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       # taz.de -- Eine Silvester-Erzählung: Das Gute ist das Leben, das man kennt
       
       > Silvester mit alten Freunden in einem Haus auf dem Land: Das kann
       > grauenhaft schief gehen. Vor allem, wenn plötzlich der kranke Ex-Freund
       > auf der Matte steht.
       
   IMG Bild: Viele Leben: Die Katze steht auf, als wäre nicht eben ein Auto über sie gefahren.
       
       Nach Weihnachten fängt es an zu stinken. Nora riecht an ihrer Wolldecke.
       Die Decke riecht ein bisschen nach Wolle und Muff, aber nicht schlimm.
       Schlimm fängt im Flur an, schlimm wird schlimmer, wenn sie die Treppe
       hinuntersteigt und am schlimmsten wird der Geruch im Wohnzimmer, in dem sie
       sich irgendwann alle versammeln.
       
       Sie ist die einzige ohne Partner und das wäre kein so großes Problem, wenn
       sie nicht vor kurzem auch noch einen gehabt hätte. Nun schläft sie in einem
       Bett, das für zwei gedacht war, ein Bett, in dem der Partner fehlt, nicht
       ihr, aber grundsätzlich, in der Aufstellung.
       
       An den Feiertagen, wenn Christian und sie rumhingen und aßen und vor allem
       tranken, hatten sie häufig Sex. Besonders, wenn Andere da waren, um ihn
       herum und um sie herum. Sie gewannen beide in Gegenwart anderer, auch für
       sich selbst. Sie waren attraktiv im Vergleich. Allein, für sich zu zwein,
       waren sie das nicht mehr. Die Attraktivität von ihnen beiden zerbrach an
       der Einsamkeit. Dass sie überhaupt einsam waren, wenn sie zusammen waren,
       lag auch daran, dass sie so gut zusammen passten, sie waren zu zweit wie
       einer.
       
       Es hatte eine Störung gegeben, er hatte zum Arzt gemusst, es gab
       Untersuchungen und es konnte, möglicherweise, sogar schlimm sein. Er hatte
       lieb gelächelt und ihre Hand genommen, als sie gemeinsam vom Arzt nach
       Hause liefen, winzig kleine Schneeflocken wirbelten in der Abenddunkelheit,
       und die Feuchtigkeit in ihren Augen war gar nicht seiner Krankheit gezollt.
       
       ## Er wollte kämpfen, um sie und um seine Gesundheit
       
       Am selben Abend sagte sie ihm, dass es vorbei sei, mit ihrer Liebe zu ihm.
       „Es tut mir leid“, sagte sie, „aber ich kann nichts dafür, es ist einfach
       so gekommen.“
       
       Er trug es mit einer zarten Verzweiflung, aber mit einem tapferen Lächeln
       im Gesicht. Er wolle kämpfen, sagte er, um seine Gesundheit und ihre Liebe.
       „Du bist überfordert“, sagte er auch und sie stellte es nicht richtig.
       
       Er legte sich auf die Couch und sah sich „Friends“ auf DVD an, während die
       Flocken an das Fenster taumelten und in der Küche der Geschirrspüler
       summte. Sie setzte sich in den Sessel und sie sahen die ganze Nacht die
       alten „Friends“, eine Folge nach der anderen, und während sich Ross und
       Rachel liebten und trennten, schien ihr das Lieben und das Trennen nur Teil
       eines großen albernen Zwanges, aber sie konnte nicht von dem Sessel
       aufstehen und ins Bett gehen, sie musste es sich alles ansehen, obwohl sie
       es alles schon mehr als einmal gesehen hatte.
       
       Das Haus gehört Sebastians Mutter, die in Holland bei ihrer Schwester lebt.
       Es ist eine kleine, rote Backsteinvilla mit moosigem Dach, die ein Stück zu
       weit vom Meer entfernt steht und zu ungepflegt ist, um gewinnbringend
       verkauft zu werden, aber die Luft um das Haus ist so feucht und so salzig
       wie das Meer selbst und drumherum gibt es nur Felder und Kühe und einen
       diesigen Waldrand.
       
