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       # taz.de -- Filmproduktion in Marokko: Der Hohe Atlas ersetzt den Himalaja
       
       > Wüstenfantasien und Kulissen-Hopping: Eindrücke vom Filmfestival von
       > Marrakesch und ein Blick hinter die Kulissen der Filmstudios in
       > Ouarzazate.
       
   IMG Bild: Das Filmfestival als Happening: Kinopublikum auf dem Jemaa el-Fna-Platz.
       
       Ein Filmstudio zu besichtigen, ist eine zweischneidige Erfahrung. Der erste
       Eindruck ist der großer Schäbigkeit. Die Kulissen bestehen aus Gips und aus
       Styropor, an den Kanten verlieren sie Farbe, Löcher gibt es auch. Was auf
       der Leinwand wie eine solide, jahrhundertealte Mauer ausschaut, ist nicht
       dicker als ein Zentimeter und wird auf der Rückseite von einem Holzgerüst
       gestützt. Und was im fertigen Film einen Ferrari darstellt, ist in
       Wirklichkeit eine rot angestrichene Attrappe. Wenn man draufklopft, klingt
       es hohl.
       
       Doch in die Desillusionierung mischt sich umgehend etwas anderes:
       Begeisterung darüber, welche Effekte sich mit ein paar Tricks, mit ein
       bisschen Gips, Goldglitter und Farbe erzielen lassen und wie mächtig die
       Techniken der Illusionserzeugung sind.
       
       An einem Dienstag Anfang Dezember besuche ich gemeinsam mit etwa 50 anderen
       Journalisten, Filmemacherinnen und Produzenten die Stadt Ouarzazate, 200
       Kilometer südöstlich von Marrakesch. Ansässig sind hier das Atlas
       Corporation Studio und die CLA Studios. Sie blicken auf eine lange
       Tradition – hier entstanden Alfred Hitchcocks „The Man Who Knew too Much“
       (1956), David Leans „Lawrence of Arabia“ (1962), Pier Paolo Pasolinis
       „Edipo Re“ (1967) oder Ridley Scotts „Gladiator“ (2000). Auch die deutsche
       Produktion „Die Päpstin“ (Regie: Sönke Wortmann, 2009) nutzte die Sets.
       
       Es gibt einiges zu bestaunen in Ouarzazate: etwa dass Peter Weirs Film „The
       Way Back“ (2010), in dem Häftlinge aus einem sibirischen Gulag durch die
       Sowjetunion übers Himalajagebirge bis nach Indien fliehen, über weite
       Strecken in Marokko aufgenommen wurde. Der Hohe Atlas ersetzt den Himalaja,
       die weite, karge Ebene rund um Ouarzazate die zentralasiatische Steppe.
       Oder das Nebeneinander ägyptischer, tibetischer, römischer, arabischer und
       persischer Kulissen: eine Reise durch Zeiten und Reiche und auf die Spitze
       getriebene Künstlichkeit.
       
       Amine Tazi Hemida, Direktor der beiden Studios, schwärmt vom Licht und vom
       stabilen Wetter und davon, wie die Einwohner von Ouarzazate an den Sets
       Arbeit finden: als Statisten, aber auch als Kulissenbauer, Stuntmen,
       Pferde- und Kameltrainer, Kostüm- und Maskenbildner. Er zeigt auf einen
       älteren Herrn, der in Alejandro González Iñárritus „Babel“ (2006) eine
       Nebenrolle innehatte. „Aber stellen Sie ihm bitte keine Fragen, wir haben
       keine Zeit!“
       
       ## Scorsese war schon zweimal hier
       
       Einer, der in Ouarzazate schon zwei Filme – „The Last Temptation of Christ“
       (1988) und „Kundun“ (1997) – gedreht hat, war gerade zu Gast in Marrakesch.
       Martin Scorsese hatte den Jury-Vorsitz des Internationalen Filmfestivals
       inne, das am Wochenende zu Ende ging. Es steht unter der Schirmherrschaft
       von König Mohammed VI. und lädt großzügig Journalisten ein, so auch mich.
       Außer ihm gehörten der Jury Marion Cotillard, Fatih Akin, Paolo Sorrentino,
       Patricia Clarkson und andere an.
       
