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       # taz.de -- Armut in Deutschland: Der Suppenküchenstaat wächst
       
       > Der Armutsforscher Christoph Butterwegge erzählt von der Umwandlung des
       > Sozialstaats. Er malt ein beunruhigendes Bild unserer gespaltenen
       > Gesellschaft.
       
   IMG Bild: Wenigstens ein Apfel.
       
       „Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir
       haben bei der Unterstützungszahlung die Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen,
       sehr stark in den Vordergrund gestellt.“ (Bundeskanzler G. Schröder vor dem
       World Economic Forum 2005 in Davos über die Hartz-IV-Gesetze.)
       
       „Ich fange einfach mal an“, sagt Herr Butterwegge und wirkt total
       entspannt: „Mit der Agenda 2010 leitete die rot-grüne Koalition unter
       Kanzler Gerhard Schröder einen radikalen Kurswechsel ein, der die
       sogenannte Lissabon-Strategie im nationalen Rahmen umsetzte. Auf dem
       dortigen EU-Sondergipfel im März 2000 hatten die Staats- und
       Regierungschefs der Mitgliedstaaten als ’strategisches Ziel‘ für das
       Jahrzehnt beschlossen und verlautbart, ’die Union zum wettbewerbsfähigsten
       und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen –
       einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum
       mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen
       Zusammenhalt zu erzielen.‘
       
       Von Beginn an wurde gelogen und beschönigt, Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld
       II, war nicht, wie das der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder so
       irreführend formulierte, ’eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
       Sozialhilfe‘, da wurde nichts zusammengelegt, die Arbeitslosenhilfe wurde
       schlicht abgeschafft! Spätestens seit den sog. Hartz-Gesetzen für ’moderne
       Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ ist feststellbar, dass die etablierten
       Parteien die Interessen der Langzeitarbeitslosen, der Armen, der
       Geringverdiener immer weniger vertreten, sonst hätten sie nicht solche
       Gesetze gemacht, wie Zeitarbeit und Leiharbeit zu deregulieren, Mini- und
       Midi-Jobs einzuführen und damit einen breiten Niedriglohnsektor zu
       schaffen.
       
       Die Prekarisierung der Lohnarbeit ist ja das Haupteinfallstor für Armut bei
       uns heute in der Bundesrepublik. Und aus dieser Erwerbsarmut wird
       automatisch Altersarmut. Altersarmut ist also das Ergebnis der
       Deregulierung des Arbeitsmarkts, der Demontage des Sozialstaats im
       Allgemeinen und der Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung durch
       Teilprivatisierung der Altersvorsorge im Besonderen.
       
       Seit der Einführung von Hartz IV im Januar 2005 hat sich nicht nur die
       soziale Ungleichheit verschärft, es wurde auch das Leistungsniveau für den
       Bürger stark abgesenkt. Die ’Reform‘ des Sozialstaats zieht zwangsläufig
       eine Pauperisierung nach sich. Zunehmend mehr Menschen werden von
       Verarmungsprozessen erfasst. Sie sind die Hauptleidtragenden dieser
       Politik, und viele wenden sich entsetzt von den etablierten Parteien oder
       überhaupt von der Politik ab.
       
       Die Verarmenden und Armen ziehen sich immer mehr zurück, schon deshalb,
       weil die Teilhabe am öffentlichen gesellschaftlichen Leben ja auch Geld
       kostet. Sie steigen auch nicht auf die Barrikaden, weil sie ganz andere
       Sorgen haben, etwa die, wie sie am 20. des Monats noch was Warmes auf den
       Tisch kriegen. Die soziale Spaltung vertieft sich zusehends, und wir kommen
       in einen Teufelskreis, der uns, wenn wir nicht aufpassen, auch eine
       Brutalisierung unserer Gesellschaft bringen wird, mit mehr Drogensucht,
       Alkoholismus, Kriminalität auf den Straßen und vielem anderen mehr.
       
