URI: 
       # taz.de -- Kulturpolitik in Ungarn: Eine neue nationale Erzählung
       
       > Unversöhnlich begegneten sich Vertreter einer neuen Nationalkultur
       > Ungarns und einer ausgegrenzten Kunstszene auf einer Tagung in Berlin.
       
   IMG Bild: Erzählungen brauchen Räume: Das Neue Nationaltheater Budapest.
       
       „Wir hatten 70 Jahre lang eine linksliberale Regierung, endlich bekommt nun
       etwas anderes Raum!“ Als der Intendant des Budapester Nationaltheaters,
       Attila Vidnyánszky, euphorisch den Anbruch einer neuen Zeit beschwor, ging
       ein Raunen durch die voll besetzte Kreuzberger Fabriketage.
       
       Dies widersprach so ganz dem Eindruck, den man in den vergangenen Monaten
       aus Ungarn bekommen hatte: Mit Zentralisierung und Umbesetzungen im
       Kulturbereich sorgte die nationalkonservative Fidesz-Regierung um Viktor
       Orbán seit 2010 für Aufsehen. Sogar von „Kulturkampf“ war die Rede.
       
       Die Auseinandersetzungen gingen auch an der Theaterszene nicht vorbei. Umso
       überraschender war es, dass auf der Konferenz „Whatever happened … to the
       Hungarian Theatre?“, organisiert von der Heinrich Böll Stiftung, kuratiert
       von Esther Slevogt, neben Historikern und Kulturaktivisten auch Attila
       Vidnyánszky mit Protagonisten des Freien Theaters zusammenkam.
       
       Das Brisante an der Runde: Vidnyánszky war bis vor Kurzem noch Vorsitzender
       jener Staatskommission, die Fördergelder an die Theaterhäuser verteilt hat
       und federführend bei Kürzungen war. Auch sorgte seine Berufung in diesem
       Jahr europaweit für Aufsehen. Die Regierung hatte den Vertrag seines
       Vorgängers, des anerkannten Theatermanns Robert Alföldi, nicht verlängert –
       zuvor war der homosexuelle Alföldi immer wieder Ziel nationalistischer
       Attacken geworden.
       
       ## Die Stiefkinder der Machthaber
       
       Árpád Schilling, Leiter des Theaters Krétakör, und György Szabó vom
       Budapester Kunsthaus Trafó sprachen von einer Polarisierung in
       regierungsferne und regierungstreue Einrichtungen, die sich auch in der
       Geldvergabe ausdrücke. „Wir sind die Stiefkinder der Machthaber“, sagte
       Szabó. Zwar ist der Intendant des Nationaltheaters nach drei Jahren vom
       Vorsitz der für die Vergabe zuständigen Kommission zurückgetreten, aber
       noch immer deren Mitglied. Kein Wunder also, dass die Stimmung auf dem
       Podium angespannt war.
       
       Lange habe er überlegt, so Vidnyánszky, ob er nach Berlin kommen würde –
       wegen Schilling. Von einem Dialog, den alle Beteiligten rhetorisch gewandt
       einforderten, konnte dennoch keine Rede sein. Die Diskussion verlief so:
       Schilling: „Wenn alle Theaterformen nebeneinander bestehen können, warum
       wurde die Unterstützung für mein Theater gestrichen?“ – Vidnyánszky:
       „Krétakör liefert heute eine andere Qualität.“ – Schilling: „Es hieß, die
       Kürzungen hätten einen politischen Grund.“ – Vidnyánszky: „Nein.“ – Pause –
       „Ich verstehe. Du willst mir eine politische Motivation unterstellen.“
       
       ## Die Theaterszene büßt an Diversität ein
       
       Nun ist es bekanntlich schwer, Kultur in Qualitätsmaßstäbe zu übersetzen
       und Kritik an Vergabekriterien und mangelnder Transparenz ist
       obligatorisch. Auch in Ungarn sind mehrheitlich Einrichtungen der Freien
       Szene von Kürzungen betroffen. Krétakör, Trafó, das Blackbird Tanztheater
       oder Projekte von Béla Pintér müssen mit bis zu 50 Prozent weniger Geld
       leben. Die ungarische Theaterszene büßt an Diversität ein. Unabhängige
       Theatermacher sind indes in ganz Europa unter Druck – man erinnere sich nur
       an die Rede von der „Kunst als linkem Hobby“ (Niederlande) und die
       Forderung nach massiven Streichungen im Buch „Kulturinfarkt“ (Deutschland).
       
