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       # taz.de -- Bundesparteitag der Piraten: Burn-out statt Punkrock
       
       > Eine ratlose Basis kürt in Bremen den Frankfurter Piraten Thorsten Wirth
       > zum neuen Vorsitzenden. Viele Mitglieder sind ihrer eigenen Partei
       > überdrüssig.
       
   IMG Bild: Die Piraten sind keine Hallenfüller mehr.
       
       BREMEN taz | Der neue Parteichef der Piraten spricht jetzt viel von 2009.
       Er meint die gute alte Zeit, als die Piratenpartei eine kleine,
       aufstrebende Nischenkraft war. Innovativ, spaßbetont, respektlos. „Wir
       sollten uns so geben, wie wir sind“, sagt Piratenchef Thorsten Wirth. „Bunt
       und kreativ.“ Ihren Geist von einst müssten die Piraten wiederbeleben. Dann
       werde sich die nötige Eigendynamik entwickeln, um im kommenden Frühjahr ins
       Europaparlament einzuziehen.
       
       Doch bei ihrem ersten Bundesparteitag nach dem desaströsen
       Bundestagswahlergebnis in Bremen wirkten die Piraten weder farbenprächtig
       noch innovativ, sondern erschöpft und ratlos, gefangen im Klein-Klein des
       mühsamen basisdemokratischen Parteialltags. Weite Strecken der
       Großveranstaltung gab die Basis für Streitereien um Tagesordnung,
       Geschäftsordnung und sonstige formale Liebhabereien dran – ganz so, als
       hätte die Partei sonst keine Probleme.
       
       In den Europawahlkampf ziehen die Piraten mit einem vollständig
       ausgewechselten Vorstand. Prominente Figuren fehlen darin. Die zwei
       namhaftesten Piratinnen – Marina Weisband und Katharina Nocun –
       verzichteten in Bremen auf eine Kandidatur und ließen ausrichten, sie
       könnten sich die zeitraubende, unbezahlte Vorstandsarbeit momentan leider
       finanziell nicht leisten.
       
       Fünf Männer und eine Frau hatten sich in Bremen für den Spitzenposten
       beworben, zwei von ihnen schafften es nicht einmal, rechtzeitig zu ihrer
       Bewerbungsrede auf die Bühne zu kommen. Einer bezeichnete sich selbst als
       Beweis dafür, „dass der Traum von der Piratenpartei noch existiert“. Ein
       anderer, offensichtlich psychisch angeschlagen, schwadronierte zitternd von
       „faschistoiden Zuständen“ und brüllte: „In dieser Partei herrscht Krieg!“
       
       Der Nachfolger von Bernd Schlömer an der Parteispitze, 45 Jahre,
       Software-Entwickler und Referent der Piratenfraktion im Frankfurter
       Stadtrat, war wohl der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Piraten
       in Bremen verständigen konnten. Thorsten Wirth gilt als „Kerni“. So nennen
       die Piraten jenen Flügel, der sich eine Konzentration auf die
       netzpolitischen Kernthemen wünscht. Ein uneitler, kumpelhafter Typ in Jeans
       und Pulli. 2009 saß er schon einmal im Bundesvorstand, auch den hessischen
       Landesverband hat er zwischenzeitlich geleitet.
       
       ## Vage Absichtserklärungen
       
       In seinen ersten Auftritten lieferte Wirth allerdings nicht viel mehr als
       vage Absichtserklärungen. Es gehe ihm darum, „neue Ziele und Perspektiven
       aufzuzeigen“. Die Piraten stünden für „eine Wissensgesellschaft, eine
       aufgeklärte Bevölkerung“. Statt sich gegenseitig „kaputtzubashen“, solle
       sich die Partei auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen. „Motivation ist jetzt
       das Gebot der Stunde.“ Die Piraten klangen schon mal überzeugender.
       
       Statt der angesehenen Netzaktivistin Katharina Nocun sitzt im
       Bundesvorstand künftig ein Piraten-Gründungsmitglied: Björn Semrau, 35
       Jahre, ebenfalls aus Hessen. Optisch ein Klischeepirat, schwarz gekleidet
       mit Pferdeschwanz. Der neue Politische Geschäftsführer versprach den
       Piraten „Professionalität und Punkrock“. In Bremen allerdings rockte die
       Partei am Wochenende wenig.
       
       Statt mehr als 2.000 Mitglieder im Vorjahr waren nur noch etwa halb so
       viele Piraten überhaupt zum Bundesparteitag gereist. Viele Tische und
       Stühle in der Messehalle blieben leer, zeitweise war ein Drittel der Halle
       mit rot-weißem Baustellenflatterband abgesperrt. Folkloristische
       Piraten-Accessoires oder das früher obligatorische Bällebad sparten sich
       die Organisatoren ganz.
       
       ## Blass und ideenlos
       
       Es ging zweifellos mal wilder, spaßiger zu unter Piraten. Die selbst
       ernannte Mitmachpartei hat inzwischen nicht mehr nur ein
       Glaubwürdigkeitsproblem. Viele Piraten sind der eigenen Partei überdrüssig.
       Parteipromi Christopher Lauer, der seit 2011 für die Piraten im Berliner
       Abgeordnetenhaus sitzt, hatte seiner Partei vor der Großveranstaltung einen
       organisatorischen „Burn-out“ attestiert. Was er damit meinte, ließ sich in
       Bremen besichtigen. Die einst als politische Netzavantgarde gehypte Partei,
       sie wirkte blass und ideenlos.
       
       Auf eine Aussprache über die vergeigte Bundestagswahl und das Chaos des
       vergangenen Jahres verzichteten die Piraten gleich völlig. Statt seinen
       angekündigten Tätigkeitsbericht vorzutragen, verwies der scheidende
       Parteichef Bernd Schlömer die Basis auf ein Online-Protokoll im
       Partei-Wiki. Die Arbeit im Bundesvorstand habe „Spaß gemacht – mal mehr,
       mal weniger“, versicherte er knapp. Das musste reichen. Ausgerechnet den
       Piraten, die selbst über Geschäftsordnungsdetails gerne leidenschaftlich
       debattieren, fiel zu ihrer tiefsten Krise nur noch wenig ein.
       
       Schlömer verließ das Messegelände kurz nach seinem Abschiedsauftritt. Nur
       zwei Worte twitterte er zum Abschied: „.. wieder frei...“ Dahinter setzte
       er drei Zeichen: „o/“ – eine Abkürzung für Jubel. Ein vielsagender Gruß
       nach anderthalb Jahren an der Spitze der Piraten. Seinen nervenzehrenden,
       ehrenamtlichen Einsatz dankten ihm die Piraten nicht einmal mit einem
       anständigen Applaus. Auch einen Blumenstrauß hatte niemand besorgt.
       
       1 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Astrid Geisler
       
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