       ## Die Armen gehen nicht mehr wählen
       
       Dass die Armen sich als Fremde im eigenen Land fühlen, wurde bei der
       jüngsten Bundestagswahl besonders in den westdeutschen Großstädten
       augenfällig, es zeigte sich, dass sie vielfach gar nicht mehr wählen gehen.
       Hier in Köln gab es in Hochhaussiedlungen Wahlbeteiligungen von 40 Prozent,
       in den Villenvierteln lag sie bei fast 90 Prozent. Das zeigt, wir haben
       nicht nur eine Krise des Sozialstaats, der Wirtschaft, des Finanzmarkts,
       wir haben auch eine Krise des Repräsentativsystems der repräsentativen
       Demokratie!
       
       Die sozial Benachteiligten sind derart desillusioniert, dass sie am
       politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess gar nicht mehr
       teilnehmen. Eine Demokratie sieht anders aus, Demokratie bedeutet für mich,
       dass alle Menschen, die in einem Land leben, in der Lage sind, über dessen
       Schicksal – und damit über ihr eigenes – politisch mitentscheiden zu
       können. Das können sie aber eher nicht, wenn sie hoffnungslos sind, wenn
       ihre soziale Absicherung gefährdet ist bzw. am seidenen Faden hängt, weil
       sie Angst davor haben, am nächsten Monatsende ihre Miete nicht mehr zahlen
       zu können oder dass ihnen Strom und Gas abgestellt wird, oder weil sie
       ’Transferleistungen‘ beziehen und ständig entwürdigenden Schikanen
       unterworfen sind.
       
       Woran es für die Betroffenen spürbar fehlt, ist Gerechtigkeit. Es gibt ja
       die gefühlte und gemessene Gerechtigkeit … also das möchte ich mal etwas
       genauer ausführen: Mit dem Begriff Gerechtigkeit wird zunehmend Schindluder
       getrieben. An die traditionelle Vorstellung von Gerechtigkeit wird kaum
       noch angeknüpft.
       
       Im politischen Raum sind das immer die Bedarfsgerechtigkeit und die
       Verteilungsgerechtigkeit gewesen. Bedarfsgerechtigkeit bedeutete,
       demjenigen, der durch Behinderung, Arbeitslosigkeit und ähnliche
       Zwangslagen Hilfe braucht, diese auch ausreichend zur Verfügung zu stellen.
       Aufgabe des Sozialstaats war es, die Armut zu bekämpfen und die Bürger vor
       bestimmten Lebensstandard… nein Standardlebensrisiken, zu schützen,
       Krankheit Unfall usw. – was bei uns durch die Sozialversicherungen geregelt
       ist.
       
       Und daneben gab’s die Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit, davon, dass
       die Aufgabe des Sozialstaats natürlich auch darin besteht – als dritte
       Hauptfunktion des Sozialstaats quasi –, für sozialen Ausgleich zu sorgen,
       dafür, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer tiefer wird.
       
       Das war bei den Vätern und wenigen Müttern unserer Verfassung eine ganz
       konkrete Absicht, dass sie in Artikel 20 und Artikel 28 deutlich
       reingeschrieben haben, die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer
       Bundesstaat bzw. ein sozialer Rechtsstaat. So, das beruhte auf der
       Vorstellung, es muss Verteilungsgerechtigkeit geben, also es darf der
       Reichtum des Landes sich nicht in den Händen von wenigen konzentrieren, so
       dass für die große Masse der Bürger kaum Nennenswertes übrig bleibt.
       
       Heute ist es aber genau so. Selbst der beschönigte 4. Armuts- und
       Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2013 sagt, dass die reichsten 10
       Prozent der Haushalte über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens in Händen
       halten, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 50 Prozent, nur
       über 1 Prozent des Gesamtnettovermögens verfügen darf. Über 40 Millionen
       Menschen leben sozusagen von der Hand in den Mund.
       
       Der Durchschnittsverdiener, der kein Vermögen besitzt, sondern lediglich
       nur seinen ungesicherten Arbeitsplatz, befindet sich in einer Art sozialem
       Schwebezustand zwischen Armut und Wohlstand, vom Absturz trennt ihn nur
       eine schwere Erkrankung oder die noch nicht ausgesprochene Kündigung.
       
       ## Nur Reiche könn sich armen Staat leisten
       
       Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4
       Billionen Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staats laut 4. ARB in
       den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken.
       Entsprechend sind die Auswirkungen. Es wird verkündet, man müsse ’den
       Gürtel enger schnallen‘.
       
       Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten, sie umsorgen sich
       selbst, ihre Kinder besuchen Privatschulen und ausländische Universitäten,
       sie sind auf gute staatliche Schulen und Krankenhäuser, auf öffentliche
       Schwimmbäder, Bibliotheken und sonstige kommunale Einrichtungen nicht
       angewiesen. Aus ihrer Wahrnehmung fällt die Lebensrealität eines abhängig
       Beschäftigten vollkommen heraus.“ (Heute muss ein Arbeitnehmer 45 Jahre
       lang in Vollzeit arbeiten, und das zu einem Stundenlohn von über 10 Euro,
       damit er im Alter eine Rente knapp über dem Hartz-IV-Niveau erreicht. 4,7
       Millionen Arbeitnehmer verdienen aber derzeit weniger. Anm. G.G.) 
       
       „Jedenfalls, diese beiden Vorstellungen von Gerechtigkeit, zum einen
       Bedarfsgerechtigkeit als Aufgabe des Sozialstaats herzustellen und zum
       anderen Verteilungsgerechtigkeit, die werden mehr und mehr verdrängt.
       Natürlich durch neoliberale Ideologen, ihre Thinktanks und Einrichtungen.
       Da gibt es z. B. das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln mit seinem
       Direktor Michael Hüther, der behauptet, diese Kluft zwischen Arm und Reich
       sei ein Märchen, in Wirklichkeit schließe sie sich – oder würde zumindest
       nicht größer.
       
       Das Institut der deutschen Wirtschaft hat als Lobbyeinrichtung der
       deutschen Wirtschaft natürlich ein verständliches Interesse daran, die
       soziale Ungleichheit kleinzurechnen. Da wird jetzt sehr stark die
       ’Chancengerechtigkeit‘ betont. Sie haben eine Untersuchung gemacht, bei der
       angeblich rausgekommen ist, dass die Chancengerechtigkeit die
       Teilgerechtigkeit ist, die die Deutschen am wichtigsten finden.
       
       Früher in den 70er Jahren sprach man mal von Chancengleichheit als Ziel.
       Heute nehmen nicht nur die FDP, sondern auch andere Parteien diese
       Chancengerechtigkeit in ihre Programmatik auf. Damit ist aber gar nichts
       ausgesagt, es ist so, als würde man mir und allen anderen ermöglichen, zur
       Lottoannahmestelle zu gehen und Lotto zu spielen. Dann hätten wir diese Art
       von Chancengerechtikeit.
       
       Der vorherrschende Gerechtigkeitsbegriff wurde in dreifacher Hinsicht
       transformiert: von der Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit, von der
       Verteilungs- zur Teilhabegerechtigkeit und von der sozialen Gerechtigkeit
       zur Generationengerechtigkeit, wobei dieser Begriff ablenken soll von der
       wachsenden Ungerechtigkeit innerhalb aller Generationen. Eines jedenfalls
       ist vollkommen unbestreitbar: Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn es ein
       Mindestmaß von sozialer Gleichheit gibt.
       
       Das auszublenden, dass das nicht der Fall ist, es möglichst zu verdrängen,
       ist Ziel der Propagierung von solchen neuen, modischen Vokabeln und
       Leerformeln. Sprachkritik ist auch sehr wichtig. Die Verdrehung von Worten
       und Werten, die Umdeutung tradierter Begriffe wie Gerechtigkeit,
       Gleichheit, Reform, das ist Sprachmissbrauch als politisches Instrument zum
       Zweck der ’Gehirnwäsche‘ und Vernebelung ihrer ursprünglichen Bedeutung.
       
       ## Nur Bildung reicht nicht
       
       In der Zeit des ’Wirtschaftswunders‘ in der Bundesrepublik gab es den
       Slogan ’Wohlstand für Alle‘, er stammt vom 1957 erschienenem gleichnamigen
       Buch von Ludwig Erhard. Heute ist nur noch ’Bildung für alle‘ das
       Versprechen, das die Bundeskanzlerin gibt. Dieses Versprechen, die Armut
       mit Bildung zu bekämpfen, kann vielleicht für Einzelfälle funktionieren, es
       ist aber Bildung längst kein Garant mehr dafür, dass sie ein berufliches
       Fortkommen und gutes Einkommen sichert.
       