       Sie dreht sich auf ihrer Wolldecke, Regen klatscht gegen das Fenster.
       Weihnachten war nicht das Schlimmste gewesen, dass sie partnerlos und
       geschenkelos war, das Schlimmste war, wie nett sie alle mit sich waren.
       Jonas und Judith, Herrmann und Linda, Jürgen und Sarah, Sebastian und
       Christina. Jürgen und Sarah hatten sich nichts geschenkt, weil sie nach
       Island fahren wollten, im nächsten Jahr, das war das Geschenk gewesen. Die
       Anderen hatten sich auch kaum was geschenkt, es war eigentlich gar kein
       Problem der Geschenke gewesen, sie wusste eigentlich nicht, was das Problem
       gewesen war. Das Problem war vielleicht, wie der Baum ausgesehen hatte, so
       vollgehängt mit Kugeln, und dass sie überhaupt einen Baum hatten, wie eine
       Familie und dass sie Weihnachtslieder sangen, Jimmy hatte „Jingle Bells“
       gesungen und dazu auf seiner Gitarre gespielt. Sie hatte auf dem Teppich
       gesessen und etwas kaltes Fleisch aus dem Kühlschrank gegessen, während die
       Anderen ihr Papier falteten und sich küssten.
       
       Wenn sie doch jetzt „Friends“ sehen könnte, hatte sie gedacht. Keiner von
       ihnen war so witzig wie Phoebe oder Ross oder so süß wie Rachel. Das war
       ihr aufgefallen und auch, dass sie gemein war. Sie hatte überhaupt keine
       Gefühle mehr in sich drin, für irgendjemanden aus der Runde, sie sah sie
       alle ganz kalt und ganz neu, wie fremde Menschen. Sie hätte lieber
       „Friends“ geguckt.
       
       Da fing es mit dem Geruch an. Der Geruch war erst nur schwach, und sie
       hatte sich gefragt, ob er von einem einzelnen von ihnen ausging, von
       Hermann vielleicht, hatte sie gedacht. Ob er unreinlich war, inkontinent,
       kränklich? Aber mit der Zeit fiel es ihr auf, dass der Geruch sich in den
       Nuancen unterschied und dass er von jedem einzelnen von ihnen anders
       ausging.
       
       ## Der Geruch jedes einzelnen vervielfacht sich
       
       Da ist der nussartige, talgige Geruch der Kopfhaut von Jonas, der
       säuerliche, leicht ranzige Geruch von den Achseln von Judith, der beißende
       Geruch der Urintröpfchen, die in der Luft bleiben, wenn Jimmy die Toilette
       verlässt, der Geruch von faulenden Essensresten in den Räumen zwischen den
       Zähnen von Sarah, dazu der Geruch von Verdautem, Darmgase, alter Rauch in
       der Kleidung von Jürgen und Haut und Atem und kreisende Flüssigkeiten wie
       Blut und Speichel. Sie nimmt es alles einzeln war und dann verdoppelt es
       sich und vervielfacht es sich ins Unerträgliche. Sie begegnet dem mit
       Trinken.
       
       „Wie geht es Christian?“, fragt Judith, während sie am Tisch grüne Bohnen
       schneidet.
       
       Nora hockt am Kamin, auf ihren Knien, starrt in die Flammen, das Glas
       Rotwein in der Hand und müht sich, nicht ins Feuer zu kippen, obwohl sie
       sich angezogen fühlt. Der Rotwein hängt wie alter Belag auf ihrer Zunge und
       den Zähnen und lähmt sie.
       
       „Wie du weißt …“, hier legt sie eine längere Pause ein, um einen Schluck
       Wein zu trinken, einen neuen einzugießen, und auch, ein wenig, um die
       Spannung zu steigern, „ist er krank.“
       
       Dann zündet sie sich eine Mentholzigarette an, obwohl sie gar nicht raucht
       und das gar nicht erlaubt ist im Haus. Wer raucht, Jürgen zum Beispiel, in
       seiner alten, blauen Daunenjacke, aus der die kleinen Daunen einzeln
       rauspieksen und davonschweben, als würde er sich ganz langsam verlieren und
       im alten, feuchten Haus verteilen, der tut das Rauchen trampelnd, mit
       hochgezogenen Schultern, draußen neben der vereisten Vogeltränke. Er kneift
       dabei die Augen zusammen, und manchmal redet er mit sich selbst. Manchmal
       fällt ihm die Asche von der Zigarette, weil er vergisst zu ziehen. Manchmal
       steht er da, als wollte er steif frieren, reglos und in seinen kleinen,
       zarten alten Federchen.
       
       Sie zieht tief durch und der Schmerz treibt ihr die Tränen in die Augen, so
       brennt es in ihrer Lunge.
       
