen, müssen sie nicht mehr mit
       theoretischem Überbau erkämpfen, es wird vielmehr von ihnen erwartet, und
       wenn sie beim Aufstieg gegen die gläserne Decke stoßen, hilft ihnen auch
       keine linke Lektüre. Als ihre Eltern so alt waren wie sie, stritt die
       Grünen-Abgeordnete Jutta Dittfurth in der Elefantenrunde gegen eine
       verschworene Männertruppe, ihre Väter lernten Geschirr spülen, Windeln
       waschen und die Arbeitslosigkeit nach dem Studium nicht als Angriff auf
       ihre Männlichkeit zu verstehen. Die Mütter gaben ihnen gern den Namen Nora,
       weil sie das Gehen so wichtig fanden für das Leben. Oder zumindest für ihr
       eigenes.
       
       ## Man geht heute schneller
       
       Das Gehen scheint heute als Möglichkeit vorausgesetzt. Der einstige, auch
       ökonomisch begründete Zwang, in einer Paarbeziehung zu bleiben, ist durch
       den Zwang, zu gehen oder zumindest ans Gehen zu denken ersetzt. Man geht
       schneller, als man ankommt, ist immer schon ein bisschen gegangen, und man
       geht mit erhobenem Haupt. Es ist ganz sicher kein so radikal progressiver
       Befreiungsschlag mehr, als der es sich 1879 auf der Bühne zeigte. Wäre es
       da nicht an der Zeit, nach dem Bleiben zu fragen?
       
       Ja und nein. Denn man darf eines nicht übersehen: Der letzte Akt des
       Stückes, die finale Abkehr von den gesellschaftlichen Erwartungen, würde
       sich heute vermutlich gar nicht mehr in ehelicher Wohnzimmeratmosphäre
       abspielen. Die Rolle, die für die Mittelschichtsdreißigerinnen
       zugeschnitten wird, ist eben nicht jene der Mutter und der kindlich
       bleibenden Gattin, sondern der selbstbewussten Frau, die Karriere im
       Handumdrehen macht und Beziehung nach ihren eigenen Maßstäben definiert,
       darüber hinaus aber sowieso nicht auf eine solche angewiesen ist; eine
       Frau, die, sofern sie bereits Familie hat, den Ehemann mit dem Kind auf den
       Spielplatz schickt und sich mit ihm nicht mehr um die Aufteilung der
       Hausarbeit streitet, weil sie längst eine Putzfrau hat.
       
       Schön und gut, so das Ideal. Ideale aber haben den unangenehmen Zug, dass
       sie für den, der sie lebt, kaum zu ertragen sind. Zum einen, weil die
       Umgebung nicht so ideal ist, wie sie es dafür sein müsste. Zum anderen,
       weil für ein Ideal viel auf der Strecke bleibt, in diesem Fall
       Eigenschaften wie Schwäche, Unsicherheit, Kindlichkeit, und, ja, auch
       Abhängigkeit, die in Maßen durchaus zum Leben dazugehört. Es sind
       Eigenschaften, die bei Nora Helmers Zeitgenossinnen übertrieben stark
       hochgezüchtet wurden, die aber, verbannt man sie aus seinem Leben, eine
       ebenso einseitiges und deshalb wackliges Selbst zurücklassen.
       
       Noras Milieu ist fraglos nicht die ganze Welt, sondern lediglich eine
       dünne, westliche Wohlstandsschicht. Dennoch, was an ihrer Person verhandelt
       wird, ist nicht nur die Frage nach individueller Unabhängigkeit in einer
       zunehmend individualisierten, unabhängigen Gesellschaft, sondern, darin
       inbegriffen und weiter, die nach dem menschlichen Miteinander in ihrer
       womöglich intimsten Form, der Paarbeziehung, und danach, wie sie gegen
       gesellschaftlich aufoktroyierte Verhaltensnormen bestehen kann und mehr
       sein kann als bloße Hülle.
       
       Es war das ungleiche Machtverhältnis zwischen den Ibsen’schen Ehepartnern,
       Noras stetige Verniedlichung und daraus folgende Entmündigung durch den
       Ehemann, was unüberwindlich zwischen den beiden Protagonisten stand.
       Fraglos war es das, allerdings ist es das nicht allein. Anders gesagt, es
       ist der Ausdruck einer bestimmten Epoche für jene Katastrophe, die
       allgemeiner als das Sterben eines Dialogs bezeichnet werden könnte und als
       Sterbenlassen des Gegenübers im toten Dialog. Es wäre seltsam, wenn die
       Stummheit nur eine Ursache haben sollte, und sonderbar, wenn die Antwort
       von 1879 noch die für 2014 wäre.
       
       ## Eine Tarantella tanzen
       
       Das Gehen, der Widerspruch zum gesellschaftlich Gesetzten, ist heute
       vielleicht gerade der trotzige Rückzug ins Private. Für eine Zeit
       zumindest. Warum aber ereilt all jene Torvalds um mich herum seltener diese
       Sehnsucht nach dem Puppenheim? Müssten sie nicht auch, ermattet von der
       Leistungsgesellschaft, allzu gern in die Kissen der Chaiselounge sinken
       oder ihrer Liebsten eine Tarantella vortanzen wollen? Das aber beobachte
       ich erstaunlich selten.
       
       Einmal ist Nora nicht gegangen, das war 1880 in einem Theater in Hamburg,
       im kühlen, ach so liberalen Norden. Weil die Ehrfurcht vor der Institution
       der Ehe zu groß war, weil man es den strengen Kaufmannsgattinnen und den in
       ihre protestantische Liebesethik eingenähten Ehemännern nicht antun konnte,
       ihnen den Glauben zu nehmen. Daran, dass es einen Sinn hat, durchzuhalten,
       dass die leere Hülle immer noch besser ist als gar keine. Ein Happy End gab
       es damals nicht, aber immerhin: Nora blieb, den Kindern zuliebe. In Hamburg
       1880. Danach war es von Neuem an ihr, zu gehen.
       
       30 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nora Bossong
       
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