       11 Prozent aller im Niedriglohnsektor Tätigen haben z. B. einen
       Hochschulabschluss. Selbst im öffentlichen Dienst an den Hochschulen sind
       es 80 Prozent inzwischen, die nur noch eine befristete Stelle haben. Also
       das ist ein Bereich, der ja allgemein als gesellschaftlich privilegiert
       gilt. Dennoch wird unverdrossen propagiert, es soll aus der Bundesrepublik
       eine Bildungsrepublik gemacht werden. Wer keine oder nur schlecht bezahlte
       Arbeit hat, hat eben nicht genug Bildungsanstrengungen gemacht.
       
       Tatsächlich ist es aber so, dass bei immer besserer Bildung die Jungen z.
       B. einfach nur auf höherem Niveau um die Arbeitsplätze konkurrieren,
       unbezahlte Praktika machen und dass noch mehr Taxifahrer mit
       Hochschulabschluss herumfahren.
       
       Und an den Hochschulen selbst ist die Bildung ja auch ’verschlankt‘ worden.
       Unter Bildung wird nur noch berufliche Qualifikation verstanden, die
       Hochschulen sollen in möglichst kurzen Studiengängen, sprich
       Bachelor-Studiengängen, für den Arbeitsmarkt die erforderlichen Kräfte
       produzieren. Ich habe natürlich Bachelorisierung, Masterisierung,
       Modularisierung und all das bekämpft, denn im Grunde wird die Universität
       dadurch reduziert auf eine akademische Berufsschule.
       
       Zugleich wurde die Hochschule umstrukturiert, und ich muss mit ansehen, wie
       stark auch meine Universität hier immer mehr zu einem Unternehmen gemacht
       wird. Stichwort Exzellenzinitiative. Auf dem Einzelnen lastet ein immer
       stärker werdender Druck, nur noch das an Wissenschaft zu produzieren, was
       verwertbar ist und ökonomischen Gewinn abwirft. Der Konformismus in der
       Wissenschaft ist inzwischen so groß, wie er seit den 50er Jahren der
       bleiernen Adenauerzeit nicht mehr war.
       
       Bildungsversprechen taugen nicht zur Armutsbekämfung. Und auch nicht
       Reichtumsförderung auf steuerpolitischem Gebiet. Was nötig wäre, ist eine
       Umverteilung nach unten, und zwar von Einkünften, Vermögen und auch von
       Arbeit. Arbeitszeitverkürzung wäre ein ganz wichtiger Ansatz und ebenso
       Lebensarbeitszeitverkürzung. Unabdingbar ist natürlich eine inhaltliche,
       organisatorische und strukturelle Erneuerung des sozialen
       Sicherungssystems.
       
       Wobei ich Ihnen an dieser Stelle sagen muss, ich halte nichts vom
       ’bedingungslosen Grundeinkommen‘. Das wird Sie vielleicht wundern, aber ich
       will meine Gründe darlegen, vielleicht kann ich Sie ja überzeugen: Ins
       Gespräch gebracht wurde es als Alternative zum Sozialstaat, nach dem Motto,
       wir vertrauen jetzt nicht mehr auf unsere bisherigen sozialen
       Sicherungssysteme, sondern wir lösen das, was einstmals hart erkämpft wurde
       und wie es besteht seit Bismarck, ab und ersetzen es komplett durch ein
       steuerfinanziertes bedingungsloses Einkommen. Das ist für mich
       Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, ein Grundeinkommen für alle
       Mitglieder der Gesellschaft, ob arm ob reich.
       
       ## Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Falle
       
       Hier wird das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit vollkommen auf den Kopf
       gestellt. Es gibt verschiedene Modelle, wobei das Konzept der Linken sich
       allerdings von dem der anderen unterscheidet. Einer der Hauptvertreter fürs
       bedingungslose Grundeinkommen ist Götz Werner, Milliardär und Gründer der
       DM-Drogeriemarkt-Kette, und der braucht nun wirklich kein bedingungsloses
       Grundeinkommen von 1.000 oder 1.500 Euro vom Staat. Ich als C4-Professor
       brauche es auch nicht.
       