       Der Eröffnungsabend war Sharon Stone gewidmet, die in einem gewagt
       ausgeschnittenen Kleid einen Ehrenpreis entgegennahm. Ihr galt eine der
       vielen Sonderreihen des Festivals. Auf dem zentralen Platz Jemaa el Fna
       fand eine Freiluftvorführung von Sam Raimis Western „The Quick and the
       Dead“ (1995) statt. Stone gibt darin eine Pistolenheldin, die ein
       gottverlassenes Westernkaff aufmischt. Als sie Russell Crowe küsst, werden
       die vielen jungen Männer, die sich vor der Leinwand eingefunden haben,
       unruhig, und sie johlen, als Crowe in einem Close-up Stones Hintern
       anfasst.
       
       Die Schar der illustren Gäste stand in leichtem Missverhältnis zum
       Filmprogramm. Ein skandinavischer Schwerpunkt sorgte zwar für so tolle
       Erlebnisse wie die Vormittagsvorführung einer makellosen Kopie von Carl
       Theodor Dreyers Stummfilm „La Passion de Jeanne d’Arc“ (1928). Ohne
       Musikbegleitung, im fast menschenleeren, riesigen Kino Le Colisée
       entfalteten die Nahaufnahmen von Johannas Kopf eine besonders hypnotische
       Wirkung.
       
       Doch Wettbewerbsbeiträge wie „La piscina“ oder „Pelo malo“ aus Kuba
       beziehungsweise Venezuela bedienten auf gefällige Weise die Konventionen
       des Weltkinos. Gerne hätte ich mir mehr marokkanische Filme angesehen, aber
       die meisten liefen, nachdem ich schon abgereist war. Weder gab es einen
       Sichtungsraum noch die Möglichkeit, an DVDs heranzukommen, zu groß ist die
       Furcht vor Filmpiraterie.
       
       ## Orientalismus gibt es auch hausgemacht
       
       Also konnte ich mir nur „Kanyamakan“ von Said C. Naciri anschauen, eine
       Mischung aus Western, Komödie, Kampfkunst-Spektakel und Märchen aus
       „Tausendundeiner Nacht“. Die ersten Szenen spielen auf dem Jemaa el Fna.
       Eine Kobra lässt sich bildfüllend beschwören, ein Geschichtenerzähler
       schart eine große Gruppe von Menschen um sich, ein Äffchen wartet auf
       seinen Auftritt. Orientalismus gibt es auch hausgemacht, und wer sich vom
       Kino eben nicht nur eskapistische Wüstenfantasien, sondern, mit Siegfried
       Kracauer, die Errettung der äußeren Wirklichkeit erhofft, der wird in
       „Kanyamakan“ nicht glücklich werden.
       
       An einem Nachmittag erläutert der französische Filmemacher Bruno Dumont (u.
       a. „L’Humanité“, 1999, „Twentynine Palms“, 2003, und „Hors Satan“, 2011) in
       einer Masterclass seine Arbeitsweise. Sein Publikum ist wissbegierig, die
       meisten der jungen Leute im Saal studieren Film.
       
       Einer der Studenten fragt, wie Dumont das Geld für seine sperrigen, oft mit
       Laiendarstellern gedrehten Filme auftreibe und wie er Produzenten finde.
       Dumont antwortet, man könne heute beinahe ohne Geld drehen. Man müsse sich
       einfach nur eine digitale Kamera schnappen, vor die Tür gehen und loslegen.
       Die ästhetischen Entscheidungen hätten sich immer an die ökonomischen
       Bedingungen anzupassen – und genau aus diesen Zwängen entstehe gute Kunst.
       
       Ein wenig später meldet sich ein älterer Herr zu Wort. In Marokko, sagt er,
       sei es gar nicht so einfach, auf die Straße zu gehen und zu drehen. Ohne
       Genehmigung sei das nämlich nicht möglich. Dumont antwortet: „Eine
       Revolution ist nötig.“ Für einige Sekunden erhält er lauten Beifall. Aber
       der verebbt so schnell, wie er aufgebrandet ist, und das Thema wird
       gewechselt.
       
       11 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
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