       Judith sagt nichts, schneidet die Bohnen und sieht nur kurz rüber, ganz
       nett sogar. Judith riecht nach ihren Achseln. Und nach Bohnen. Und nach
       Küche.
       
       ## Stimmt mit ihr etwas nicht?
       
       Nora drückt die Zigarette auf dem Unterteller mit den Mandarinenschalen
       aus. Sie kann gar nicht rauchen. Sie kann nicht trinken. Sie ist kein
       Rebell, in gar nichts ist sie rebellisch, sie hat nur aus Furcht ihre
       Beziehung beendet. Ihr kommt der Gedanke, dass mit ihr etwas nicht stimmt.
       Vielleicht stinken die Menschen irgendwie, aber normal ist es, den Geruch
       seiner Freunde in die Welt des Vertrauten aufzunehmen, einzuordnen und zu
       erkennen als das Gute. Das Gute stinkt nicht. Das Gute ist das Leben, das
       man kennt.
       
       Judith lächelt wieder auf ihre vorsichtige Art. Judith hat so Augen von
       denen man sagt, dass sie Pünktchen in sich drin haben. Judith hat auch eine
       Stupsnase und Sommersprossen.
       
       „Mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles.“
       
       Sie fragt sich, was sie damit meint.
       
       „Was wird?“, fragt sie und analysiert Judiths Geruch, Judith riecht wie
       dürre, ausgetrocknete Frauen riechen, wenn sie zu wenig trinken und essen,
       wenn die Haut sich faltet und ihr Körper sich von innen nach außen reckt
       und um ein Tröpfchen Ölung giert. Judith ist so schlank wie ein Reh im
       eisigen Winter. Und hat Augen mit Pünktchen. Geschmack und Witz.
       
       „Das Leben ist halt kompliziert“, sagt Judith und zwinkerte mit ihren
       Pünktchen und zwinkert noch mal.
       
       „Neinneinneinnein“, sagte Nora. Sie spürte, wie der Text, diese ’Ns‘ und
       ’Ns‘ sie hin und her wiegen, „Das Leben ist … ganz einfach.“
       
       Und obwohl sie ein bisschen betrunken ist, und gar nicht mal so wenig,
       kommt es ihr wirklich so vor, als wenn sie was ganz Wichtiges erkannt
       hätte, eine große Wahrheit, eine Weisheit. Als hätte sie nur eine Tür
       geöffnet, hinter der das Einfache sich endlich offenbart, als Gemeinheit.
       Eine große Klarheit nähert sich ihren Gedanken, Gegenstände und Gerüche und
       Möbel und Melodien drum herum aufgereiht. Es ist alles einfach, wenn man
       die Nettheit von Judith weglässt.
       
       „Christan ist krank, ja?“, sagt Nora in ausgewählter Langsamkeit. Dazu hat
       sich indessen Herrmann gesellt.
       
       „Ja?“, antwortet Herrmann für Judith. Herrmann hat immer etwas
       Schmuddeliges an sich, obwohl er sehr gepflegt ist. Gepflegt, immer neue
       Sachen, feines Wollhaar, Schuhe, so schön wie ein vergangenes Jahrhundert.
       
       „Er ist vielleicht krank, ja?“, wiederholt sie.
       
       Vier Augen blickten sie an. Zwei Pünktchenaugen, zwei braune Brillenaugen.
       
       „Ich wollte ihn nicht pflegen.“
       
       Sie nicken. Sie lassen sich nicht provozieren. Sie sehen sich an, sie
       tauschen irgendwas aus, aber sie sagen gar nichts. Sie nicken nur.
       
       „Ich hätte es gekonnt, aber ich wollte es nicht.“
       
       „Das kann man ja verstehen“, sagt Herrmann. Er nimmt die Bohnen nicht in
       die Hand. Er kocht nicht. Er kann nichts, was Geschicktheit verlangt. Er
       legt seine breiten, weichen Hände nur auf den Tisch und müht sich um Ruhe
       und Gerechtigkeit.
       
       „Findest du?“, fragt sie. „Ich finde ...“ Sie weiß gar nicht, was sie
       findet. Sie steht der Krankheit von Christian ganz neutral gegenüber. Mit
       ihr hat das gar nichts zu tun.
       
       „Wir bemühen uns wirklich, dich zu verstehen. Wir wissen nicht, was
       zwischen euch passiert ist, aber niemand verurteilt dich. Wirklich. Du
       musst deinen eigenen Weg gehen.“
       
       Sie nickt. Ihren eigenen Weg gehen.
       