       In Ungarn allerdings kann man die personelle Überschneidung von politischen
       Entscheidungsträgern und Kulturschaffenden und die zunehmend enge Anbindung
       der Institutionen an die Regierung als ein Symptom eines umfassenden Umbaus
       der ungarischen Gesellschaft sehen. So verabschiedete das Parlament in
       Viktor Orbáns zweiter Amtszeit als Ministerpräsident etwa ein heftig
       kritisiertes Medienkontrollgesetz, das neben den Öffentlich-Rechtlichen
       auch Privatsender und Zeitungen einer extra geschaffenen Medienbehörde
       unterstellte – das faktische Ende der Pressefreiheit.
       
       Auf Sanktionen durch die EU aber wartete man vergebens. Im Gegenteil: 2011
       wurde Orbán sogar die EU-Ratspräsidentschaft übertragen. Mit der
       Zweidrittelmehrheit der Fidesz fielen institutionelle Schranken der
       Machtausübung. Die Folge war ein Freibrief für den Rechtsruck,
       schockierende Morde an Roma wurden verübt, der Antisemitismus ist
       verbreitet, Aufmärsche von Neonazis und der zweitgrößten Partei, der
       ultrarechten Jobbik an der Tagesordnung.
       
       ## Nationalisten geehrt
       
       Dem zugrunde liegt eine Revision der Geschichtsnarrative des Sozialismus
       zugunsten einer neuen Nationalgeschichte. Im Mittelpunkt steht der Vertrag
       von Trianon, der Ungarn 1920 zwei Drittel seines Territoriums kostete. Die
       Regierung spricht viel von Traumata und setzt deutliche Zeichen: Allein 45
       Denkmäler zu Ehren des Schriftstellers Albert Wass, eines völkischen
       Nationalisten und glühenden Antisemiten der Horthy-Zeit und verurteilter
       Kriegsverbrecher, wurden errichtet. „Er ist zurzeit der vielleicht
       populärste Autor“, sagte der Historiker Krisztián Ungváry am Sonntag.
       
       Immer wieder geht es auch um die Leerstelle der Gedächtnispolitik: der
       ungarische Nazismus und die Judenvernichtung. „Die Ablehnung der
       Mitverantwortung ist in den letzten Jahren stärker geworden“, sagt Ferenc
       Laczó vom Imre-Kertész-Kolleg in Jena. Ein Beispiel dafür ist das Haus des
       Terrors, das seit 2002 an die Herrschaft der Pfeilkreuzler und den
       Sozialismus erinnert. Hier geht es um die Verbrechen an den Ungarn, der
       Holocaust findet nur am Rande Erwähnung. Ausgetragen wird der Kampf um die
       Geschichtsnarrative auch in der Kultur. „Nicht nur politisch, auch
       kulturell ist Ungarn zutiefst gespalten“, sagt Laczó.
       
       ## Gespenst eines liberalen Luststaats
       
       Auch Orbáns Personalpolitik setzt politische Spitzen, der Platz für
       Oppositionelle wird zunehmend knapp. 2012 zum Beispiel wurde der
       Ultrarechte György Dörner zum Direktor des Neuen Theaters ernannt. Ungváry
       zitierte in Berlin aus dessen Konzeptpapier, in dem er für eine
       Rückeroberung des Hinterlandes durch die Magyaren spricht, von einer „neuen
       Verteilung des Bodens und des Theaters“ und den Kampf gegen den „liberalen
       Luststaat“ – ein völkischer Antimodernismus, der durchaus auch europäisch
       ist.
       
       Auch Attila Vidnyánszky schlägt in diese Kerbe. Befragt nach den
       Herausforderungen des ungarischen Theaters, sagt er: „Die Gesellschaft hat
       den Glauben verloren, das ist ein Problem.“ Tatsächlich wird die Umwandlung
       des Nationaltheaters zu einem Haus der Nationalkultur auch auf der Bühne
       deutlich: Vidnyánszky steht für klassisches, monumentales Regietheater. Die
       Schauspieldirektorin des Theaters Regensburg, Stephanie Junge, etwa
       berichtete von Vidnyánszkys Inszenierung von Paul Claudels und Artur
       Honeggers „Johanna auf dem Scheiterhaufen“, die sie sah, als einer
       Verschwörung der EU gegen Ungarn.
       
