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       # taz.de -- Berlin vor der Großen Koalition: Wie einst in Entenhausen
       
       > Ach, die Ewigkeit. Wie schön, dass wir alle sterben. Sonst wäre das
       > politische Berlin mit all seinen vorhersehbaren Ritualen unerträglich.
       
   IMG Bild: Schlapp: Manche Politiker gleichen zurzeit eher diesem Donald
       
       Dieser Tage, wenn es so wunderbar grau und trüb ist in Berlin, erinnert
       vieles an Donald Duck. Es gibt diese Brücke, über die die Luisenstraße
       führt, darunter schlängelt sich die Spree Richtung Reichstag. Oben drauf
       vollgesaugte, schlaffe Deutschlandfahnen. Diese Brücke gibt es auch in
       Entenhausen. Donald starrt von dort in existenzialistischer Melancholie
       aufs Wasser hinab, 1952, und denkt: „Wie das rinnt und rieselt! Dahin,
       dahin! So zerrinnen die Träume, so verrauscht das Glück!“
       
       Berlin ist in den Tagen der Großen Koalition sehr entenhausig. Viele
       Charaktere erinnern an Comicfiguren, an denen das Visionäre in der Politik
       verrauscht. Das liegt weniger an ihnen, es liegt gewissermaßen am System.
       An den eingespielten Regeln, an politischen und persönlichen Zwängen,
       zwischen Parteien, in den Parteien, zwischen Journalisten, in Medien.
       
       Fast alles ist vorhersehbares Ritual: Die regelmäßigen Panikattacken der
       Wirtschaftsverbände gegen jeden Krümel mehr Sozialstaatlichkeit, die
       moralsauren Apokalypsen mancher Ökoverbände, die reflexartige, vernichtende
       Ablehnungsempörung der Opposition, die allgegenwärtigen „konstruktiven
       Gespräche“. Und überall Studien, Studien, Studien, jeder dahergelaufene
       Verband beauftragt das Irgendwas-Institut seines Vertrauens mit einer
       Studie oder einer Umfrage.
       
       Berlin hat seine eigene Presslufthammersprache mit immenser Lautstärke
       entwickelt, weil alle Ohropax im politischen Gehör haben. Brüllt also
       jemand „Standort Deutschland in Gefahr“ und hält sich dabei eine Pistole an
       die Schläfe, nimmt das politisch trainierte Gehirn etwas anderes wahr. Es
       hört: „Die Branche ist gerade über die unsicheren Rahmenbedingungen
       beunruhigt“ und sieht Sorgenfalten auf der Stirn. Falls jemand von Anfang
       an sagt, er sei über unsichere Rahmenbedingungen beunruhigt, würde ein
       normaler Mensch vielleicht denken: Verständlich, ja, muss man was tun. Das
       gedämmte Berlin-Gehirn filter den Satz als total irrelevant heraus, es
       verstünde in etwa: „Ich hab da was zwischen den Zähnen hängen. Haben Sie
       einen Zahnstocher?“
       
       Nun ist es tatsächlich so, dass sich diese Art der Dauerempörung abnutzt
       und eben vor sich hinplätschert. Eigentlich ist sie vor allem nach innen
       gerichtet, sie befriedigt das rhetorische Bedürfnis der eigenen Klientel.
       So ist das. Wenn wir jetzt schon das Ende der Geschichte erreicht hätten,
       würde es eben ewig so weitergehen. Bis sich die Sonne in 4,5 Milliarden
       Jahren aufbläht, die Erde in Gluthitze taucht und damit den Standort
       Deutschland ernsthaft gefährdet. Falls es den Spiegel bis dahin noch gibt,
       dann bekommt er die Story sicherlich exklusiv, und die taz fragt empört,
       was an einer Apokalypse denn bitte noch links sein soll.
       
       ## Die Schweinereien einer Epoche
       
       Nein, die großen Momente finden nicht innerhalb des Berlin-Biotops statt.
       Die wirklichen Visionäre finden sich woanders. Sie benennen die
       Schweinereien einer Epoche, die erst in der Retrospektive von der Mehrheit
       als Unrecht anerkannt werden: Etwa der Umgang mit den Flüchtlingen, die an
       Europas Grenzen als Naturkatastrophe, als „Ströme“ verunglimpft werden,
       vielleicht schämt man sich in 100 Jahren dafür.
       
       Eine Große Koalition muss keine Visionen entwerfen, sie muss in ihrer
       ganzen technokratischen Starre dafür sorgen, dass Einzelne frei genug sind,
       Unrecht zu benennen. Genau daran scheitert sie grandios: Der
       Überwachungswahn ist wie ein HI-Virus, der die Selbstheilungskräfte einer
       Gesellschaft zerstört. Wie naiv ist es zu glauben, dass die Freiheit, die
       wir momentan noch leben können, ewig währt? Wenigstens ein
       Problembewusstsein wäre von einer Großen Koalition zu erwarten. Sonst
       verrauscht das Glück.
       
       2 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arzt
       
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