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       # taz.de -- Die Heimat des „Ethio-Jazz“: Als in Äthiopien der Sound explodierte
       
       > Erbebende Tanzflächen, spektakulärer Gesang: Musik aus der goldenen Zeit
       > Addis Abebas wird wiederentdeckt. Soundtracks haben zum Erfolg geholfen.
       
   IMG Bild: Mulatu Astatke bei einem Konzert mit the Heliocentrics in Barcelona, 2009.
       
       Die Produktion von Vinylschallplatten wurde in Äthiopien 1978 eingestellt.
       Durch das Verschwinden dieser Objekte endete auch vom Haptischen her eine
       ausgesprochen kreative und fruchtbare Phase in der Geschichte der
       äthiopischen Musik. Einen ersten Schlag hatte es 1974 gegeben, als durch
       einen Staatsstreich Kaiser Haile Selassie abgesetzt und ein
       neostalinistisches Militärregime die Macht übernahm.
       
       Das bis dahin blühende Nachtleben in Addis Abeba wurde mit Schließungen,
       Verboten und Razzien drangsaliert und Musik generell, vor allem dekadente
       westliche Tanzmusik, als überflüssig und unerwünscht erklärt. Diese
       Situation führte dazu, dass immer mehr Musiker und Aktivisten das Land
       verließen. Ab 1978 gehörte der äthiopische Musikmarkt schließlich der meist
       billig produzierten bzw. illegal kopierten Kassette.
       
       Die Zeit von 1969 bis 1974 aber gilt als eine wundersame musikalische
       Kreativitätsexplosion, für die es auch im globalen Kontext kaum
       Entsprechungen gibt. Durch Addis Abeba tobten Soul, Funk, Fusion und Jazz,
       hin und wieder sogar ein wenig Rock.
       
       Die Musiker bewegten sich mit größter Souveränität durch die westlichen
       Stilistiken, hielten sich jedoch keine Sekunde mit Imitationen auf, sondern
       bedienten sich dieser Stilelemente zum Erreichen höherer Ziele. Es schien
       eher darum zu gehen, dem reichen Schatz äthiopischer Musik, ihren Skalen
       und Gesangsstilistiken durch die Bereitstellung neuer musikalischer
       Umgebungen zu Diensten zu sein.
       
       ## Mulatu Astatke und die Idee des „Ethio-Jazz“
       
       Eine zentrale Figur in dieser Szene war der heute 70-jährige Komponist,
       Arrangeur, Vibrafonist und Keyboarder Mulatu Astatke, der bei etlichen
       Plattenaufnahmen als Arrangeur und Bandleader fungierte. Astatke war
       allerdings auch insofern eine Ausnahmeerscheinung, als er eine Ausbildung
       und Jahre musikalischer Praxis in Großbritannien und den USA hinter sich
       hatte. Mit 16 wurde er von seiner Familie zum Schulbesuch nach London
       geschickt, anschließend sollte er sich zum Piloten ausbilden lassen, so der
       Plan.
       
       Aber das Swinging London der frühen sechziger Jahre hatte auf ihn dieselbe
       Wirkung wie auf so viele kreative Talente. Er trieb sich mehr in Clubs und
       auf Konzerten herum als in der Schule und begann schließlich eine
       Ausbildung an der Trinity School of Music. Praktische Erfahrung sammelte er
       in den Bands des Calypso-Sängers Frank Holden und des karibischen
       Latin-Bandleaders Edmundo Ros.
       
       Mit diesem Rüstzeug wagte er einige Zeit später den Sprung in die USA, wo
       er sich zunächst am Berklee College of Music in Boston einschrieb (als
       erster afrikanischer Student überhaupt!) und später in New York an der
       Harnett National Music School weiterstudierte.
       