       Die großen ungarischen Theaterhäuser holen die verloren geglaubten großen
       Erzählungen von Nation und Religion wieder auf die Bühne. Moderne oder gar
       postmoderne Ästhetik bleibt da auf der Strecke.
       
       ## Bedrückte Stimmung
       
       Krétakör und Trafó setzen dagegen auf die Beteiligung des Publikums. „Es
       müssen so viele Dinge besprochen werden“, sagt Schilling, und das Theater
       sei dafür geeignet, die Menschen ein Miteinander einüben zu lassen.
       Trotzdem beschreibt er die Stimmung in der Kunstszene als bedrückt. Der
       Grund hierfür ist allerdings weniger in der politischen Stimmung im Land zu
       suchen als in der Geldvergabe.
       
       Im Frühjahr 2014 finden in Ungarn Parlamentswahlen statt. Doch ob sich die
       Opposition bis dahin gegen Orbán vereinigt, das freie Theater die
       politischen Verhältnisse beeinflusst? Im Moment sieht es leider nicht so
       aus.
       
       9 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Vogel
       
       ## TAGS
       
   DIR Ungarn
   DIR Theater
   DIR Berlin
   DIR Kulturpolitik
   DIR Budapest
   DIR Ungarn
   DIR Ungarn
   DIR Budapest
   DIR Ungarn
   DIR Ungarn
   DIR Ungarn
   DIR Viktor Orbán
   DIR Viktor Orbán
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Budgetkürzung in Belgien: Kulturkampf der Rechten
       
       Die flämische Regierung hat das Budget für Kultur gekürzt, die für eine
       offene Gesellschaft steht. Die Szene protestiert.
       
   DIR Intendant am Budapester Neuen Theater: Rechtsextremist Dörner bleibt
       
       Seine erste Ernennung führte 2011 zu Protesten, seither hat das Neue
       Theater in Budapest an Renommee verloren. Doch György Dörner darf
       weitermachen.
       
   DIR 85. Geburtstag von Imre Kertesz: Auschwitz, immer wieder Auschwitz
       
       Mit Kritik am ungarischen Nationalismus sparte Imre Kertesz nicht. Zuletzt
       verlieh die rechte Regierung dem Nobelpreisträger den höchsten Orden.
       
   DIR Die ungarische Autorin Veronika Czapáry: Die Frau als Hausrat
       
       Am Sonntag wählen die Ungarn wieder Viktor Orbán. Für Kulturschaffende, die
       sich nicht anpassen wollen, wird es immer enger. Aber es gibt sie noch.
       
   DIR Geplantes Holocaust-Mahnmal in Ungarn: Ein skandalöses Kitsch-Monument
       
       Der Regierung Orbán wird Geschichtsklitterung vorgeworfen. Ein
       Holocaust-Mahnmal in Budapest sorgt für Streit, denn Juden werden nicht
       erwähnt.
       
   DIR Aufarbeitung in Ungarn: Holocaust-Gedenken ohne Juden
       
       Der Verband Jüdischer Gemeinden Ungarns nimmt nicht an den
       Erinnerungsfeiern zur Shoa teil. Ihr Vorwurf: Ungarn entziehe sich seiner
       Mitverantwortung.
       
   DIR Ungarns Umbau der Kultur: Anfang vom Ende der Kunstfreiheit
       
       Die Kunsthalle Budapest wird von der konservativen Kunstakademie
       übernommen. Die aktuelle Ausstellung besiegelt das Ende eines liberalen
       Hauses.
       
   DIR Diskriminierung in Ungarn: Eingeschränktes Wahlrecht für Roma?
       
       Vor den Parlamentswahlen scheint das Zentrale Wahlbüro Roma von der
       Abstimmung fernhalten zu wollen. Ungarns Roma-Partei MCP weist auf einen
       fiesen Trick hin.
       
   DIR Wahlkampf in Ungarn: Zu rechts für Nazis
       
       Im Frühjahr wird in Ungarn das Parlament gewählt. Erstmals tritt dabei eine
       Partei der Roma-Minderheit an. Außerdem gibt es neue Faschisten.
       
   DIR Freie Theaterszene in Ungarn: Mehr als Dokumentardramen
       
       Ungarns Regierungschef Orban krempelt nicht nur die Politik um, sondern
       auch die Kultur. Das unabhängige Theater hat es immer schwerer.