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       # taz.de -- Debatte Irans Intellektuelle: Wenn Freiheit möglich wird
       
       > Seit Rohani Präsident ist, macht sich Optimismus unter Teherans
       > Intellektuellen breit. Vorsichtig sind sie trotzdem, denn hinter ihnen
       > liegen dunkle Jahre.
       
   IMG Bild: Hands up in Teheran: Rohani-Anhänger nach dessen Wahl zum Präsidenten.
       
       Der Iran steht vor einer Wende. In seinen vier Monaten im Amt hat Präsident
       Hassan Rohani die Atmosphäre verändert. „Wir haben jetzt Hoffnung“, sagt
       die Filmproduzentin und Drehbuchautorin Fereshteh Taerpour. Mit ihren
       Kolleginnen und Kollegen arbeitet sie daran, das am 12. September offiziell
       wiedereröffnete „Haus des Kinos“ zum Laufen zu bringen. Fast zwei Jahre
       lang war es geschlossen, auf Anordnung der Regierung unter Expräsident
       Mahmud Ahmadinedschad. „Ich bin hundert Prozent optimistisch“, sagt
       Taerpour. „Aber wir haben auch sehr dunkle Jahre hinter uns.“
       
       Wir sitzen bei ihr zu Hause, in einem gemütlichen Büro, das eher wie ein
       Wohnzimmer wirkt, mit den Sofas und den Tischen voller Bücher und Nippes.
       Ihr Haus findet sich in einem Viertel, wo die Gebäude der Jahrhundertwende
       noch einen Gegenakzent setzen zum Stahl- und Glasmoloch, in den sich
       Teheran im Zuge wildwuchernder Immobilienspekulation verwandelt hat.
       
       Wenn Fereshteh Taerpour sich hoffnungsfroh zeigt, dann in Bezug auf das
       Kino. Aber bei Politologen, Journalisten und Ökonomen ist die Stimmung
       ähnlich. Man spricht von Rohani als der „letzten Chance“ für den Iran: um
       der Isolation zu entkommen, die Wirtschaft wiederzubeleben, um einer
       Gesellschaft, die nah am Erstickungstod ist, endlich wieder Luft zum Atmen
       zu verschaffen.
       
       In den internationalen Beziehungen ist die Veränderung offensichtlich: Die
       Genfer Übereinkunft zwischen dem Iran und der 5+1-Gruppe (die ständigen
       Mitglieder des UN-Sicherheitsrates plus Deutschland), die das iranische
       Atomprogramm erheblich einschränkt und die Sanktionen etwas lockert, darf
       man zumindest als zartes Tauwetter interpretieren.
       
       ## Ende der Eiszeit
       
       Wichtiger ist, was im Inneren des Landes selbst gerade aufbricht. Viele
       Oppositionelle, die nach den Protesten gegen die Wahlen im Jahr 2009
       verhaftet wurden, sind wieder frei. Bekannte Dissidenten können wieder in
       den Zeitungen veröffentlichen. Aber Achtung, warnt einer der
       Oppositionellen im Gespräch: „Wir haben die Regierung ausgetauscht, nicht
       das System.“
       
       Die neue Regierung muss sich vor allem um die Wirtschaft Sorgen machen.
       Scheitert Rohani hier, scheitert er bei allem – darin sind sich
       Konservative und Reformer in Teheran einig. Die Landeswährung Rial hat
       binnen eines Jahres die Hälfte ihres Werts verloren. Die Inflationsrate,
       die bei 42 % angekommen war, ist im Zuge des allgemeinen Optimismus zwar im
       November auf 30 % gefallen; sie trifft aber immer noch vor allem die
       unteren Einkommensstufen. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 20 %. Und
       die Staatskassen sind leer.
       
       Die Sanktionen, vor allem die im Bankensektor, belasten den Handel enorm.
       Dabei sind die Geschäfte zumindest in Teheran gut gefüllt – den Konsum
       leisten kann sich aber nur eine kleine Elite, deren enge Verbindungen mit
       den Machthabern erst im Schatten der Sanktionen ihren besonderen Wert
       entfaltet haben.
       
       ## Radikaler Flügel gestärkt
       
       So ist der Einfluss der Revolutionsgarde gestiegen, einer paramilitärischen
       Organisation, die vom Ingenieurswesen bis zur petrochemischen Industrie
       erheblichen Besitz in der Wirtschaft angehäuft hat. Wenn der Westen dachte,
       die Sanktionen würden das Regime in die Knie zwingen, so hat von ihnen in
       Wirklichkeit eher sein radikalster Flügel profitiert.
       
       Die Gesellschaft als ganze aber ist verarmt: „Die soziale Ungleichheit ist
       heute viel krasser als am Vorabend der islamischen Revolution“, sagt die
       Soziologin Masserat Amir-Ebrahimi, die ich im eleganten Café des
       Filmmuseums treffe. Es ist ein weiter Weg hierher aus der Unterstadt im
       Süden, aber die U-Bahn hat die Fahrzeit erheblich verkürzt. Jeden Morgen
       bringt sie Zehntausende aus den armen Vierteln und den rund um die
       Hauptstadt wuchernden Schlafstädten zu den Büros und Geschäften im Zentrum
       und im Norden.
       
