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       # taz.de -- Debatte Demokratie: Die Sieger der Geschichte
       
       > Euroschwäche, Bankenkrise, NSA-Affäre: Viele Bürger sehen ihre
       > demokratischen Rechte schwinden. Doch das Gegenteil ist der Fall.
       
   IMG Bild: Noch hat das Europaparlament nur eingeschränkte Rechte.
       
       Ausgerechnet die Demokratie! Ist das nicht einer der unwahrscheinlichsten
       Kandidaten für einen strahlenden Auftritt im nächsten Jahr? Hängt dieser
       Himmel nicht längst voller dunkler Wolken, die sich in Zukunft eher noch
       bedrohlicher zusammenballen werden?
       
       Allenfalls können wir froh sein, halbwegs mit heiler Haut davonzukommen.
       Gerade haben mehr als 500 Schriftsteller und Intellektuelle flammend dazu
       aufgerufen, die Demokratie zu verteidigen in einem digitalen Zeitalter, das
       liberale Privatsphäre und Unverletzlichkeit des Individuums mit seinen
       technischen Möglichkeiten und manchmal auch mit der vollen Absicht
       demokratisch legitimierter Staatsorgane auszuhebeln droht.
       
       Die europäische Währungs- und Staatsschuldenkrise: Ist sie überstanden, gar
       erfolgreich bewältigt oder nur verdrängt, und welchen vermeintlichen
       Sachzwängen der Märkte werden Parlamente beim nächsten Mal wieder
       ausgesetzt sein? Denn am Regelwerk hat sich wenig geändert, und erst recht
       hat bisher die Hoffnung getrogen, die Krise werde einen demokratischen Ruck
       durch die europäische Verfassungsdebatte gehen lassen. Nun aber endlich ein
       Europäisches Parlament mit vollem Budgetrecht, mit der Souveränität,
       Steuern zu erheben, und mit einer Regierung, die diesem Parlament wirklich
       verantwortlich ist.
       
       Ach ja, der Arabische Frühling: Kommt da noch was, oder können wir froh
       sein, wenn das Elend der syrischen Flüchtlinge nicht noch schlimmer wird
       und die Herrschaft des Militärs in Ägypten nicht allzu autoritäre Züge
       annimmt? Schließlich ist die Stimmung, im Jahrhundertjubiläum des Ersten
       Weltkriegs, ohnehin schon melancholisch geprägt. Könnten die fragilen Reste
       von Freiheit, von halbwegs erträglicher Existenz im kommenden Jahr nicht
       erneut vollständig kollabieren?
       
       ## Verfallsdiagnosen und Untergangsängste überall
       
       Die Melancholie allerdings reicht tiefer als die Erinnerung an 1914. In den
       letzten Jahren, zumal seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, ist
       der demokratischen Entwicklung in den westlichen Ländern ebenso wie unter
       globaler Perspektive häufig kein gutes Zeugnis ausgestellt worden. In
       großen Teilen des intellektuellen Lagers und in großen Teilen der Linken
       sind Verfallsdiagnosen und Untergangsängste weit verbreitet, ja beinahe
       schon selbstverständlich geworden.
       
       Nicht erst seit fünf oder zehn Jahren, sondern seit Jahrzehnten, im Grunde
       seit den 1970er Jahren, wird demnach das demokratische Versprechen auf
       Freiheit und Partizipation öfter gebrochen als eingelöst. Der Ausbau
       demokratischer Rechte, im Verein mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates, ist
       so an sein Ende gekommen. Die einstigen Bannerträger der euphorischen
       Expansion, die mit Willy Brandt und den neuen sozialen Bewegungen dazu
       aufgerufen haben, „mehr Demokratie zu wagen“ – sie haben sich in ihren
       Verteidigungsstellungen eingegraben.
       
       Denn höchstens noch darum scheint es gehen zu können: die Demokratie zu
       verteidigen, den Besitzstand allenfalls zu wahren. Schwer genug. Denn die
       jahrzehntelange Aushöhlung von Rechten und das Unterlaufen von
       Institutionen durch kapitalistische Märkte, halb legitimierte Bürokratien
       und digitale Technologien hat wenig mehr als eine Fassade stehen lassen.
       
       ## An der Nase herumgeführt
       
       Wir sind, mit dem in Deutschland so besonders populär gewordenen Begriff
       des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch, in
       „postdemokratischen“ Verhältnissen angekommen. Fassadendemokratie,
       Placebodemokratie; eigentlich werden wir nur noch, was unsere Freiheit und
       unsere Rechte betrifft, an der Nase herumgeführt.
       
       Also besteigen wir die Zeitmaschine und landen vor 40 Jahren, am Ende des
       Jahres 1973, das dem Westen mit der ersten Ölkrise auch den Abbruch der
       scheinbar immerwährenden Zuversicht, des überbordenden Optimismus der
       Nachkriegszeit bescherte. Aber kulturelle Stimmungen sind nicht mit der
       Realität zu verwechseln. Wie sah denn die vermeintlich so robuste
       Demokratie damals aus, kurz bevor ihre postdemokratische Aushöhlung
       einsetzte?
       
       Um mit dem vielleicht Wichtigsten gleich zu beginnen: Frauen kamen in
       dieser Demokratie, praktisch gesehen, kaum vor. Klar, das Wahlrecht gab es
       seit 1918, aber das war’s dann auch. Eine Alibifrau in jedem Kabinett,
       meist zuständig für Familie und Gedöns. Die Sensation jener Zeit: eine
       Frau, Annemarie Renger, als Bundestagspräsidentin für die SPD. Demokratie
       an der Basis? Abgesehen davon, dass eine Vorstellung davon kaum existierte,
       trifft der Zeitreisende auf Männerrunden in Hinterzimmern gleich welcher
       politischen Couleur. Jenseits der Geschlechterfrage ein ähnliches Bild.
       Bürgerinitiativen? Man muss erst einmal lernen, was das ist.
       
