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       # taz.de -- Korruptionsskandal in der Türkei: Eine veritable Staatskrise
       
       > Der türkische Ministerpräsident Erdogan muss erstmals um seine Macht
       > bangen. Er wird die Geister nicht mehr los, die er rief.
       
   IMG Bild: Machtkampf: Premier Erdogan steht mächtig unter Druck
       
       ISTANBUL taz | Fällt er oder fällt er nicht? In den Istanbuler Cafés gab es
       am Donnerstag nur ein Gesprächsthema: Kann sich Ministerpräsident Recep
       Tayyip Erdogan an der Macht halten oder nicht? Die Leute sind wahlweise
       irritiert oder erschüttert. Was vor einer guten Woche noch undenkbar
       schien, ist in den Bereich des Möglichen gerückt: Der mächtigste
       Ministerpräsident, den die Türkei seit den 50er Jahren je hatte, ist nicht
       mehr unantastbar.
       
       Aschfahl trat Erdogan in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag vor die
       Kameras, um zu verkünden, was er nie verkünden wollte: eine
       Kabinettsumbildung, die ihm von außen aufgezwungen wurde. Zehn Minister
       mussten gehen; drei von ihnen, die tief in den Korruptionsskandal
       verstrickt sind, der die Regierung und die regierende AK-Partei seit zehn
       Tagen bis in ihre Grundfesten erschüttert, hatten ihre Ämter schon vorher
       zur Verfügung gestellt.
       
       Dabei hatte es die erste, schier unglaubliche Überraschung gegeben. Während
       Wirtschaftsminister Zafer Caglayan und Innenminister Muamar Güler sich an
       den von Erdogan vorgegebenen Text hielten und ihre Rücktritte damit
       begründeten, dass dann die „Schmutzkampagne“ gegen die Regierung leichter
       abgewehrt werden könne, weigerte sich der bisherige Umwelt- und
       Planungsminister Erdogan Bayraktar, bei dem Spiel mitzumachen.
       
       Im Nachrichtensender NTV sagte er zu seinem Rücktritt: „Ich weigere mich,
       mir den Schuh der Korruption anzuziehen.“ Es sei zwar das natürliche Recht
       des Ministerpräsidenten zu entscheiden, mit welchen Ministern er arbeiten
       wolle, „aber alle jetzt fraglichen Bauprojekte habe ich auf Anweisung des
       Ministerpräsidenten genehmigt. Der Ministerpräsident sollte deshalb auch
       zurücktreten.“
       
       ## Erdogan soll selbst in die Affäre verstrickt sein
       
       Das war der erste offene Angriff auf Erdogan aus den eigenen Reihen und der
       erste deutliche Hinweis, dass Erdogan selbst in die Korruptionsaffäre
       verstrickt ist. Im Laufe des Tages verdichtete sich dann das Gerücht, dass
       die Istanbuler Staatsanwaltschaft nach der ersten Verhaftungswelle vom 17.
       Dezember erneut etliche Prominente hatte festnehmen wollen, die Polizei
       sich letztlich aber weigerte, den Anweisungen der Staatsanwaltschaft Folge
       zu leisten.
       
       In den sozialen Medien wusste man auch warum: Einer auf der Festnahmeliste
       sei Bilal Erdogan gewesen, Sohn des Ministerpräsidenten. Vor Vertretern
       seiner Partei bestätigte Erdogan am Donnerstag dieses Gerücht indirekt. Er
       sagte: „Sie wollten meinen Sohn, aber sie zielen auf mich.“
       
       Wer aber sind „sie“, von denen Erdogan redet, die „Verräter“, die diese
       „Schmutzkampagne, diesen Vernichtungsfeldzug“ gegen ihn führen?
       
       Für Erdogan und politische Beobachter ist klar, wer „sie“ sind. „Sie“ sind
       die Geister, die Erdogan einst selbst rief und nun nicht mehr los wird.
       „Sie“ sind die „Cemaat“, was auf Deutsch Gemeinde heißt – die Gemeinde des
       Predigers Fetullah Gülen, der einflussreichsten islamischen Sekte der
       Türkei, die lange eng mit Erdogans AKP zusammenarbeitete, und deren
       Vertreter in Justiz und Polizei vor wenigen Jahren mit ihren Ermittlungen
       gegen vermeintliche Putschisten das türkische Militär zu Fall brachten.
       
       ## Wenig rechtsstaatliche Abrechnung
       
       Dieselben Staatsanwälte und Polizisten, die mit überaus fraglichen
       Beweisen, die zumindest in Teilen fabriziert waren, den „Ergenekon-Prozess“
       gegen fast 300 Offiziere und Kemalisten aus der Bürokratie führten, führen
       jetzt die Ermittlungen gegen die AKP und Erdogan. Sie alle eint ein
       Merkmal: Sie sind Mitglieder oder Sympathisanten der Gülen-Bewegung.
       
       So wenig rechtsstaatlich die Abrechnung mit den Militärs und Kemalisten vor
       sich ging, so wenig rechtsstaatlich ist nun der Machtkampf zwischen der
       Gülen-Bewegung und der AKP. Die Korruptionsvorwürfe, die in einschlägigen
       Kreisen seit Langem bekannt waren, werden zielgerichtet vor den Wahlen im
       Jahr 2014 eingesetzt, um Erdogan maximal zu schaden.
       
       Dieser reagiert, indem er Polizeichefs feuert, Staatsanwälte versetzt oder
       ihnen neue Vorgesetzte präsentiert, um zu verhindern, dass neue Vorwürfe
       erhoben und bereits bestehende effektiv verfolgt werden. Dass die Polizei
       sich offen weigerte, Anordnungen der Staatsanwaltschaft nachzukommen, macht
       das Ganze jetzt zu einer veritablen Staatskrise.
       
       Dabei scheinen die Vorwürfe selbst durchaus Substanz zu haben. Es geht um
       Korruption im Immobiliensektor, wo Milliarden Dollar verschoben werden, und
       das Unterlaufen der Iran-Sanktionen, wo iranische und türkische
       Geschäftsleute mit politischer Deckung Öl gegen Gold verschoben haben
       sollen.
       
       Die heiß diskutierte Frage in den Cafés ist deshalb: Warum packt die
       Gülen-Gemeinde die Vorwürfe jetzt auf den Tisch, wieso gehen die einst
       besten Freunde, die islamische AK-Partei und die islamische Gülen-Gemeinde
       wie Todfeinde aufeinander los? Einer der bekanntesten investigativen
       Journalisten des Landes, Ahmet Sik, selbst Opfer der Gülen-Justiz, die ihn
       ein Jahr in Untersuchungshaft steckte, weil er ein Buch über die
       Unterwanderung der Polizei durch die „Cemaat“ geschrieben hatte, sagt dazu:
       „Die Cemaat ist verbittert, weil Erdogan angefangen hat, gegen ihre
       Interessen zu handeln, indem er ihre Schulen schließen will. Sie sind gegen
       die Friedensinitiative mit den Kurden und sie sind gegen seinen
       außenpolitischen Islamismus in Syrien und gegenüber Israel und Ägypten.“
       
       26 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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