       Die andere Sache ist aber, dass es für die, die es brauchen, eine Falle
       ist. Es wäre im Grunde ein Kombi-Lohn für ALLE. Es wäre ein eindeutiges
       Signal an die Unternehmer, das als Lohnsubvention aufzufassen. Der ohnehin
       schon ausufernde Niedriglohnsektor, in dem jetzt schon fast alle
       Beschäftigten arbeiten – über 4 Millionen Menschen arbeiten für einen
       Bruttostundenlohn von unter 7 Euro –, der würde noch breiter.
       
       Sehr deutlich ist das heute ja schon an der immer größer werdenden Zahl von
       ’Aufstockern‘. Hartz IV ist ja nicht nur für Langzeitarbeitslose, es werden
       auch 1,3 Millionen Erwerbstätige finanziert, weil ihre Einkommen so gering
       sind, dass sie ergänzend finanzielle Leistungen vom Jobcenter in Anspruch
       nehmen müssen.
       
       Und wenn man das Grundeinkommen finanzieren will, so wie Götz Werner,
       nämlich über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, dann wird das Geld beim
       Einkauf ja schon wieder aufgezehrt. Dem hält er das Argument entgegen, dass
       durch den von ihm gewünschten vollkommenen Wegfall der Einkommens-,
       Gewerbe- und Körperschaftssteuer für Unternehmer diese dann, wegen der
       finanziellen Entlastung, ihre Preise senken würden. Das ist natürlich ein
       genialer Einfall, um auch noch die letzten Verpflichtungen loszuwerden.
       
       Außerdem würde eine 50- oder 100-prozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer
       dazu führen, dass gerade diejenigen, die wenig haben, die sozial
       Benachteiligten, die jeden Cent in den notwendigen Alltagskonsum stecken
       müssen, ihr bedingungsloses Grundeinkommen auch noch selber finanzieren.
       Ich kann natürlich verstehen, dass viele, die durch Schikanen und
       Sanktionen der Jobcenter drangsaliert werden und keine ruhige Nacht mehr
       haben, nach diesem Strohhalm nur allzu gerne greifen würden.
       
       ## Licht am Ende des Tunnels
       
       Aber das Licht am Ende des Tunnels würde sich bald als Trugschluss
       erweisen, denn über das Grundeinkommen hinaus gibt es dann keinerlei
       verbürgten Rechtsanspruch mehr. Auf nichts! Es ist alles abgegolten. Die
       eigentlichen Gewinner sind wieder mal nur die Vermögenden und Unternehmen,
       die endlich von allen Abgaben befreit wären.
       
       Es ist ja heute schon so, dass nur noch Rudimente der ehemaligen Ansprüche
       der Arbeitnehmer und Arbeitslosen übrig geblieben sind. Dahinter steckt die
       Absicht, dass der Sozialversicherungsstaat in der Tradition Bismarcks mehr
       und mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat gemacht wird.
       
       Im Resultat führt das zu einer ’US-Amerikanisierung‘ unseres Sozialstaats.
       Und es führt dazu, dass den prestigebedachten Reichen die Möglichkeit
       eröffnet wird, zu spenden, zu stiften, als Mäzene aufzutreten und Almosen
       zu verteilen. Almosen übrigens, die verteilte der Sozialstaat vor seiner
       Demontage nämlich gerade nicht, weil er die Grundrechte beachten musste und
       sein Handeln auf Rechtsansprüchen beruhte. Almosenempfänger hingegen haben
       keinen Rechtsanspruch. Sie sind der Bereitschaft der Reichen ausgeliefert,
       etwas abzugeben von ihrem Reichtum.
       
       Das spiegelt auch genau dieses neoliberale und marktradikale Denken wider,
       dass das mündige Individuum im Sinne seiner Freiheit – jetzt nicht der
       Freiheit des Citoyens, sondern des Bourgeois, und diese Unterscheidung ist
       wesentlich – entscheidet, was und wofür und wem es gibt von seinem
       Reichtum. Die Bedürftigen hingegen haben die Freiheit, Wohlverhalten,
       Bescheidenheit, Fügsamkeit und natürlich auch Dankbarkeit an den Tag zu
       legen – oder auch nicht.
       