       ## Störfall der Demokratie
       
       Demonstrationen: nicht Normalfall und Bestandteil, sondern Störfall der
       Demokratie, die doch bitte in Parlamenten und Regierungen stattzufinden
       hat. Die Bürger(innen) dürfen ja schließlich wählen! Konsumentenrechte,
       Datenschutz? Vielleicht in Embryonalform, gerade noch mit der Lupe
       erkennbar. Und wie war das mit der nationalsozialistischen Vergangenheit?
       Wie weit die personellen und mentalen Kontinuitäten in der Bundesrepublik
       reichten, wissen wir erst seit Kurzem (und lernen immer noch dazu). Dass
       ein demokratischer Staat seine Identität, wie das seit den 90er Jahren
       geschehen ist, auf die entschiedene Zurückweisung von Rassismus und
       Völkermord in seiner eigenen Geschichte gründen würde, war damals noch weit
       entfernt. Der Kniefall Willy Brandts in Warschau im Dezember 1970
       irritierte viele und war nur der Beginn einer ganz langsamen
       Bewusstseinsveränderung.
       
       Man könnte das Bild noch weiter ausmalen, und man würde nichts verzerren,
       wenn man zu dem Ergebnis käme: Vor 40 Jahren, da, wo die „Postdemokraten“
       von heute den Gipfelpunkt der Demokratie sehen, war die Demokratie nicht
       nur in Deutschland erst ziemlich am Anfang, war sie ziemlich
       eindimensional, autoritär, hierarchisch, männlich. Aber es geht nicht um
       ein billiges Aufrechnen einer Erfolgsgeschichte seitdem gegen neue Risiken
       und Gefährdungen, womöglich auch Verluste, die ebenso unbestreitbar sind.
       
       ## Eine Erfolgsstory
       
       Verblüffend ist vielmehr die Unfähigkeit der Linken, ihre eigenen Gewinne
       wahrzunehmen und in ein Narrativ von Geschichte und Zukunft der Demokratie
       einzubinden. Denn zweifellos handelt es sich um eine linke und liberale
       Erfolgsstory.
       
       Sie sind die Sieger der Geschichte, mit den neuen Formen demokratischen
       Handelns, die damals das Licht der Welt erblickten: alternative Bewegungen,
       Bürgerinitiativen und NGOs, basisdemokratische Formen der Partizipation,
       die zugleich den bisherigen Rahmen der bloß nationalstaatlichen Demokratie
       nicht mehr akzeptieren wollten. Nun wollen sie von ihrer eigenen Rolle und
       den Veränderungen, die sie, mutig und nicht selten über die Stränge
       schlagend, herbeigeführt haben, nichts mehr wissen?
       
       Von der eigenen Handlungsmacht, von der eigenen Rolle in der Veränderung
       von Politik und Gesellschaft nichts wissen wollen, darin liegt seit einiger
       Zeit überhaupt ein mentales Grundproblem der linken Bewegungen – oder man
       sollte besser sagen: mancher linken Theoriegespinste und apokalyptischen
       Weltdeutungen. Denn während die einen munter die dicken Bretter der
       Realitäten bohren, sich organisieren, Spielräume austesten, die Einlösung
       universaler Rechte Stück um Stück vorantreiben (bei der Homo-Ehe), lokale
       Politik breiter legitimieren (mit Volksentscheiden zur Energieversorgung),
       jammern die anderen über die totale Hilflosigkeit: Die feindlichen Systeme
       haben die totale Macht übernommen, ja tatsächlich uns einen neuen
       Totalitarismus beschert, eine „Blockwartgesellschaft“ der Unfreiheit und
       der Nicht-mehr-Demokratie, wie sogar der kluge Geist Enzensberger diesen
       Sommer schwadronierte, offenbar in Unkenntnis der Verfolgungs- und
       Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten. Oder der amerikanische
       Schriftsteller T. C. Boyle in dem eingangs erwähnten Manifest vor drei
       Wochen: „Während wir schliefen, haben die Maschinen die Macht übernommen.“
       
       ## Demokratischer Fortschritt erkämpft
       
       Aber Millionen Menschen haben keineswegs geschlafen, sondern haben sich
       engagiert und immer wieder demokratische Fortschritte erkämpft, ohne die
       wir noch in der Welt von 1970 stünden.
       
       Raus aus dem falschen Film! Vertraut auf eure Handlungsmacht! Dann kann die
       Demokratie im Jahr 2014 einen großen Auftritt haben. Vielleicht in der
       Ukraine oder in Russland oder im Iran. Oder bei den Frauenrechten in
       Saudi-Arabien. Oder im Kampf gegen den Moloch NSA in Amerika.
       
       Und nicht zuletzt auf dem heimischen Spielfeld: im Jahr der Europawahlen
       als mächtiger Druck auf die Demokratisierung der Europäischen Union oder
       als Ausbau parlamentarischer Minderheitenrechte gegen großkoalitionäre
       Selbstzufriedenheit oder an hunderttausend anderen Plätzen, die aus der ach
       so hohen Warte pseudolinker kulturkritischer Verfallstheorien gar nicht in
       den Blick gelangen.
       
       Warum sollte das alles ausgerechnet 2014 passieren? So gut wie in jedem
       anderen Jahr.
       
       27 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Nolte
       
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