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       # taz.de -- Kinder der sexuellen Revolution: Das Ende aller Normen
       
       > Der Weg vom Kuppeleiparagrafen der grauen fünfziger Jahre zur emotionalen
       > Sexualbeziehung war lang. Und er hat sich gelohnt.
       
   IMG Bild: Was ist normal? Diese ängstliche Frage stand irgendwann nicht mehr im Vordergrund.
       
       Den Sex zu befreien – plopp!, wie einen Geist aus der Flasche –, das ist
       schon eine sehr seltsame Vorstellung. Tatsächlich ist es wohl anders
       gelaufen. Komplizierter. Nicht gar so heroisch. Dafür aber gesellschaftlich
       breiter angelegt.
       
       „Man gewinnt den Eindruck, dass die Studenten, die in unserer
       Alltagsgeschichtsschreibung als die Avantgarde der sexuellen Revolution
       gelten, sich von der Sittenlockerung, die unter den sogenannten
       Kleinbürgern längst begonnen hatte, eher unter Druck gesetzt fühlten.“
       
       So fasst Mariam Lau in ihrem klugen, vor einigen Jahren erschienenen Buch
       „Die neuen Sexfronten“ die Lage in den späten Sechzigern zusammen. Und es
       ist sehr erheiternd, wie sie einen Amtsgerichtsrat aus Hannover zitiert,
       der 1968 folgende Einlassung von sich gab: „Bei konsequenter Anwendung des
       Kuppeleiparagraphen müssten wir anstelle des sozialen Wohnungsbaus
       Gefängnisse einrichten.“
       
       Man muss sich so etwas heute längst ergoogeln: Der Kuppelei verdächtig
       machte sich damals noch prinzipiell, wer Sex ohne Trauschein ermöglichte.
       Selbst Hausbesitzer, die Wohnungen an uneheliche Paare vermieteten, waren
       von Strafen bedroht. Erst 1974 wurde der Paragraf abgeschafft. Allerdings
       wurde er eben auch schon lange nicht mehr konsequent angewandt. Obwohl es
       dazu, das will der Amtsgerichtsrat ja wohl sagen, manchen Anlass gegeben
       hätte.
       
       ## Entscheidende Nuancen
       
       Die sexuelle Liberalisierung war nämlich bereits in vollem Gang, als die
       68er auftraten. Und sie ging auch dann noch weiter, als die 68er nach dem
       Scheitern ihrer Revolutionshoffnungen längst ihre Wunden leckten. Wenn man
       die sexuelle Liberalisierung von den symbolischen Kämpfen um 68 trennt,
       wird man möglicherweise etwas kühler, zugleich aber auch wieder etwas
       faszinierter auf diese Zeit gucken.
       
       Denn tatsächlich war, was damals geschah, etwas Besonderes. Der Sex wurde
       zwar keineswegs in einem emphatischen Sinne „befreit“ – die Illusionen von
       freier Liebe für alle sind auch irgendwann im Sand verlaufen. Dafür wurden
       aber die gesellschaftlichen Normierungen der Sexualität abgeschafft. Das
       mag bloß wie eine Nuancierung klingen, aber sie ist entscheidend. Und sie
       wirkt bis heute nach.
       
       Man muss sich folgendes einmal wirklich klarmachen: Bis zur sexuellen
       Liberalisierung hat es auf vielen gesellschaftlichen Ebenen (Eltern,
       Pädagogik, Kirchen, Sexualwissenschaften) eine mit hohem empirischen und
       intellektuellen Aufwand betriebene Dauerdebatte darüber gegeben, was auf
       dem Gebiet der Sexualität als normal gelten kann – und, vor allem, was als
       unnormal beobachtet, behandelt, im Zweifel auch verboten werden muss.
       
       ## Welcher Sex ist normal?
       
       Ist Masturbation normal? Wie viel Sex ist normal? Ist sexuelles Begehren
       überhaupt normal (homosexuelles jedenfalls bestimmt nicht)? Und welche
       sexuellen Praktiken sind normal? So etwas haben sich wirklich ernsthafte
       und erwachsene Menschen tatsächlich gefragt. Und was nicht als „normal“
       durchging, galt als „pervers“.
       
       Dieser Gegensatz von „normal“ und „pervers“ ist dann aber gründlich
       geschleift worden. Dass man sich die Ausgrenzungsängste und
       Selbstbeschreibungsdramen, die mit ihm einmal verbunden waren, heute mühsam
       rekonstruieren muss, ist der eigentliche Erfolg der sexuellen
       Liberalisierung. In der Soziologie bezeichnet man das als Umstellung von
       einer sexuellen Normenmoral zur sexuellen Verhandlungsmoral: Gesellschaft
       und Staat halten sich, so weit es geht, raus aus dem sexuellen Geschehen;
       alles, was im Bett geschieht, ist okay, solange die jeweiligen Partner
       einverstanden sind. Ob man Ekstasen sucht, ob man seine Ruhe sucht – das
       ist nun Privatsache.
       
