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       # taz.de -- Kapitalismuskritik: „Ich hoffe auf Risse im System“
       
       > Der Architekt und Schriftsteller Friedrich von Borries sucht nach dem
       > richtigen Leben im falschen. Das Problem: Der Kapitalismus ist ein Teil
       > von uns.
       
   IMG Bild: Schätzt den Freiraum der Kunst: der Herr Professor Friedrich von Borries auf einer 1. Mai-Demo in Berlin.
       
       taz: Herr von Borries, Sie setzten sich in Ihrem Werk oft mit Werbung
       auseinander, in Ihrem gerade wieder aufgelegten Buch „Wer hat Angst vor
       Niketown“ ebenso wie in Ihrem neuen Buch „RLF“. Was halten Sie von Werbung? 
       
       Friedrich von Borries: Ich bin Architekt und unterrichte Design-Theorie, da
       kommt man an Werbung nicht vorbei. Die Konstruktion städtischer Räume ist
       davon geprägt. Aber auch, was man unter Produkt-Design versteht, ist
       Marketing-driven. Und dann bin ich, in Westdeutschland aufgewachsen,
       natürlich selbst von Werbung durchdrungen. Ich merke, wie man „drauf
       reinfällt“, bediene mich aus Bequemlichkeit aber trotzdem der angebotenen
       Identitätsbausteine.
       
       Ist das so schlimm? 
       
       In „Wer hat Angst vor Niketown“ beschreibe ich Werbestrategien und
       Interventionsstrategien von Nike im städtischen Raum, die eine sehr
       positive Seite hatten, nämlich, dass Räume wieder belebt wurden, was
       normale Architekten und Planer mit ihren Instrumenten offenbar nicht
       hinbekommen haben. Der Profithintergrund bereitet mir aber ein großes
       Unbehagen. Werbung wirkt mit an der permanenten Ökonomisierung jeglicher
       Form von Beziehung. Auch wenn die entwickelten Techniken der Werbung, die
       ja oft der Kunst entlehnt sind, natürlich hoch faszinierend sind.
       
       Einige sagen, Werbung sei Kunst an die Seite zu stellen. Der Theoretiker
       und Literaturkritiker Roland Barthes etwa pries das Vermögen der Werbung,
       auf ähnliche Weise wie Kunst eine geistige Erfahrung und Sinn zu
       vermitteln, wo sonst nur die bloße Verwendung einer Ware wäre. 
       
       Aus einer heutigen Perspektive muss die Frage des Anliegens einbezogen
       werden. Das macht den Unterschied. Nehmen wir das Beispiel Occupy: Diese
       Protestform haben Leute entwickelt, die zum Teil aus dem Marketing kamen.
       Die haben nach den Regeln des Marketings und der Manipulation starke Bilder
       produziert und Emotionen geweckt. Auch die osteuropäischen
       Protestbewegungen haben, von der orangenen Revolution bis zu den Femen,
       sehr bewusst die eigene Traditionen der Propaganda mit neuen visuellen
       Strategien des Marketings ergänzt.
       
       Und was ist das Anliegen der Kunst? 
       
       Es gibt ein schönes neues Buch von Christoph Menke, „Die Kraft der Kunst“,
       wo er sagt, Kunst entziehe sich jedweder Instrumentalisierung, ob es die
       Instrumentalisierung für politische Kritik ist oder die der Ökonomisierung.
       Das macht ihren Wert gerade in der heutigen Zeit aus, in der alles,
       eigentlich fast alles instrumentalisiert ist. Deswegen stellen sich
       Graswurzel-Kunstbewegungen, urbane Interventionen, politisch-aktivistische
       Kunst, sozial-aktivistische Kunst die immer gleiche Frage: Wie geht man mit
       dem Instrumentalisierungsproblem um? Da würde ich den Freiraum der Kunst
       verteidigen.
       
       Allerdings ist der Gedanke, dass Kunst frei sei von Vereinnahmung, doch mit
       den Internationalen Situationisten schon in den 1960ern abschlägig
       beantwortet worden. Aus der Erfahrung heraus, dass gerade die Kunst, die
       sich dem Markt verweigerte, nur umso heißer vom Markt geliebt wurde, zogen
       sie den Schluss, dass man über die Kunst hinausgehen müsse. 
       
