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       # taz.de -- Kommentar SPD-Mitgliederbefragung: Sozialdemokraten und Größenwahn
       
       > Hat die SPD die Basisdemokratie neu erfunden? Ach was. Aber der
       > Mitgliederentscheid könnte eine neue Kultur begründen.
       
   IMG Bild: Der Mitgliederentscheid bedeutet einen neuen Sound in der SPD.
       
       Sigmar Gabriel ist kein Eigenlob zu groß. Die SPD habe „neue Maßstäbe“ in
       Sachen Beteiligung gesetzt, preist er den Mitgliederentscheid. Das klingt,
       als habe er die Sozialdemokratie geschüttelt und ausgelüftet, als sei die
       chronische Melancholie verschwunden, das Unbehagen. Als gebe es nur noch
       ein Mitmach-Utopia voller Ortsvereine, die freudig in die Große Koalition
       schreiten.
       
       Wie so oft würde man sich vom SPD-Vorsitzenden etwas mehr Realitätssinn
       wünschen. Nein, was die SPD in den vergangenen zwei Wochen vorgemacht hat,
       ist keine Revolution. Es ist ein ordentlicher Schritt in die richtige
       Richtung.
       
       Zunächst einmal war die Basis in ihrer Entscheidung nicht wirklich frei.
       Eine demokratische Abstimmung bekommt dadurch Relevanz, dass der Souverän
       zwischen echten Alternativen wählen kann. Das wäre zum Beispiel der Fall
       gewesen, wenn Gabriel die Mitglieder nach dem 22. September gefragt hätte,
       ob er über Rot-Rot-Grün oder über eine Große Koalition verhandeln soll. Das
       hat er sich aber nicht getraut. Und so hatte die Basis eben keine echte
       Alternative.
       
       Das Szenario, das dem ungeliebten Bündnis mit Angela Merkels entgegensteht,
       ist fürchterlich. Bei einem Scheitern des Entscheids, einem
       Misstrauensvotum, wäre nicht nur Sigmar Gabriel unrettbar beschädigt,
       sondern eine ganze Führungsgeneration. Die gesamte Parteiprominenz hat sich
       hinter das Projekt gestellt, auch SPD-Linke wie Ralf Stegner oder Skeptiker
       wie Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen. Im besten Fall müsste eine
       kopf- und orientierungslose SPD gegen Schwarz-Grün opponieren, im
       schlechtesten würde sie durch Neuwahlen geschwächt.
       
       ## Furcht vor der Marginalisierung
       
       Für die Entscheidung der Basis dürften deshalb nicht inhaltliche
       Überzeugungen maßgeblich gewesen sein, sondern die Furcht vor der
       Marginalisierung. Gabriel verschweigt, dass er die Mitglieder von Anfang an
       in eine Zwangsjacke eingeschnürt hat.
       
       Dennoch gibt es ihn, den fortschrittlichen und deshalb lobenswerten Kern in
       diesem Mitgliederentscheid. In der Sozialdemokratie stellt er ein Novum
       dar. Basisdemokratie ist der SPD historisch fremd, sie pflegte bislang eine
       patriarchal-autoritäre Führungskultur.
       
       Einen Tonfall also, der auch in männlich geprägten Arbeitermilieus
       vorherrschte. Der Vorarbeiter gibt kurze Anweisungen, der Rest folgt.
       Herbert Wehner verkörperte diesen Stil, Gerhard Schröder setzte ihn mit
       seiner Basta-Politik fort, Franz Müntefering praktizierte ihn mit
       Drei-Wort-Sätzen. Die wichtigen Entscheidungen der SPD fielen stets im
       kleinen Kreis, zwischen zwei, drei Alphamännern, Fraktion und Partei hatten
       nur noch zu exekutieren.
       
       Sigmar Gabriel hat verstanden, dass dieser Stil im Jahr 2013 nicht mehr
       zieht. Der Mitgliederentscheid ist ein neuer Sound, er könnte eine neue
       Unternehmenskultur begründen – wenig ist das nicht.
       
       ## Das Mitmachangebot kommt gut an
       
       Es ist offensichtlich, dass das Mitmachangebot gut ankommt. Über 300.000
       Mitglieder haben sich an der Briefwahl beteiligt, allein das ist ein großer
       Erfolg. Die SPD verzeichnete außerdem Tausende neue Mitglieder, ein Teil
       davon dürfte wegen des Entscheids eingetreten sein.
       
       Dabei folgt die SPD einem Trend, den die meisten Parteien erkannt haben.
       Die FDP ließ 2011 den Mitgliedern in der Europapolitik das letzte Wort, die
       Grünen 2012 beim Spitzenpersonal für den Bundestagswahlkampf. Jede Partei
       machte erfreuliche Erfahrungen. Es lohnt sich also, diejenigen, die die
       eigene Politik legitimieren, einzubeziehen.
       
       Doch ob der zu Stimmungswechseln neigende SPD-Chef diesen neuen Stil
       durchhält? Die große Herausforderung für ihn wird sein, den Willen der
       Partei im Regierungshandeln zu berücksichtigen. Das wäre die wirklich
       relevante Verbesserung gegenüber den Basta-Jahren unter Schröder, der die
       SPD mit Drohungen auf seinen Kurs zwang. Mit dem Mitgliederentscheid ging
       Gabriel in die richtige Richtung, aber die Kultur einer Partei zu
       verändern, verlangt Kondition für die Langstrecke.
       
       14 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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