       Während dieser Zeit reifte seine Idee eines „Ethio-Jazz“, einer Art
       exotisierten Idee der Musik seiner Heimat, kombiniert mit modernen
       Jazz-Errungenschaften. Als Astatke 1969 nach Addis Abeba zurückkehrte,
       hatte sich die Stadt komplett gewandelt. Woran auch immer es liegen mag,
       aber sie hatte nun mehr mit dem London gemeinsam, das er einige Jahren
       zuvor kennengelernt hatte, als mit dem Addis Abeba, das er verlassen hatte.
       Miniröcke und Motorroller waren keine Seltenheit im Stadtbild, und der
       Soundtrack, der sich dazu entwickelt hatte, kam seiner Ethio-Jazz-Idee
       schon ziemlich nahe.
       
       Und als hätte die Stadt nur auf ihn gewartet, erhielt er sofort Aufträge
       als Arrangeur und Studiomusiker für den äthiopischen Zweig des
       Philips-Labels und das neu gegründete Independent-Label Amha und übernahm
       sehr bald so etwas wie die kreative Führung in der Stadt. Besonders Amha,
       die wagemutige Unternehmung des jugendlichen Abenteurers Amha Eshèté, wurde
       zur Keimzelle des neuen äthiopischen Sounds, und die rund 250
       Veröffentlichungen des Labels (größtenteils Singles) sind der Kern des
       äthiopischen Popwunders jener Jahre.
       
       1974 erschien dort mit Astatkes Album „Yèkatit: Ethio Jazz featuring Fekade
       Amde Maskal“ sozusagen der Heilige Gral des Genres: deeper psychedelischer
       Jazz-Funk mit Wah-Wah, Clavinet und perlendem E-Piano, dazu das Saxofon von
       Fekade und die Kompositions- und Arrangeurskunst Astatkes, dem es ganz
       mühelos gelingt, den Jazz- und Popkosmos um äthiopische Skalen und Rhythmen
       anzureichern.
       
       ## Ein neues Gourmetpacket für Schallplattenromantiker
       
       Das Album gehört zu einem Paket von Vinyl-Wiederveröffentlichungen, mit
       denen jetzt das französische Label Heavenly Sweetness einige Highlights des
       äthiopischen Sounds der siebziger Jahre im Gourmetformat wieder zugänglich
       macht.
       
       Und hier beginnt eine zweite historische Erzählung: Hinter allen diesen
       Reissues steckt ein Mann namens Francis Falceto, französischer Musikologe
       und Journalist, der sich Mitte der achtziger Jahre in ein Album des
       äthiopischen Sängers Mahmoud Ahmed verliebte und es schaffte, eine
       europäische Veröffentlichung beim coolen belgischen Label Crammed Discs zu
       besorgen.
       
       Es dauerte dann allerdings noch mal fast zehn Jahre, bis Falceto mit dem
       Label Buda Musique eine Heimat für eine tiefergehende Serie von
       Compilations fand, die sich der äthiopischen Musik im Allgemeinen unter
       besonderer Berücksichtigung des Funk- und Jazz-Outputs des Amha-Labels
       widmete: In der Reihe „Éthiopiques“ sind mittlerweile fast 30 CDs
       erschienen, und für seine einmalige editorische Leistung erhielt Falceto
       viel Lobpreisungen und nicht zuletzt einen Sonderpreis der Weltmusik-Messe
       Womex.
       
       Falceto steckt auch hinter den Vinyl-Editionen von Heavenly Sweetness, zu
       denen neben dem Astatke-Album drei Originalalben zählen, die anderen sind
       neue Compilations, die durch ein Retro-Artwork, das allerdings eher an
       Prestige- und Blue-Note-Cover der frühen fünfziger Jahre erinnert, den
       Schallplattenromantiker verführen möchten.
       
       ## Musik bei Jim Jarmusch
       
       Ein kleiner Schwindel, der den musikalischen Wert nicht schmälert. Zumal
       die globalen Hipster der neunziger und nuller Jahre ja auch nicht
       verzweifelt auf alten äthiopischen Funk warteten, der eher im Überangebot
       cooler Veröffentlichungen unterzugehen drohte.
       
