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       # taz.de -- 50 Jahre nach dem JFK-Attentat: Ein Mord und seine Folgen
       
       > Vor 50 Jahren wurde der amerikanische Präsident John F. Kennedy
       > erschossen. Wie hat seine Ermordung die USA verändert? Ein Blick zurück.
       
   IMG Bild: Andere redeten von Notwendigkeiten, er sprach von moralisch begründeten Entscheidungen: John F. Kennedy
       
       WASHINGTON taz | Wie stark hat die Ermordung John F. Kennedys am 22.
       November 1963 im texanischen Dallas die USA verändert? Die damals erwachsen
       waren, waren schockiert. Diejenigen, die sich 1968 als 20-Jährige in den
       Protestbewegungen für Bürgerrechte, gegen den Vietnamkrieg und für eine
       freiere Gesellschaft einsetzten, konnten sich gut an einen intelligenten
       und verständnisvollen Präsidenten Kennedy erinnern, der ihnen und ihren
       Eltern einiges abverlangte.
       
       Eine Generation weicht der nächsten. Die noch mit Kennedy
       zusammengearbeitet haben, sind nicht mehr unter uns. Der Präsident wäre
       heute 96 Jahre alt, würde er noch leben. Die Erinnerungen verblassen. Sie
       weichen rekonstruierter Geschichte, Mythen und dem übergroßen Gefühl der
       Enttäuschung unter Amerikanern, die so gern gut über ihr Land denken
       möchten.
       
       Nehmen wir an, Kennedy wäre nicht ermordet worden. Hätte er gelebt, wäre er
       ziemlich sicher mit großer Mehrheit wiedergewählt worden. Er wollte im
       Kalten Krieg zu einer Einigung kommen und die US-Truppen aus Vietnam
       zurückziehen. Innenpolitisch hatte er anfangs lange gebraucht, um einen
       Umgang mit den Forderungen der Bürgerrechtsbewegung zu finden, weil er
       weiße Wähler aus den Südstaaten nicht verärgern wollte. Doch am Tag nach
       seiner großen Rede vom 10. Juni 1963, in der er ein Ende des Kalten Krieges
       gefordert hatte, reagierte er mit einem Bekenntnis zur Gleichberechtigung
       auf die Hunde und Feuerwehrschläuche, die die weiße Polizei in den
       Südstaaten gegen die Demonstranten einsetzten.
       
       Womöglich hätte er den Wohlfahrtsstaat ausgebaut – er hatte etwas gegen die
       einseitige Ausrichtung auf maximalen Profit und eine instinktive Sympathie
       für die Arbeiterklasse. Kennedys Weg zu moralischer und politischer Größe
       wurde gestoppt, bevor er sie voll hätte entwickeln können – aber selbst in
       seinen ersten zwei Amtsjahren hatte er schon ausreichend wachsen können, um
       die Welt während der Kubakrise vor der Katastrophe zu bewahren.
       
       Sein Nachfolger, Lyndon Johnson, kam selbst aus armen Verhältnissen und
       sympathisierte mit den Afroamerikanern. Er war Protestant, Kennedys
       katholischer Ökumenismus war ihm fremd, und er hatte die moralische
       Entschlossenheit, die Welt in ihrem Zerfall aufzuhalten. Sein Einsatz für
       Bürgerrechte und Wohlfahrtsstaat ging tiefer als der Kennedys.
       
       ## Durch die Ermordung verängstigt
       
       Der Vietnamkrieg aber war etwas anderes. Johnson war offensichtlich durch
       den Mord an Kennedy verängstigt – er fürchtete, ihm könne das gleiche
       Schicksal widerfahren, wenn er sich der Außenpolitik und dem Militärapparat
       widersetzte. Er wusste ganz genau, dass das Vietnamabenteuer ein Desaster
       war, aber er führte es fort – bis er ganz sicher sein konnte, dass ihm die
       veränderte öffentliche Meinung Verhandlungen mit den vietnamesischen
       Kommunisten erlauben würde.
       
       Die Ermordung John F. Kennedys war eine Warnung an alle zukünftigen
       Präsidenten. Sie ermutigte jene, die dafür verantwortlich waren, und jene,
       die die nächsten Morde organisierten: die an Martin Luther King und Robert
       Kennedy 1968.
       
       Die Geheimdienste festigten ihre Rolle als Staat im Staate. Nixon und
       Kissinger verhandelten zynisch und oft heimlich Waffenstillstände im Kalten
       Krieg. Sie sahen ihre Feinde nicht nur in Moskau oder Peking, sondern auch
       am anderen Ufer des Potomac: in Virginia, nämlich in Langley (CIA) und
       Arlington (Pentagon).
       
       Die spannendste Kennedy-Analyse war schon geschrieben, bevor er überhaupt
       Präsident wurde. Sie stammt von einem von Kennedys Lieblingsautoren, von
       Norman Mailer. Mailer beschrieb Kennedy als Personifizierung des Neuen und
       Riskanten, als Hauptfigur bei der Verwandlung von Politik in Spektakel.
       