       Am Abend vor Silvester ist ihr schlecht von den Gerüchen und sie bricht in
       die gelbliche Toilettenschüssel. Christian ruft an, er will mit ihr reden,
       er klingt nett und vernünftig.
       
       „Silvester geh ich mit Ingbert essen. Er sagt, es war notwendig, dass du
       dich von mir getrennt hast, wir waren in einer Sackgasse und es war eine
       Art von Distanzierung, die notwendig war, für dich, für uns. Damit du dich
       abspalten und wieder du selbst sein konntest. Die Krankheit, also meine
       Krankheit, hätte dich sonst ganz in unser ’Wir‘ gezogen. Aber ich denke,
       wenn wir das erkennen, dann haben wir eine Chance. Wir können doch einen
       Schnitt machen, einen sauberen Schnitt und dann haben wir doch eine ganz
       neue Chance?“
       
       „Sicher“, sagt sie, aber ihre Stimme sagt fast gar nichts. Sie fragt sich,
       wie neu und groß die Chancen sind, für ein ’Wir‘, wenn einer von dem ’Wir‘
       vielleicht ganz schlimm krank ist und der Andere nur sich selbst noch
       riechen kann.
       
       Am Silvestermorgen ist es ihr klar, dass alle ihre Freunde stinken.
       
       Sie geht hinaus in die Kälte, es ist trocken und eisig und es liegt auch
       kein einziges Fitzelchen Schnee. Die Farben sind klar. Die Himmel ist blau,
       winzige Federn aus Jürgens alter Jacke haben sich zum Horizont hin weißlich
       verdichtet. Die Felder sind schwarz und der Boden und die alten Stoppeln in
       ihrer Form erstarrt. Die Bäume stehen kahl in der Landschaft herum. Jedes
       Blatt ist hartgefroren, jeder einzelnen roten Beere haftet ein farbliches
       Drama an und über allem liegt eine Schicht von kaltem Glitzer. Sie geht
       ganz allein, sie hat zu Judith gesagt, „Nein, ich möchte lieber allein.“
       Judith wäre mitgekommen, obwohl sie sich immer krümmt in der Kälte und ganz
       entsetzlich friert mit ihrer Magerkeit und in ihrer dünnen Haut.
       
       ## Betrogen ums Weihnachtsfest
       
       Ihr Atem dampft vor ihr her, es bimmelt aus der Erinnerung, ein
       weihnachtliches Gebimmel, obwohl es schon Silvester ist, aber das
       Weihnachtsfest fehlt ihr plötzlich, als wäre sie drum betrogen worden. Die
       Kindheit fehlt ihr plötzlich, die Wünsche, die Freude, die Fähigkeit, sich
       etwas zu erhoffen. Das Leben ist ganz einfach, kommt es ihr wieder in den
       Sinn, vor sich ihre blauen Turnschuhe, die sich auf den Weg setzen, Schritt
       für Schritt, kleine Pfützen zerscherbeln und Grashalme zerbrechen. Der
       Geruch der Draußenwelt ist angenehm, ist sauber und kalt wie der Tod.
       
       Als sie zurückkommt, ist er da. Er sitzt in der Küche, trinkt warme Milch,
       und ist einfach da, ganz normal. Linda sitzt bei ihm, hält ihren Kopf
       schräg geneigt und hört ihm zu, wie er von der Krankheit erzählt. Nora
       bleibt in der Tür stehen, er bemerkt sie, er hat ein kleines, schlechtes
       Gewissen, sieht sie.
       
       „Wo willst du denn jetzt schlafen?“, fragt sie, als wäre das das größte
       Problem, während die Hitze und die Küchengerüche sie angreifen.
       
       Er zuckt mit den Schultern. Er kramt nur mit letzter Mühe ein Fünkchen
       Humor noch heraus. Aus den Tiefen seiner Gewohnheit, ein bisschen Flitter
       und kein Gold.
       
       „Wer will denn hier schlafen?“, sagt er und bemüht sich um ein Lächeln.
       Seine Lippen sehen ganz spröde aus und ein Mundwinkel ist eingerissen.
       
       „Was machst du denn hier?“, fragt sie weiter und ohne auf ihn einzugehen.
       Unfähig, nett zu sein. Der Geruch von Mensch strömt in ihre eisig kalten
       Nasenlöcher.
       
