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       # taz.de -- Demenzkranke in Russland: Hilfe nur für die Elite
       
       > In Russland sind knapp zwei Millionen ältere Menschen von Demenz
       > betroffen. Doch das Thema wird tabuisiert, Angehörige sind auf sich
       > gestellt.
       
   IMG Bild: Ältere Dame in Moskau: In Russland ist das Alter noch eine zwecklose Lebensphase
       
       MOSKAU taz | Walentina Sergejewnja ist eine stattliche Erscheinung:
       kräftig, groß und für ihre 98 Jahre noch immer mit einen frischen Teint.
       Auch die resolute Stimme hat nichts an Volumen eingebüßt. Die frühere
       Lehrerin thront in einem Sessel wie einst hinter dem Katheder in einer
       Zweizimmerwohnung in Wladimir und spielt weiter Schule.
       
       Schülerinnen sind Tochter Larissa (72) und Enkelin Irina (47). Sie lassen
       sich herumkommandieren und anbrüllen und haben trotzdem ihr Leben nach den
       Bedürfnissen der Mutter und Oma ausgerichtet, Irina arbeitet als Kurier, um
       flexibel zu sein. Seit fünf Jahren ist Walentina dement und muss rund um
       die Uhr versorgt werden. Erst kürzlich nutzte die stämmige Dame einen
       Moment der Unachtsamkeit und stürmte mit einem Messer bewaffnet ins
       Treppenhaus. „Flüche ausstoßend wie ein Hafenarbeiter“, lacht die Enkelin.
       
       Wirklich lustig finden die beiden Frauen die Situation indes schon lange
       nicht mehr. Der Versuch, die alte Frau in einem staatlichen Altersheim
       unterzubringen, scheiterte. Die Anstalt weigerte sich. „Wer Verwandte hat,
       wird grundsätzlich nicht aufgenommen“, meint Irina. Demenz ist in Russland
       immer noch ein Tabu. Angehörige halten es für ihre Pflicht, sich um die
       Alten zu kümmern. Öffentlich darüber zu klagen, verbieten Scham wie
       moralischer und sozialer Kodex.
       
       Der Staat verlässt sich auf das schlechte Gewissen der Kinder und Enkel.
       Daher sind auch Altenheime für noch rüstigere Rentner eine Seltenheit.
       Gelegentlich wird die Gesellschaft an die Existenz solcher
       Aufbewahrungsanstalten erinnert, weil wieder mal eine abbrannte oder
       Pfleger sich an wehrlosen Insassen vergangen haben.
       
       Russische Mediziner schätzen, dass 1,8 bis 2 Millionen ältere Menschen im
       Land betroffen sind. Um diese kümmert sich ein riesiges Heer von etwa 20
       Millionen Helfern aus Familie und Verwandtschaft. Spezialisierte
       Altersheime gibt es bislang keine. Einige Heime in Moskau eröffneten
       kleinere Abteilungen für Demenz- und Alzheimer-Patienten. Das sind aber
       meist private Einrichtungen, die für russische Verhältnisse hohe
       Pflegesätze verlangen.
       
       ## Heimgebühren weit über der Durchnschnittsrente
       
       Die günstigsten Heime beginnen bei 40.000 Rubel (1.000 Euro) im Monat, die
       besseren verlangen schon das Doppelte. „Aber auch dort kommt man wegen der
       geringen Bettenzahl nicht unter“, sagt Ludmila Prochowna, die für die
       Mutter händeringend einen Platz sucht. Sie ist alleinstehend und hat keine
       Familienangehörigen. Ist Ludmila erschöpft, ruft sie aus Verzweiflung den
       Notdienst an. Ein paar Tage verbringt die Mutter dann in einem Krankenhaus,
       das vornehmlich Rentner mit physischen Gebrechen behandelt.
       
       Inzwischen gibt es vor den Toren Moskaus einige Einrichtungen für
       VIP-Demente mit Beitragssätzen von 3.500 bis 4.000 Euro monatlich. Die
       durchschnittliche Moskauer Rente liegt bei 280 Euro.
       
       In Russland ist das Alter noch eine zwecklose Lebensphase. Drei bis fünf
       Generationen trennen das Land von der westlichen Entwicklung, meinen
       Soziologen. Bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass auch Alter eine gute
       Zeit sein kann, dürften noch Jahrzehnte vergehen.
       
       Auch das ist einer der Gründe, warum Demenz tabuisiert wird und weshalb
       Mediziner, Psychologen und die Entwicklungspsychologie dem Phänomen lange
       Zeit keine Aufmerksamkeit schenkten. Den Angehörigen der Demenzkranken
       fehlen medizinisches Wissen und praktische Hinweise, wie sie mit
       störrischen Alten umgehen sollen. Selbst in Fachkreisen herrscht ein
       negatives Klischee vor, das Demenz mit Altersstarrsinn abtut. Vielleicht
       erklärt auch die jahrzehntelange Herrschaft kommunistischer Gerontokraten
       in Moskau, dass die gerontologische Forschung bis heute auf dem Stand der
       1960er verharrt.
       
       Walentina Sergejewnja ist unterdessen vom Bett gerutscht. Irina und Larissa
       bestellen Bauarbeiter, um sie aufzurichten. Die Feuerwehr lehnt das aus
       hygienischen Gründen ab. „Was sollen wir nur mit den Alten machen“, fragte
       jemand in einem Alzheimer-Blog. Antwort: „Einsalzen“.
       
       12 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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