       Die alte Politik des vorsichtigen Austarierens zwischen ethnischen und
       religiösen Gruppierungen und ökonomischen wie sozialen Interessen wich
       einer 24-Stunden-Show. Man beachte nur die Schwierigkeiten des ernsthaften
       Moralisten Jimmy Carter und des ernsthaften Denkers Barack Obama im
       Vergleich zu den Erfolgen des Schauspielers Ronald Reagan und des
       Talkshow-Moderators Bill Clinton.
       
       ## Aufruf zum Kampf gegen Ungleichheit
       
       Die größte Folge des Attentats auf Kennedy war allerdings, dass es die
       US-Amerikaner vom öffentlichen Leben des Landes entfremdete. Kennedy und
       seine Berater waren überrascht gewesen, wie der berühmte Satz seiner
       Amtseinführungsrede, „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frag,
       was du für dein Land tun kannst!“, angekommen war: Sie hatten ihn als
       Aufruf verstanden, der ohnehin schon bestehenden moralischen Großmacht USA
       zu dienen.
       
       Die jungen Leute hingegen begriffen den Satz als Aufruf, das Land erst
       wirklich auf eine moralische Grundlage zu stellen und Ungleichheit und
       Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Tausende Junge und Alte strömten ins Peace
       Corps. Viele Tausend weitere begannen Laufbahnen im Bildungswesen, in der
       Justiz, der Medizin – nicht, um Karriere zu machen, sondern um etwas
       Richtiges zu tun.
       
       Die Spaltungen der 60er Jahre zeigten, wie wenig Gemeinsamkeiten es
       zwischen den Anhängern gradueller Veränderungen und den Anhängern radikaler
       Reformen gab. Es war der Mord an Kennedy (und die beiden folgenden), die
       viele davon überzeugten, dass das System nicht nur fehlerhaft war, sondern
       ohne Revolution überhaupt nicht zu verändern.
       
       Als sich die Aufregungen der 60er gelegt hatten, wurde eine Politik der
       kleinen Schritte, der Ordnung, der Kontinuität zum Operationsmodus einer
       Elite, die in ihrem Weitblick begrenzt war, in ihrem Ehrgeiz privatistisch
       und ihrem Wesen nach berechnend. Das Hohelied des Pluralismus ersetzte
       Kennedys Ansatz der einigen Nation.
       
       Natürlich gab es Ausnahmen, darunter der jüngste Kennedy, Edward. Als er
       heranreifte, wurde er der redegewandte und effektive Anführer jener, die
       nicht in Erinnerungen schwelgten, sondern zur Tat schreiten wollten.
       Trotzdem bildeten Frauen, Gewerkschaften, ethnische Gruppierungen,
       Friedens- und LGBT-AktivistInnen ihre eigenen Lobbygruppen.
       
       Kennedys Rhetorik wurde geklaut. Der zweite Präsident Bush und ein Klüngel
       ideologischer Ganoven stellten sich selbst als die einzigen wahren Freunde
       der Freiheit dar, bereit, US-Ideale bis ans Ende der Welt zu tragen. Die
       menschlichen Drohnen der CIA nahmen keine höhere Moral für sich in
       Anspruch: Sie taten einfach, was getan werden musste.
       
       Der ermordete Präsident sprach von moralisch begründeten Entscheidungen.
       Henry Kissinger, in Kennedys Weißem Haus nicht gern gesehen, sprach von
       Notwendigkeiten. Die folgenden Generationen nutzten Sprache zu
       technokratischer Manipulation.
       
       ## Tiefer Zweifel in der jüngeren Generation
       
       Etwa sieben von zehn US-Amerikanern glauben nicht, dass Harvey Lee Oswald
       ein Einzeltäter war. Das zeigt, wie tief das Misstrauen in unsere
       Institutionen inzwischen sitzt. Niemand bezweifelt, dass Abraham Lincoln
       von einem Südstaatler ermordet wurde – wer aber Kennedy umgebracht hat,
       beschäftigt nicht nur jüngere Generationen, sondern pflanzt ihnen einen
       tiefen Zweifel gegenüber allen nationalen Narrativen ein.
       
       Man muss nur die Blogs im Internet lesen, um zu sehen, dass die Gewalt nur
       knapp unter der amerikanischen Oberfläche liegt und immer wieder
       hervorbricht. In fieberhaften Wahnvorstellungen des Hasses wird Obama jeden
       Tag aufs Neue ermordet. Es ist dieser Hass, der von den Killern in Dallas
       1963 losgelassen wurde. Ein schleichender Staatsstreich wurde begonnen, der
       ein schreckliches Ende verspricht.
       
       Deshalb ist linke Politik in den USA – seit dem Ende der Johnson-Regierung
       1968 – insgesamt in der Defensive geblieben, obwohl es seither mit Carter,
       Clinton und Obama noch drei weitere demokratische Präsidenten gab. Den
       Sozialstaat und die bürgerlichen Freiheiten zu erhalten und Kriege zu
       verhindern, scheint übermenschliche Kräfte zu erfordern. Die Mörder haben
       auch die Hoffnung umgebracht.
       
       Übersetzung Bernd Pickert
       
       22 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
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