       „Nora!“, ermahnt Linda sie, sie hat ein bisschen echten Hass in den hübsch
       geschminkten Augen.
       
       „Du wolltest doch nicht kommen!“, Nora kann nicht aufhören, sie weint fast
       vor Wut.
       
       Er schüttelt den Kopf. Linda legt ihren Arm um ihn, auf seinem Stuhl, wo er
       sitzt, gekrümmt, mit Blick auf seine Schuhe. Seine Schuhe sind schon
       aufgebunden, als wollte er sie ausziehen und hat es dann doch nicht getan,
       weil er sich nicht sicher war.
       
       „Nora, hör doch auf!“, fleht Linda.
       
       „Du wolltest doch mit Ingbert essen gehen. Du hast gesagt, meine
       Distanzierung war notwendig.“
       
       „Ich hätte nicht kommen sollen.“ Er senkt den Kopf noch tiefer. Er ist
       eigentlich ganz erledigt und gar nicht so klug und auch gar nicht so
       ausgeglichen, wie er sie das am Telefon hat glauben lassen.
       
       ## Der Wohlgeruch von Hund
       
       Sie geht am Wohnzimmer vorbei, die Treppe hoch in ihr Zimmer und legt sich
       auf die Decke. Sie steckt die Nase in die alte Wolle und schnüffelte am
       alten Wollstaub. Ein Hund würde gut riechen, denkt sie. Ein Schaf auch.
       Hühner. Schweine, Schweine riechen nach Schwein. Pferde. Sie weiß ganz
       genau, wie Pferde riechen, wie sie am Hals riechen, wie ein Hund aus dem
       Maul riecht, wie Katzenpipi riecht, all das kennt sie und es würde gut sein
       und nicht eklig, selbst wenn es stank.
       
       „Hallelujah, hallelujah!“, schreit unten jemand. Dann klopft es an ihre
       Tür. Herrmann.
       
       Sie bleibt liegen, dreht nur kurz den Kopf zurück, ihm ihren Hintern
       zuwendend, aufgestützt auf ihren Arm, aus dem kleinen Fenster sehend, auf
       das Feld und die schwarzen Bäume hinten am Horizont, der rot wird und
       glüht, als stände es alles in Flammen.
       
       „Ich möchte wirklich wissen, was mit dir los ist“, sagt Herrmann.
       
       „Ich auch. Ich möchte das auch wissen“, sagt sie.
       
       „Das ist ja immerhin was“, sagt Herrmann und schweigt eine Weile. In der
       Stille hört sie sein Schnaufen, das ihn immer begleitet. Er hat sich eine
       Krawatte angezogen. Er ist der Clown, der Freak, der am wenigsten
       Attraktive in der Gesellschaft auserwählter Freunde rund herum um einen
       Sohn mit Depression. Er hat kaum Humor. Er ist nicht mal besonders
       intelligent.
       
       „Christian, es geht ihm nicht gut. Und wir sind … sind seine Freunde.“
       
       „Sind – sind“, äfft sie ihn nach. „Dann gehe ich eben.“
       
       „Das musst du nicht.“
       
       „Ich hätte gar nicht kommen sollen.“
       
       Und als er nichts sagt, fügt sie hinzu, „Es riecht.“
       
       „Hier, im Zimmer?“
       
       „Ja, aber noch mehr auf der Treppe. Und am allermeisten …“ Sie schweigt,
       sie findet es unerhört, was sie sagt.
       
       „Am allermeisten?“, fragt er.
       
       „Unten bei euch. Ihr stinkt alle. Mir ist schon ganz schlecht von eurem
       Gestank.“
       
       „Ich denke, dann solltest du wirklich besser …“, sagte er und schließt
       leise die Tür, bevor sie den Schluss hören kann.
       
       „Ja, das sollte ich“, sagt sie und erhebt sich. Sie sollte wirklich
       unbedingt gehen. Sie ist diejenige, die nicht zurechtkommt. Sie werden
       Christian in ihre Arme nehmen und ihn wiegen, bis er schläft. Sie sind alle
       ganz gute Menschen, verhältnismäßig, und gar nicht so besonders egoistisch.
       Sie sind klug, sie sorgen sich und sie zeigen Verständnis, alles was man
       erwarten kann und sogar noch ein bisschen mehr.
       