       Nein! Wofür ich plädiere, ist etwas ganz anderes: eine allgemeine,
       einheitliche und solidarische Bürgerversicherung als eine konsequente
       Weiterentwicklung des von Bismarck begründeten Sozialversicherungssystems.
       Dazu ist ein Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer
       Sozialversicherung aller Wohnbürgerinnen- und -bürger nötig. Und dadurch
       erfährt diese Bürgerversicherung auch ihre wichtigste Rechtfertigung, dass
       sie nämlich den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte
       Wohnbevölkerung einbeziehenden solidarischen Sicherungssystem verwirklicht.
       
       ## Es braucht eine Bürgerbewegung
       
       Dass nicht mehr nur Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch
       Selbständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete, Minister usf. mit ihren
       sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten zur Finanzierung der Leistungen im
       Sozial- und Gesundheitsbereich herangezogen oder ’verbeitragt‘ werden, wie
       der Fachausdruck heißt. Ich bin übrigens, das ist ein wichtiger Punkt, den
       ich einschieben möchte, nicht für den Wegfall des Arbeitgeberbeitrages,
       sondern im Sinne einer Maschinensteuer, eines Wertschöpfungsbeitrags kann
       ich mir sogar vorstellen, dass man das noch ausweitet. Jedenfalls kann ich
       mir eine solidarische Bürgerversicherung für alle geeigneten
       Versicherungszweige vorstellen, auch für die Kranken-und Pflegeversicherung
       .
       
       Und es ist doch die Frage, warum eigentlich der riesige private Reichtum
       nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt
       werden sollte. Es muss sich endlich, um das durchzusetzen, eine breite,
       möglichst alle Bevölkerungsschichten übergreifende Bürgerbewegung
       herausbilden, die solch eine Bürgerversicherung mit aller Macht einfordert
       und damit eine Umverteilung von oben nach unten ermöglicht. Und es muss
       durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung dafür gesorgt werden, dass es
       keine Armut, Unterversorgung und soziale Exklusion gibt. Bürgerversicherung
       und Grundsicherung müssen als siamesische Zwillinge gedacht werden.
       
       Diese soziale Grundsicherung muss ihren Namen aber auch verdienen. Sie muss
       deutlich über dem Niveau der heutigen Sozialhilfe liegen. Sie muss das
       soziokulturelle Existenzminimum – und zwar ohne eine entwürdigende
       Antragstellung und eine bürokratisch-exzessive Bedürftigkeitsprüfung –
       wirklich problemlos sicherstellen. Sie muss also armutsfest und
       repressionsfrei sein und eine weder durch Existenzangst bestimmte noch von
       Ausgrenzung bedrohte Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben
       ermöglichen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Modell nicht durch die
       ’Grundsicherung für Arbeitsuchende‘ im SGB II nach Hartz IV für immer
       diskreditiert ist.
       
       Mein Resümee ist: Wenn hier der Neoliberalismus mit seiner marktradikalen
       Sozialphilosophie – von der ich sage, dass sie eine politische
       Zivilreligion ist, die im Grunde alle Poren der Gesellschaft bereits
       durchdringt –, wenn die zur herrschenden Weltsicht wird, dann geht das
       einher mit einem rigiden Armutsregime, mit einer Kriminalisierung der Armen
       und Stigmatisierung der Überflüssigen.
       
       Ich halte nichts von der Verelendungstheorie, deshalb sage ich, gegen eine
       solche Entwicklung müssen sich breite Bündnisse bilden zwischen
       Arbeitslosenforen, Gewerkschaften, Kirchen, Globalisierungskritikern wie
       Attac und den vielen anderen kritischen Organisationen und Initiativen, die
       ja zahlreich existieren in diesem Land. Es gibt in der Gesellschaft so
       einen Unwillen, eine Unzufriedenheit in dem Sinn, dass man mit sich mit dem
       Status quo nicht mehr abspeisen lassen will.
       