       Die Frage, wozu das Ende der sexuellen Normierungen geführt hat, ist aber
       seitdem auch Thema eines gesellschaftlichen Dauerstreits. Es ist, als ob
       man die Schönheit dieser Freiheit noch nicht recht fassen kann. Während der
       Pädophiliedebatte in der Wahlkampfzeit flackerte die These auf, dass die
       sexuelle Liberalisierung den gewaltsamen sexuellen Übertretungen gegenüber
       Kindern erst Tür und Tor geöffnet habe; als hätte es das, und zwar in
       normierten Verhältnissen unthematisiert, nicht vorher schon gegeben. Erst
       die Liberalisierung öffnete auch für die Opfer der Pädophilie die
       Möglichkeit, offen über ihre Verletzungen zu reden.
       
       Irgendwo in dieser Debatte lief die Vorstellung mit, dass eine Gesellschaft
       ohne Normen im Chaos oder auch in der reinen Machtausübung landet. Dabei
       bietet gerade die Verhandlungsmoral einen klaren Maßstab: Alles, was
       zwischen den Partnern nicht untereinander ausgehandelt wurde, ist Gewalt;
       und Kinder sind noch keine verhandlungsfähigen Subjekte, können also gar
       nichts aushandeln.
       
       ## Zweifel an der Freiheit
       
       Auch aus anderen Blickwinkeln wird die sexuelle Liberalisierung in Frage
       gestellt. Feministische und queere Stimmen bezweifeln, dass die Freiheit
       von Normen bereits erreicht wurde; sie gehen weiter davon aus, dass
       männliche und heterosexuelle Perspektiven dominant sind. Ausgehend von
       Michel Foucault gibt es daneben einen lebendigen links- und
       queerintellektuellen Diskurs: Die Liberalisierung der Sexualität ist für
       ihn nur Schein.
       
       In Wahrheit sind wir ihm zufolge einer anonymen diskursiven Macht
       unterworfen, die unsere individuellsten Verhaltensweisen durchdringt,
       unsere Lust und unser Begehren kontrolliert. Schließlich brachte Michel
       Houellebecqs Romantitel „Ausweitung der Kampfzone“ Befürchtungen auf den
       Punkt, dass durch die Abschaffung aller Normen wahre Zuneigung unter den
       Menschen abgeschafft (als Paradebeispiel dient ihm die bedingungslose Liebe
       der Großmutter) und durch kapitalismuskonforme Egoismen und
       Effizienzsteigerungen ersetzt wird.
       
       Beim konsequenten Glauben an diese Thesen hätten wir durch die sexuelle
       Befreiung das in repressiven Zeiten real dohende Gefängnis nur durch ein
       umso wirkungsvolleres diskursives Gefängnis ersetzt. Das Problem all dieser
       Ansätze ist aber: Sie denken nicht in Ambivalenzen. Sie bieten gute
       intellektuelle Werkzeuge, um Zweifel an der sexuellen Liberalisierung zu
       formulieren und ihre Problemfelder zu behandeln. Aber die Errungenschaften
       und sozialen Fortschritte im Umgang mit der sexuellen Liberalisierung
       blenden sie aus.
       
       ## Die kleinfamiliäre Lösung
       
       Diese Fortschritte gibt es aber. Dass Eltern sich auch nach der Trennung um
       ihre Kinder kümmern sollen, hat man gelernt. Und wenn man heute Berichte
       über Beziehungskämpfe der siebziger Jahre liest – oft wurden sie als
       erbitterte Kleinkriege beschrieben –, kann man selbst darin Fortschritte
       sehen. Wer sich von einer sexuellen Befreiung allerdings die Auflösung
       aller bürgerlichen Strukturen versprach, muss verarbeiten, dass sich viele
       Menschen am Ende doch für paarzentrierte oder kleinfamiliäre Lösungen
       entscheiden. Und das auch noch freiwillig.
       
       Die sexuelle Liberalisierung führte weg von vorgegebenen Normen. Aber eben
       nicht ins Chaos, sondern hin zu zwischen konkreten Partnern ausgehandelten
       Normen – also hin zu dem ambivalenten, gelegentlich anstrengenden,
       gelegentlich beglückenden Feld sexueller und emotionaler Beziehungen. Den
       weisesten Satz dazu hat Niklas Luhmann geschrieben: „Die Tragik liegt nicht
       mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinanderkommen; sie liegt darin,
       dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben
       noch von ihr loskommen kann.“
       
       Wie man mit dieser Situation umgehen soll, daran arbeiten wir uns ab. Mit
       schwankenden Ergebnissen. Immerhin klappt das alles manchmal auch,
       irgendwie. Aber sicher sein kann man sich da nie. Plopp.
       
       5 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dirk Knipphals
       
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