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       # taz.de -- Ägyptische Künstlerinnen über neuen Film: „Diesmal stehen die Hungrigen auf“
       
       > Regisseurin Hala Lotfy und Schauspielerin Donia Maher sprechen über ihren
       > Film „Coming Forth by Day“, der von Alltag und Paralyse im
       > postrevolutionären Kairo erzählt.
       
   IMG Bild: Es fehlt an Sicherheit: „Die Frauen sind die schwächsten“, sagt die ägyptische Regisseurin Halal Lotfy zur aktuellen politischen Situation in Kairo.
       
       In dem ägyptischen Spielfilm „Coming Forth by Day“ (Al-khoroug lel-nahar)
       muss eine junge Frau ihren gesamten Tagesablauf auf die Pflege ihres
       hilflosen Vaters ausrichten. In ruhigen Bildern erzählt die Filmemacherin
       Hala Lotfy von dieser Gefangenschaft in persönlichen Umständen, die
       zugleich wie eine Metapher auf die gelähmte ägyptische Gesellschaft
       erscheint. „Coming Forth by Day“ lief auf der diesjährigen Berlinale, seit
       Donnerstag ist der Film in einigen deutschen Kinos zu sehen. 
       
       taz: Frau Lotfy, stimmt es, dass Sie mehrere Jahre gebraucht haben, um
       Ihren ersten langen Spielfilm „Coming Forth by Day“ fertigzustellen? 
       
       Hala Lotfy: Das stimmt. Ich begann 2008, zuerst brauchte ich ein Jahr für
       das Drehbuch, danach ein Jahr für die Vorbereitung, ich musste ein Team
       finden, das Casting machen. 2010 haben wir gedreht, zuerst die Außenszenen,
       dann fehlte Geld für den Rest. 2011 kam die Revolution, da mussten und
       wollten wir wieder aufhören, sodass sich die Sache über einen langen
       Zeitraum hinzog. Das Drehbuch hatte zehn Seiten, ohne Dialog, es enthielt
       nur die wesentlichen Informationen, wir haben daran nichts geändert. Ich
       begann mit einer anderen Schauspielerin, wir probten sechs Monate, eine
       Woche vor dem Film bekam sie Angst. Sie sagte: „Ich bin keine gute
       Schauspielerin, ich kann das nicht, die Last ist zu schwer.“ Jemand nannte
       mir dann Donia, sie ging zuerst einmal drei Tage nicht ans Telefon, und sie
       sah damals auch nicht aus, als wäre sie geeignet für die Rolle. Ihr Gesicht
       war nicht traurig genug. Aber als ich die Kamera einschaltete, verwandelte
       sie sich.
       
       Frau Maher, haben Sie davor auch schon als Schauspielerin gearbeitet? 
       
       Donia Maher: Ich habe seit der Schulzeit Theater gespielt, und zwar so,
       dass in der Gruppe alle immer alles gemacht haben: Kostüme geschneidert,
       Kulissen bemalt, Rollen gespielt. Später habe ich dann bei der wichtigsten
       unabhängigen Theatergruppe von Kairo angefangen, dort wurde täglich fünf
       Stunden geprobt, da habe ich mir die wichtigsten Sachen angeeignet. „Coming
       Forth by Day“ ist mein erster Film, inzwischen mache ich auch selbst Regie.
       
       Frau Lotfy, Sie erzählen von einer jungen Frau, die mit ihrer Mutter den
       Vater pflegt, der vollkommen hilflos ist. Ist das auch metaphorisch
       gemeint, gemünzt auf eine Gesellschaft, die einem vor 2011 wie gelähmt
       erscheinen konnte? 
       
       Lotfy: Ausgangspunkt war die persönliche Erfahrung mit meinem Vater, er war
       auch pflegebedürftig, allerdings betreute nicht ich ihn, sondern meine
       Schwester. Diese Verzweiflung war kaum zu ertragen. Ich wollte darüber
       einen Dokumentarfilm machen, und zwar wirklich auch deswegen, weil mir die
       Situation repräsentativ erscheint: 2007, 2008 war die Situation in Ägypten
       sehr schwer, viele hatten das Gefühl, das Land war paralysiert. Ich schloss
       mich damals aber auch einer Bewegung an, die sich „We are Watching“ nannte.
       
       Was war das für eine Bewegung? 
       
       Lotfy: Sie bestand aus drei Frauen. Wir beobachteten Wahlen und politische
       Vorgänge mit der Kamera. Als ich dann mit meinem Film begann, wollte ich
       auch diese Erfahrung zum Ausdruck bringen, diese Unfähigkeit, eine
       Situation zu verändern. Ich konnte aber meinen Vater nicht filmen, das ging
       nicht, das wurde mir klar. Also entschied ich mich für einen Erzählfilm. Im
       Team gab es viele mit ähnlichen Erfahrungen, eine Set-Designerin etwa
       brachte Sachen von ihrer verstorbenen Großmutter.
       
       Der Film spielt zu großen Teilen in einer Wohnung in Kairo. Ist das ein
       Studioset? 
       