       Ich wünsche mir eine Renaissance des Solidaritätsgedankens und die
       Schaffung eines ’inklusiven‘ Sozialstaats, der alle Lebensformen toleriert
       – nicht wie Rot-Grün einen ’investiven‘, dessen Sozialpolitik zwangsläufig
       zu noch mehr sozialer Selektion führt. Sicher, ich bin mir absolut bewusst
       darüber, mit einem inklusiven Sozialstaat ist noch lange nicht der
       Kapitalismus beseitigt, aber man hat ihn mit Sicherheit etwas erträglicher
       gemacht, fürs Erste. Das ist die Dialektik, die dem Sozialstaat innewohnt.
       Ein solcher Sozialstaat wäre aber sozusagen die vorgeschobenste Bastion
       einer Bewegung, die einen Systemwechsel anstrebt und die will, dass dieser
       Finanzmarktkapitalismus überwunden wird.“
       
       25 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
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   DIR Kluft zwischen Reich und Arm: Ein Prozent hat mehr als der Rest
       
       Derzeit gehören 48 Prozent des weltweiten Reichtums einem Prozent der
       Bevölkerung. Das zeigt eine Studie der Menschenrechtsorganisation Oxfam.
       
   DIR Hartz IV-Entscheidung in München: Kostenlose Pille statt Stigma
       
       In München zahlen Hartz-IV-Empfängerinnen selbst für ihre Verhütung –
       bislang. Doch das Geld der Betroffenen reicht dafür nicht immer.
       
   DIR Kolumne Nüchtern: Bevor die Leber aufmuckt
       
       Wer bei Alkoholismus nur an Filmrisse und Abstürze denkt, irrt. Die meisten
       Menschen mit Alkoholproblem führen ein völlig normales Leben.
       
   DIR Debatte Grundeinkommen: Jeder ein König
       
       Eine Europäische Bürgerinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen dürfte
       scheitern: Kaum ein anderes Projekt hat so viele und so heterogene Gegner.
       
   DIR Armut in Deutschland: Die Ärztin der Armen
       
       Zu Besuch bei Jenny De la Torre Castro in Berlin-Mitte. Die Ärztin hat dort
       ein Gesundheitszentrum für Obdachlose aufgebaut.
       
   DIR Bericht zur Armutsentwicklung: Mehr Arbeit lohnt sich nicht
       
       Die Armut in Deutschland nimmt weiter zu, obwohl mehr Menschen einen Job
       haben. Dabei gibt es große regionale Unterschiede, so der Paritätische
       Wohlfahrtsverband.
       
   DIR Urteil zu Leiharbeit: Keine Sanktionen für Arbeitgeber
       
       Das Bundesarbeitsgericht lehnt überraschend Ansprüche von Leiharbeitern auf
       einen Vertrag mit Langzeit-Entleihern ab. Der Bundestag muss nachbessern.
       
   DIR Sozialgerichts-Urteil wird angefochten: Hartz IV für arbeitslose Rumänen
       
       Der Leistungsausschluss erwerbsloser Rumänen verletzt das
       Gleichbehandlungsgebot, urteilt das Sozialgericht NRW. Ein Jobcenter geht
       in Berufung.
       
   DIR Mehr Arbeit, aber auch mehr Armut: Einmal unten, immer unten
       
       In Deutschland arbeiten mittlerweile 41,5 Millionen Menschen. Das sind so
       viele wie nie zuvor. Gleichzeitig steigt der Anteil der Armen.
       
   DIR Debatte Einkommensunterschiede: Die Reichen ernst nehmen
       
       Eine kleine Machtelite hat sich in Deutschland zu einer historisch
       einzigartigen Gehaltssteigerung verholfen. Das muss man nicht dulden.
       
   DIR Konzepte für die Sozialpolitik: Bremen verfestigt Armut
       
       Jedes dritte Bremer Kind ist armutsgefährdet, weil es in einer mittellosen
       Familie lebt. Eine Konferenz will deren Chancen verbessern.
       
   DIR Weltbank-Vizepräsi über Energiepolitik: „Arme sollen nicht warten“
       
       1,3 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu Energie. Das will Rachel
       Kyte ändern – zur Not auch mit fossilen Ressourcen.
       
   DIR Hirnforscherin über Folgen von Armut: „Flucht- oder Kampfverhalten“
       
       Kinder, die in Armut aufwachsen, sind als Erwachsene häufiger krank. Das
       sagt die US-Neurowissenschaftlerin Pilyoung Kim.