       Wir müssen ein Stück weit akzeptieren, dass der Kapitalismus, in dem wir
       leben, und der ein Teil von uns bildet, extrem lernfähig ist. Die Form der
       Kritik an ihm muss sich deshalb immer wieder ändern. Manches, was vor 50
       Jahren verabschiedet wurde, ist heute, unter veränderten Bedingungen, doch
       wieder produktiv, in zehn Jahren vielleicht aber nicht mehr. Anderes hat
       sich grundlegend geändert. Bis in die 1980er hatte man Kritik geübt, als
       würde man einen außerhalb des Systems liegenden Standpunkt einnehmen
       können. An diese Haltung glaube ich nicht mehr. Der Kapitalismus ist
       spätestens mit dem Zusammenbruch des Ostens, als Projektionsraum für was
       auch immer, total geworden.
       
       Das heißt für die Kritik? 
       
       Dass sie immer reflektieren muss, wie man selbst verstrickt ist in den
       Kapitalismus, von ihm durchdrungen. Das hat ja Eva Illouz so schön
       beschrieben am Beispiel der Liebe: Wie wir davon reden, „viel in eine
       Beziehung investiert“ zu haben, oder dass sich eine Beziehung „nicht
       gelohnt“ habe. Solche ökonomischen, neoliberalen Begriffe fließen uns heute
       ganz selbstverständlich von der Lippe, während wir über Liebe reden. Wie
       wir denken, handeln, ganz privat und in die intimsten Bereiche hinein: der
       Kapitalismus ist dabei. Oder die Selbstoptimierungsdebatte: Der ständige
       Kampf, dass man besser als man selbst sein will. Kritik an diesem System
       kann deshalb nur produktiv sein, wenn sie auch ein Stück weit
       selbstzerstörerisch ist.
       
       Steht offenbar nicht gut um die Kunst. Ist es auch durch den Hype auf dem
       Kunstmarkt schwieriger geworden, Kunst in kritischer Form umzusetzen? 
       
       Man muss da differenzieren, wir haben ja viele parallele Kunstmärkte. Neben
       dem Galerien und Messemarkt etwa den staatlich geförderte Kunstraum, wo
       bewusst Kritik verlangt wird. Es ist übrigens noch zu wenig systematisch
       betrachtet worden, was das mit der Kunst und ihrem Selbstverständnis von
       gesellschaftlicher Kritik ausmacht. Staatlich geförderte
       Gesellschaftskritik, also hoch instrumentalisiert, das hat ja einen
       gewissen Absurditätsgrad.
       
       Könnte es sein, dass die Kunst dazu gezwungen ist, wenn sie wirklich frei
       sein will, sich in einen dritten Raum zurückzuziehen, der weder staatlich
       noch ökonomisch vereinnahmt ist – nämlich in die Anonymität? 
       
       Vielleicht. Aber darüber können wir nicht sprechen. Denn in dem Moment, wo
       ich als Hochschullehrer oder Sie als Fachjournalist diese Beispiele kennen,
       würde die eben von Ihnen formulierte Grundbedingung nicht mehr zutreffen.
       
       Reizt Sie Anonymität? 
       
       Naja, ich persönlich kann nicht behaupten, diese Strategie zu verfolgen.
       
       Aber immerhin gibt es in Ihren Büchern einige Gestalten, von denen Sie
       behaupten, es gebe sie als real existierende Personen, auch wenn sonst
       nichts über sie bekannt ist. Der Künstler Mikael Mikael etwa: Sie
       behaupten, er habe Ihnen das Material zugespielt, auf dem Ihr Buch „RLF“
       beruht. 
       
       Ich kann Mikael Mikael nicht für ein eigenes Anonymitätsbedürfnis
       vereinnahmen. Ich begreife mich als „Radikal-Opportunisten, der in den
       Lücken des Systems temporäre autonome Zonen errichtet“, so habe ich das vor
       zehn Jahren in Niketown geschrieben. Dieser Radikal-Opportunist, so heißt
       es da, sollte sich nicht „aus ideologisch-romantischen Gründen zurückziehen
       in den Dschungel oder die Unsichtbarkeit, sondern sich als Pragmatiker
       unter die Entscheidungsträger mischen, sich den Gegebenheiten anpassen, als
       Doppelagent agieren“.
       
       Ihr neues Buch trägt in Anlehnung an Adornos berühmtes Diktum, es gebe kein
       richtiges Leben im falschen, den Titel „RLF“, ein Akronym, das für das
       „richtige Leben im falschen“ steht soll. Inhaltlich ist es eine Mischung
       aus Kolportage-Roman und Sachbuch zum gegenwärtigen Stand der
       Kapitalismuskritik. Zugleich ist RLF aber auch eine Art Unternehmen. Worum
       geht es Ihnen dabei? 
       