       Lotfy: Die Wohnung konnten wir nicht bauen lassen, das wäre viel zu teuer
       gewesen. Wir mussten eine passende finden, in der man von Raum zu Raum
       gehen kann, ohne immer wieder auf einen Gang hinaus zu müssen. Raum ist
       kostbar in Kairo, entsprechend lange mussten wir suchen. Es war ein Wunder,
       dass wir dann auch noch den Schauspieler für den Vater fanden. Wir konnten
       nach der Revolution nicht wieder anfangen, weil uns noch dieser
       Schauspieler fehlte. Wir suchten nach einem alten Mann, der uns dieses
       Gefühl für Sterblichkeit gibt, dazu musste er noch eine Augenkrankheit
       haben, ein Glaukom, das gibt dem Auge diesen grauen Anschein, als würde er
       weinen. Der Schauspieler musste diese Krankheit haben, und er musste den
       Eindruck erwecken, kurz vor dem Ende zu sein.
       
       Wie fanden Sie ihn? 
       
       Lotfy: Wir sahen ihn schließlich auf der Straße. Er war ein bekannter
       Journalist von der Zeitschrift Ahram-Hebdo, einer französisch-ägyptischen
       Zeitschrift, die er selbst mitbegründet hatte. Ich fragte ihn, ob er das
       Drehbuch lesen würde, er versprach es, ich machte mir gar keine Hoffnung,
       es stand ja nicht viel drin, und er sollte einen leblosen Körper spielen.
       Aber nach zwei Tagen rief er an und sagte: „Ich mache es.“ Ich fragte:
       „Warum?“ Er antwortete: „Ich mache das als Würdigung meiner Mutter, die ich
       auch so pflegen musste.“ Einen Monat nach den Dreharbeiten rief er an und
       sagte: „Der Film ist nun Wirklichkeit geworden, ich bin im Krankenhaus.“ Er
       lachte, aber es war ein schmerzlicher Moment. Er starb bald darauf.
       
       Ägypten ist ein Land mit einer stolzen Kinotradition. Ihr Film gehört
       allerdings deutlich in einen anderen Bereich, er ist unabhängig produziert.
       Welche Geldgeber gab es? 
       
       Lotfy: Bevor ich diesen Film begann, hatte ich etwas gespart von meiner
       Arbeit für Al-Dschasira. Danach bekamen wir ein Stipendium: 40.000 Dollar
       vom Arab Fund for Arts and Culture im Libanon. Weiteres Geld vom Abu Dhabi
       Film Festival kam später und ermöglichte die Postproduktion. Das Team
       arbeitete überwiegend unentgeltlich, zwischendurch kam dann immer wieder
       einmal von irgendwo ein bisschen Geld her. Es gab so viele Hindernisse, wir
       hatten riesige Zweifel, aber es hat geklappt. Unabhängige Filme sollten
       nicht wie die kommerziellen aussehen, das Starsystem sollte keine Rolle
       spielen, aber sie sollten Filme sein, das heißt: sie sollten nicht
       aussehen, als könnten Amateure das auch einfach so machen. Wir wollen das
       Publikum nicht amüsieren, sondern dazu ermuntern, sich selbst in einer
       besseren Weise zu sehen, die Selbsttäuschungen zu beenden. Die neuen
       Technologien gaben uns viel Freiheit, Geld von internationalen
       Institutionen brauchen wir vor allem auch für die Postproduktion in Europa,
       damit wir dem kommerziellen Kino zeigen, dass wir es technisch auch drauf
       haben. Inzwischen haben wir ein Kollektiv gegründet, das derzeit nicht
       weniger als zwölf Filme in Arbeit hat.
       
       Frau Maher, wie schätzen Sie die Lage in Ägypten ein? Ist die Revolution
       gescheitert, oder beginnt sie gerade erst? 
       
       Maher: Vor zwei Jahren glaubten viele nicht daran, dass wirklich etwas
       passieren würde. Wir glauben nicht an uns, das höre ich immer wieder in
       Kairo, die Leute sind schrecklich. Die Revolution hat deswegen vor allem
       die Überraschung gebracht, dass man plötzlich nicht mehr allein war. Es war
       auch ein gewisser Ehrgeiz im Spiel. Viele wollten sich vor dem tunesischen
       Volk, das angefangen hatte, keine Blöße geben. In den zwei Jahren, die
       seither vergangen sind, ist vieles nicht gut gelaufen. Vor allem die ganze
       Sicherheitssituation ist schlecht, die Frauen sind die schwächsten, sie
       bekommen am meisten ab. Wir wollten das System verändern, und das System
       ist nun schlechter als davor. Es gibt viele Leute, die nie ins Bild kommen,
       die aber alles zu ihren Vorteil wenden können. Und dennoch haben wir etwas
       gelernt: Die Islamisten hatten ihre Chance, und die Leute wissen nun, dass
       es mit den Religiösen nicht geht. Die Leute wissen auch, dass verschiedene
       Gruppen um das Land kämpfen, die einfachen Leute haben damit gar nichts zu
       tun, aber sie werden nicht ewig abwarten. Revolutionen finden bei uns oft
       im Winter statt. Ich habe auch ein wenig Angst, denn dieses Mal werden es
       nicht die Mittelklasse und die Studenten sein, die aufstehen, sondern die
       Hungrigen.
       
       Was ist erreicht worden? 
       
       Lotfy: Was wir erreicht haben, ist ein Glaube daran, dass die Leute etwas
       verändern können. Meine Generation hatte diesen Glauben nicht. Heute
       demonstrieren die Schulkinder überall, auf eine naive Weise, aber ich habe
       großes Zutrauen zu dieser Generation. Sie wissen, dass sie ein Recht auf
       ein besseres Leben haben, und sie werden nicht aufhören, bevor sie es
       bekommen haben.
       
       20 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Rebhandel
       
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