       Und genau das wäre vielleicht auch passiert, hätte nicht Jim Jarmusch im
       Soundtrack zu seinem Film „Broken Flowers“ von 2004 Mulatu Astatkes Musik
       prominent gefeaturt. Das stieß die Tür weit auf für den heute 70-Jährigen.
       Es folgten ein Album plus Tour mit den Londoner Funk-Jazzern The
       Heliocentrics, Projekte für die Red-Bull-Academy, weitere Tourneen und
       Alben.
       
       Auf dem soeben erschienenen „Sketches Of Ethiopia“ wirkt der Meister
       allerdings etwas müde. Besonders im Vergleich mit den handverlesenen Perlen
       der Heavenly-Sweetness-Alben. Da ist etwas das namenlose 1972er-Werk des
       Saxofonisten Getatchew Mekurya, ein wilder Watz, dessen temperamentvolle
       Ausbrüche entlang äthiopischer Skalenlinien eher an Peter Brötzmann und
       Archie Shepp erinnern würden – wäre da nicht diese eigentümlich stoisch
       durchgehaltenen Backings mit mysteriöser Orgel und prominenter Bassgitarre,
       die zudem noch meistens im Dreivierteltakt gespielt werden: aber nicht etwa
       jazzig-verwaschen, sondern walzerartig streng auf „eins“ betont. Ein
       Interplay mit den Begleitmusikern findet dabei so gut wie gar nicht statt,
       womöglich hat Mekurya im Nachhinein auf die Playbacks gebrötzt.
       
       ## Eine fiebrige Intensität
       
       Noch spektakulärer sind jedoch die Gesangsaufnahmen – also die Alben von
       Mahmoud Ahmed, Tlahoun Gèssèssè und besonders Alèmayèhu Eshèté. Hier
       verbinden sich diverse äthiopische Gesangsschulen, die eine fiebrige
       Intensität und Spiritualität mitbringen, aufs Vorteilhafteste mit den
       souverän ausgeführten Funk- und Jazz-Backings. Bei Eshèté macht womöglich
       der Arrangeur Girma Bèyènè den Unterschied, der wichtigste Konkurrent
       Mulatu Astatkes in jener Zeit.
       
       Und während man bei Astatkes Vision eines „Ethio-Jazz“ mitunter denkt, dass
       er einen exotisierenden, europäisch-nordamerikanischen Blick auf
       äthiopische Musik wirft, hat man bei seinem untrainierten, aber noch
       aktiveren Kollegen Girma Bèyènè das Gefühl, dass es in erster Linie um die
       unmittelbare Wirkung geht, dass die Sänger durchdrehen und die Tanzböden
       erbeben sollen.
       
       Die Compilations „Ethiopian Soul And Groove“ und „More Ethiopian Soul And
       Groove“ enthalten noch etliche weitere dieser unaussprechlichen Namen,
       hinter denen sich oft faszinierend individuelle Gesangsinterpreten
       verbergen. Die Original-Compilation „Ethiopian Modern Instrumentals Hits“
       ist quasi ein weiteres Astatke-Album.
       
       Die gesamte Geschichte hat insofern ein Happy End, als dass die Musik
       nunmehr wohldokumentiert ist, neue Hörerkreise weltweit erschlossen wurden
       und immerhin einige der beteiligten Musiker noch mal auf den großen
       Musikmärkten des Nordens ein wenig Geld verdienen können.
       
       Nach Astatke wurde Mekurya entdeckt und zuletzt von der holländischen
       Punk-Jazz-Band The Ex adoptiert. Auch Alèmayèhu Eshèté ging mit einer
       All-Star-Band noch mal auf Tournee. Darüber hinaus werden weitere legendäre
       äthiopische Musiker aufgespürt, etwa der Keyboarder Hailu Mergia, der
       kommende Woche auch in Deutschland auftreten wird. Und jüngere Bands wie
       das Either/Orchestra aus Boston oder das schweizerische Imperial Tiger
       Orchestra versuchen, eine neue Vision eines „Ethio-Jazz“ zu kreieren.
       
       24 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
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