       Sie packt ihre Sachen zusammen und schleicht sich raus. Draußen steht ihr
       Auto neben all den anderen Autos, große und kleine, wie die Verhältnisse so
       sind, sie öffnet den Kofferraum, draußen steht auch Jürgen in seinen alten
       Daunen und ascht in die Vogeltränke. Er hebt die Hand. „Fährst du?“, ruft
       er.
       
       Sie nickt.
       
       „Warum?“
       
       „Ich muss weg.“
       
       ## Das Problem mit dem besten Zeitpunkt
       
       Silvesterabend, denkt sie, nicht der beste Zeitpunkt, um abzuhauen. Wenn
       jemand krank ist, dann ist das nicht der beste Zeitpunkt, um ihn zu
       verlassen. Die besten Zeitpunkte erwischt man nur selten, deshalb wird es
       alles immer so schief, so gar nicht besonders, wie in „Friends“, wo zum
       besten Zeitpunkt immer das passiert, was dann alle zum Weinen bringt oder
       zum Lachen, aber so kann man leider nicht leben. Sie fährt den Feldweg
       runter, ruckelt über die hartgefrorenen Treckerspuren, dem Mond entgegen,
       denn draußen steht schon der weiße Mond über dem Feld, über dem Dorf und
       über der Landstraße.
       
       Dann ist da was, zwei Leuchtpunkte, und als sie bremst, sind die Punkte
       schon unter ihr verschwunden, von ihrem Auto verschluckt, sie stemmt sich
       mit aller Kraft weiter auf die Bremse, obwohl sie weiß, dass sie
       vernünftiger bremsen sollte, dass es sowieso schon zu spät ist, weil sie
       schon drüber ist, sie schliddert und rutscht, sie hört das Quietschen, sie
       kann gar nichts machen, nur sich innerlich klammern und beben und hoffen,
       und dann steht sie still an einem Baum, den Gurt hart an den Rippen, sie
       ist an einen Baum gefahren, nicht schlimm, nur ein bisschen, sie steigt aus
       und sie sucht mit den Augen die Straße ab.
       
       Auf der Straße liegt ein dunkler Klumpen Tier. Sie zittert ein bisschen,
       sie nähert sich dem Klumpen, ein Wiesel, eine Katze oder ein kleiner Hund,
       langgestreckt, auf den Boden gekauert. Sie nähert sich, sie nähert sich
       recht unentschlossen, die Muskeln tun ihr weh vom Zittern, die Luft riecht
       nach verbrannten Reifen, irgendwo weit weg knallt es, Lichter steigen auf,
       über den Bäumen und dem Feld, in rot grün blau, sie geht ganz dicht heran,
       da bewegt sich was, da bewegt sich der Schwanz, die Katze steht auf.
       
       Die Katze steht auf.
       
       Die Katze steht auf, als wäre nicht eben ein Auto über sie gefahren. Sie
       steht auf und der Mond scheint auf die Katze und neue Lichter explodieren
       am Himmel, in grün und silber und die Katze macht, „mau“. Dann geht sie
       weg. Langsam, majestätisch, ein unverwundbares, zauberhaftes Katzenvieh,
       das jede Menge Leben hat. Nora geht zurück, ihr Auto steht am Baum, es ist
       verbeult, aber es brummt leise, von drinnen strömt ihr die Wärme entgegen,
       sie setzt sich auf ihren Sitz, fasst das Lenkrad, betrachtet den Baumstamm
       vor ihrer Frontklappe und das Leben kehrt langsam und freundlich in sie
       zurück. Vorsichtig legt sie den Rückwärtsgang ein und vorsichtig drückt
       sich ihr Wagen aus dem Baum heraus.
       
       31 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Seddig
       
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       Nacht zurück in die Erinnerung – falls die Buchstaben nicht mehr
       verschwimmen.
       
   DIR Silvester-Bilanz in Berlin: Krach, Bum, Bäng
       
       Berlin feiert das neue Jahr – und alle sind glücklich. Da kann 2014
       eigentlich nur gut werden, oder?
       
   DIR Silvester-Sause in Berlin: Die Eine-Million-Menschen-Frage
       
       Wahrscheinlich feiern ganz offiziell wieder eine Million Menschen am
       Brandenburger Tor. Diese Zahl ist falsch: Für so viele reicht der Platz gar
       nicht.
       
   DIR Gepflegt Feiern in Berlin: „Zu Silvester passt Champagner“
       
       Stefan Weber und Beate Hindermann, Betreiber und Bartenderin der Victoria
       Bar, über Berliner Bars und die Poesie der Trunkenheit.