       Ich versuche, den Radikal-Opportunismus ein Stück weiterzutreiben, in die
       Realität umzusetzen, statt ihn nur zu behaupten. RLF stellt luxuriöse
       Konsumprodukte her, Sofas, Regale, Tapeten, Schmuck und Klamotten. Mit dem
       Gewinn wird die Revolution finanziert, oder wenigstens der Versuch, andere
       Räume zu schaffen. Eine Mikro-Nation zum Beispiel. RLF versucht, den
       Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen schlagen... An dieser
       Protestbewegung kann jeder teilhaben, indem er konsumiert. Wer die Produkte
       kauft, wird Shareholder der Revolution!
       
       Haben Sie sich schon mit RLF Vereinnahmungstendenzen erwehren müssen? 
       
       Man kann dagegen nicht viel tun. Das resultiert aus dem Dilemma, Wirkung
       erzielen zu wollen. Bei RLF sagen zum Beispiel einige junge Leute: Das
       drückt genau meine Probleme aus. Aber andere sagen: Super, das lesen wir im
       ersten Semester BWL, da wird ja mal sauber erklärt, wie Marketing
       funktioniert! Was natürlich nicht so lustig ist.
       
       Vereinnahmungen spielen auch in der Debatte um die Stadt eine Rolle.
       Künstler, die sich vereinnahmt fühlen und sich gegen Gentrifizierung
       wehren. In dem Zusammenhang haben Sie geschrieben, wenn das Bürgertum
       gerade St. Pauli erobert, dann muss die Boheme eben Blankenese erobern. 
       
       Ich habe auch einen anderen Text geschrieben, in dem die Blankeneser Bürger
       ein Recht auf Seilbahn fordern, wo die Wilhelmsburger jetzt vielleicht so
       ein Ding bekommen. Ironie und Überspitzung sind Mittel, mit denen ich
       arbeite.
       
       Trotzdem liest sich Ihre ironische Intervention so, als wollten Sie sagen,
       man solle sich nicht an St. Pauli festbeißen und Gentrifizierung sei ein
       notwendiger Wandel, den der Kapitalismus eben mit sich bringt. 
       
       Ja, ein Stück weit heißt es das. Andersrum: St. Pauli, Hafenstraße,
       Gängeviertel, sind alles Aushängeschilder des Stadtmarketings. Das sind
       keine heterotopischen, eigengesetztlichen Räume. Man hängt einer Schimäre
       nach, gesamtstädtisch gesehen. Zugleich entstehen andere Räume. Aber über
       die kann man konsequenterweise nicht reden, das haben wir ja vorhin schon
       festgestellt.
       
       Was halten Sie von den kleinen selbstgestalterischen Eingriffen in die
       Stadt? Urban Gardening zum Beispiel: Ist das mehr als Kosmetik? 
       
       Ein bisschen Kosmetik hat noch nie geschadet! Aber Ihr Beispiel insinuiert,
       dass es hier um ästhetische Bilder geht. Dabei geht’s um soziale Räume, in
       denen Menschen handeln, sich begegnen, Sinn empfinden, Alltag erleben. Das
       stärkt Identität, Verbundenheit, Lebensqualität. Das ist erstmal sehr
       positiv.
       
       Das Bedürfnis nach Kosmetik ließe sich auch auf Ihre Beobachtung beziehen,
       der Kapitalismus sei total geworden. Dann bleibt uns nämlich nur noch,
       klein beizugeben und unser Straßengärtchen zu pflegen. 
       
       Die alte Debatte: Sind die Aktionsformen ein neues Biedermeier? Oder die
       Risse im System, mit denen gesellschaftlicher Wandel anfängt?
       
       Und Sie glauben an die Risse? 
       
       Was bleibt uns denn sonst? Revolution? Die beansprucht heute ja BMW für
       seine Elektroautos. Und vor „echten“ Revolutionen habe ich Angst. Ägypten
       ist kein Spaß. Haben wir zwar erst alle gefeiert, Twitter hier, Twitter da,
       große Umwälzung, und jetzt taumelt das Land zwischen Bürgerkrieg,
       Militärdiktatur und halb-radikalislamistischen Staatsgebilde hin und her.
       Der Revolutionsbegriff, der von RLF verwendet wird, bewegt sich im
       Spannungsfeld von Tahrir-Platz und BMW. In diesem Sinne: Ja, Risse haben
       eine Wirkung. Das ist zumindest meine Hoffnung.
       
       ## „Ideen und Überlegungen zu Literatur und Kunst in der Zukunft“, Gespräch
       mit Friedrich von Borries, Margriet de Moor, Hortensia Völckers und Raoul
       Schrott: 29. 1. 2014, 15 Uhr, NDR Funkhaus Hannover,
       Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22
       
       23 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maximilian Probst
       
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