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       # taz.de -- Schüler treffen Literaturnobelpreisträger: Die Nobel-Klasse aus der Vorstadt
       
       > Glamour im Brennpunktviertel: Schüler eines Stockholmer
       > Einwandererbezirks empfangen am Donnerstag die Familie der
       > Schriftstellerin Alice Munro.
       
   IMG Bild: Schüler der neunten Klasse im Chemieunterricht. „Manche Kollegen würden diese Jugendlichen nicht mit Gasbrennern hantieren lassen“, meint ihr Lehrer
       
       STOCKHOLM taz | Imre Kertész, Günter Grass, J.M. Le Clézio: Sie alle waren
       schon in Rinkeby. Der Stadtteil im Norden der schwedischen Hauptstadt ist
       kein Ziel, das Reiseführer empfehlen. Rinkeby ist ein sozialer Brennpunkt
       mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen und der höchsten Arbeitslosigkeit in
       Stockholm.
       
       Doch seit 25 Jahren gibt es hier eine Tradition, der sich alle
       Literaturnobelpreisträger, die zur Verleihung nach Schweden reisen, willig
       fügen. Achtklässler der örtlichen Schule, der Rinkebyskolan, empfangen die
       Geehrten und übergeben ihnen ein für sie produziertes Büchlein. Tomas
       Tranströmer, der schwedische Nobelpreisträger, ließ vor zwei Jahren sogar
       ein Dinner mit dem schwedischen König sausen, weil es ihm bei den
       Jugendlichen so gut gefiel.
       
       Die 82-jährige Alice Munro hat die Reise zur diesjährigen Verleihung nach
       Stockholm aus gesundheitlichen Gründen abgesagt. Am Donnerstag erwartet die
       8b der Rinkebyskolan daher ihre Tochter.
       
       Für die Schüler mache das keinen Unterschied, berichtet die
       Schriftstellerin Gunilla Lundgren, die seit 1988 die „Nobel-Klasse“
       betreut. „Die Kinder sind sehr stolz und sehr aufgeregt.“ Seit August
       bereiten sie sich auf den Besuch vor. Alle Fächer wurden dem Nobel-Projekt
       untergeordnet, sämtliche Lehrer der Klasse, Lundgren und die
       Schulbibliothekarin haben vier Monate mit den Schülern recherchiert und
       geprobt.
       
       Munros Kurzgeschichte „Royal Beatings“, in der ein Mädchen von ihrem Vater
       geschlagen wird, haben sie gelesen und illustriert. „Rose tut uns leid.“
       Die Schüler waren auch in der Börse, als die Akademie die Preisträger
       verkündete. „Wir waren froh, dass der Preis an eine Frau ging.“ Sie waren
       im Rathaus, wo das Nobelbankett stattfinden wird, und haben es gezeichnet.
       Sie studierten die Geschichte von Alfred Nobel. „Alfred kannte seinen Vater
       nicht.“ All diese Eindrücke haben sie in dem 28-seitigen Buch für Munro in
       Cartoons und Geschichten festgehalten.
       
       Zur Übergabe werden neben Munros Familie kanadische Diplomaten und örtliche
       Honoratioren kommen, auch das kanadische Fernsehen hat sich angemeldet. Das
       letzte Mal berichteten ausländische Medien über Rinkeby, als im Mai
       Straßenschlachten zwischen Polizei und Jugendlichen tobten. Die Kinder
       zeichnen ein anderes Bild von ihrem Viertel. Für Alice Munro dichteten sie:
       
       Rinkeby
       
       mit vielen Menschen,
       
       internationalen Bürgern,
       
       Türken, Kurden, Latinos,
       
       Eritreer, Somali, Araber.
       
       Rinkeby
       
       dort fühlst du dich sicher
       
       musst nicht ständig hinter dich schauen
       
       hier ist Liebe
       
       Rinkeby
       
       Schwedens kultureller Ort.
       
       Keiner sei besser als sie geeignet, eine international bekannte
       Schriftstellerin zu empfangen, denn sie seien international, hatte Gunilla
       Lundgren den Schülern der 8b zu Beginn des Nobel-Projekts versichert. Die
       340 Schüler der Stockholmer Schule sprechen über 60 Muttersprachen.
       
       Schweden nimmt Einwanderer aus aller Welt recht großzügig auf. Jeder neue
       Kriegsherd, der rund um den Globus aufflammt, bringt zeitversetzt neue
       Bewohnergruppen nach Rinkeby.
       
       Wer die Schule, einen langgestreckten Betonflachbau, betritt und die
       Pförtnerin passiert hat, findet sich im Foyer vor einer orangefarbenen Wand
       wieder, auf der in vielen Sprachen „Willkommen“ steht.
       
       „Viele unserer Schüler schleppen eine Menge mit sich herum“, sagt der
       Chemielehrer Thomas Holmqvist. Damit meint er nicht die Schulsachen der
       Kinder, sondern die Probleme, die sie von zu Hause mitbringen. Einem
       hochaufgeschossenen Jungen, der nach der Stunde gestikulierend auf ihn
       einredet, klopft Holmqvist beruhigend auf seine Schultern. Der Junge hat
       die Stunde verpasst, normalerweise müsste der Lehrer jetzt Eltern und die
       Schulleitung informieren. Doch Holmqvist winkt ab: „Schimpfen bringt
       nichts, sein Cousin wurde gerade in Somalia erschossen.“
       
       Auch in der Nobel-Klasse sind Schüler, die Verwandte oder den Vater
       verloren haben. Viele Eltern sind zudem Analphabeten, Bücher kennen ihre
       Kinder nur aus der Schule. Für das Nobel-Projekt würden jedes Jahr nicht
       etwa die strebsamsten Kinder ausgesucht, sondern die Klasse, die es am
       nötigsten habe, sagt Carina Rennermalm, die Schulleiterin der
       Rinkebyskolan. „Für unsere Kinder spielt die Schule eine große Rolle. Hier
       fühlen sie sich wohl und sicher.“ Alle Besucher führt die große, schwarz
       gekleidete Frau in die Bibliothek im ersten Stock. „Ich kenne keine bessere
       Schulbibliothek“, meint sie überzeugt. Sogar eine fest angestellte
       Bibliothekarin leistet sich die Schule.
       
       Rennermalm kam im Vorjahr von der Westküste Schwedens nach Stockholm und
       trat die Nachfolge des legendären Schulleiters Börje Ehrstrand an. Der
       hatte aus der einstigen Problemschule eine Vorzeigeschule gemacht. Die
       Schüler erreichen heute bei den landesweiten Vergleichsarbeiten regelmäßig
       die Top-Ten – trotz schwierigster Ausgangsbedinungen.
       
       „Wir setzten hohe Erwartungen in sie, so einfach ist das“, erklärt
       Holmqvist. Er lässt seine Schüler im Chemieunterricht viel experimentieren.
       „Manche Kollegen meinen, es sei gefährlich, solche Jugendlichen mit
       Gasbrennern hantieren zu lassen“, raunt er belustigt.
       
       Gunilla Lundgren ist begeistert, welche Fortschritte die 8b in den letzten
       vier Monaten gemacht hat. „Sie haben so viel gelesen, diskutiert und
       geschrieben. Sie sind enorm gewachsen.“ Erstaunt ist sie nicht. In diesen
       Kindern stecke unglaubliches Potenzial. Den Schülern hat die 70-Jährige
       gesagt: „Ich will noch erleben, dass einer von euch den Nobelpreis
       bekommt.“
       
       12 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
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