       Zwischen den morgendlichen und abendlichen Stoßzeiten ist die U-Bahn ein
       großer Markt. Im für Frauen reservierten Waggon werden Strumpfhosen und
       Unterwäsche angeboten, Haarbänder, Nagellack, alle möglichen Snacks.
       „Viele, die dort arbeiten, haben einen Uniabschluss. Aber von einer Stelle
       im öffentlichen Dienst kann niemand leben“, sagt Amir-Ebrahimi.
       
       ## Ungewisses Vertrauen
       
       Wird es Rohani in absehbarer Zeit gelingen, einer Nation von 75 Millionen
       Menschen – von denen 65 % jünger als 35 sind – Vertrauen in eine Besserung
       der wirtschaftlichen Verhältnisse zu geben? Das kann derzeit niemand sagen.
       Im Kultursektor hat Rohani jedenfalls Zeichen gesetzt. An die Spitze des
       zuständigen „Ministeriums für Kultur und islamische Führung“ hat der
       Präsident einen Pragmatiker berufen.
       
       Ali Dschannati scheint zunächst aus einer ganz anderen Ecke zu kommen. Sein
       Vater Ajatollah Ahmad Dschannati sitzt seit 21 Jahren dem Wächterrat der
       Islamischen Republik vor: Erst kürzlich hatte er gefordert, die
       Oppositionellen Mir Hossein Mossawi und Mehdi Karrubi müssten erhängt
       werden. Ali Dschannati hat sich in einer Pressekonferenz anders
       positioniert: „Ideen sind nicht erblich. Meine Überzeugungen entspringen
       nicht der DNA meines Vaters.“
       
       „Rohani ist die letzte Hoffnung“, sagt auch Bahman Farmanara, international
       anerkannter Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Farmanara treffe ich im
       Büro seiner vom Vater übernommenen Textilfabrik, einem grauen Gebäude im
       Zentrum von Teheran. Vielleicht liegt es an dieser beruflichen
       Doppelidentität, als großem Alten des iranischen Kinos und als Unternehmer,
       dass Farmanara die Dinge sehr pragmatisch betrachtet.
       
       „Rohani hat die Schlüsselpositionen richtig gesetzt, im Kulturbereich mit
       Leuten, die zumindest etwas von der Welt gesehen haben. Man kann wieder
       arbeiten – und wir haben so viele junge Talente.“ Auch er wird bald wieder
       drehen – „vier Jahre lang haben sie mich nichts machen lassen!“ –, aber
       auch Farmanara warnt: „Unsere Gegner sind nicht verschwunden. Sie
       kontrollieren das Staatsfernsehen, viele Zeitungen und sie sitzen auf dem
       Geld.“ Wie riskant die Lage noch immer ist, zeigt die Schließung der
       Reformer-Zeitung Bahar: Im Oktober wurde sie von der Staatsanwaltschaft
       verboten – wegen eines als „provokatorisch“ verdammten Artikels.
       
       ## Gesellschaftswandel
       
       „Wir sind heute realistischer, was die Macht und die Entschlossenheit der
       Radikalen im Apparat angeht“, sagt Amir-Ebrahimi. „Zu Zeiten von Präsident
       Chatami hatten wir große Erwartungen. Aber dann kam Ahmadinedschad, und
       alle Freiheit wurde erstickt. Wir wissen jetzt, dass jeder Spielraum ganz
       schnell wieder weg sein kann. Wir müssen schnell sein. Und flexibel.“
       
       Als Beispiel nennt sie die sozialen Medien: Die Iraner lieben sie, von den
       Jungen über die Dissidenten bis hin zu den konservativen Führern – die
       Facebook-Seite von Außenminister Mohammad Dschawad Sarif gefällt über
       750.000 Usern. „Wir nutzen Facebook, aber jeder respektiert noch die roten
       Linien. Vieles steht zwischen den Zeilen“, sagt Amir-Ebrahimi. „Und trotz
       dieser Kultur der Andeutung ist Facebook der erste öffentliche Ort im Iran,
       wo die Frauen den Schleier abgelegt haben: Manche legen sich natürlich ein
       Tuch um, manche aber nicht – es ist eine persönliche Entscheidung
       geworden!“
       
       Die iranische Gesellschaft wandle sich radikal: Die Geburtenrate sinkt,
       eine von drei Ehen wird geschieden, weniger Frauen heiraten. Die junge
       Generation hat ein neues Bewusstsein von den eigenen Rechten. „Religion,
       sagt Amir-Ebrahimi, „wird bald eine Privatsache sein, unabhängig vom
       Staatssystem.“ Und das wäre doch ein hübsches Paradox für ein Land, das
       sich Islamische Republik nennt.
       
       Aus dem italienischen von Ambros Waibel
       
       8 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marina Forti
       
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