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       # taz.de -- Porträt: Ein schmerzhaftes Zurückkehren
       
       > Der 42-jährige Hamburger Schriftsteller Nils Mohl ist im sozialen
       > Brennpunkt Jenfeld aufgewachsen. Dort spielt auch sein neuer Jugendroman
       > "Stadtrandritter“.
       
   IMG Bild: Hat drei Jahre an seinem neuen Roman geschrieben: Nils Mohl.
       
       HAMBURG taz | Nils Mohl ist hier aufgewachsen, zwischen den
       Waschbetonblocks, dem Einkaufszentrum, der schmucklosen Kirche, auch sie
       aus Beton. „Eigentlich war es hier toll, Anfang der 70er: Die Plattenbauten
       waren Orte der Hoffnung“, sagt er. „Familien zogen hier hin, hatten
       plötzlich fließend warmes Wasser und man ging nach draußen und es war alles
       voller Kinder. Und erst im Laufe der Jahre merkte man, dass es Unterschiede
       gibt, besonders, wenn man zur Schule kommt.“
       
       Heute ist der Hamburger Stadtteil Jenfeld ein Synonym für den sozialen
       Brennpunkt schlechthin. Wenn irgendjemand auflisten will, wie die
       Abgehängten unserer Tage ihr Leben verbringen, dann geht man mit
       Schreibblock, Mikrophon und Kamera nach Jenfeld. Und übersieht dabei gerne,
       dass es in Jenfeld auch kleine, ruhige Straßen gibt, in denen freundliche
       Einfamilienhäuser stehen. Von diesem Jenfeld im Spannungsfeld zwischen
       vordergründiger Betontristesse und ebenso plakativer kleinbürgerlicher
       Gemütlichkeit erzählt der Hamburger Schriftsteller Nils Mohl auch in seinem
       neuen Roman, der den Titel „Stadtrandritter“ trägt. Schon sein erster
       großer Roman „Es war einmal Indianerland“ führte nach Jenfeld: mitten in
       die Sommerferien, die erste große Liebe, ein Mord geschieht. Nun sind seine
       Helden älter geworden. Und der Sommer ist vorbei, Oktober ist es, der
       Winter naht.
       
       "Jenfeld ist ein Pfund, mit dem Du wuchern musst" 
       
       Dass Jenfeld Mohls erstes großes literarisches Erkundungsfeld werden würde,
       war naheliegend. Sein damaliger Handballtrainer, heute ist er
       Bezirksamtsleiter und damit so etwas wie der Bürgermeister des Hamburger
       Stadtteils Eimsbüttel, gab ihm einst den Rat, sein Aufwachsen in Jenfeld zu
       nutzen. Er sagte zu Mohl: „Jenfeld, das ist das Pfund, mit dem du wuchern
       musst. Du bist da groß geworden; du weißt, wie es in den Treppenhäusern
       riecht.“ Mohl fand das eine Überlegung wert. Er sagt: „Letztlich ist alles
       nur eine Kulisse“ und lächelt, weil es stimmt – und natürlich nicht stimmt.
       
       Denn Mohls Jenfeld ist keine maßstabsgetreue Nachbildung seines Viertels,
       er nutzt dessen städtebauliche Markierungen, um an ihnen entlang seine
       Helden wie in Trance durch eine meist verregnete Szenerie zu schicken. Wenn
       sie am Rande einer Laubenkolonie am Rande des Öjendorfer Sees Schutz und
       Rückzug suchen; wenn sie auf der Fußgängerbrücke, die wie im echten Leben
       die Rodigallee überspannt stehen und auf ihre kleine, große Welt schauen;
       wenn man in der Ferne die Autobahn Richtung Berlin rauschen hört. Wenn die
       Betonkirche in Flammen aufgeht und plötzlich Ritter durch den Stadtteil
       ziehen, während die lockenhübsche Merle von Aue aus den Einzelhäusern
       weiterhin nicht weiß, was sie mit diesem mal kindsköpfigen, mal fast schon
       erwachsenen Silvester anfangen soll, während der zu wissen glaubt, dass es
       am Besten wird, wenn passiert, was er will. Sehr hübsch wohnt dieser
       Silvester im Wohnturm des Betoneinkaufszentrums, der „K16“ heißt, als wäre
       es ein Gipfel im Himalaya. Um die Liebe geht es also, die keine erste,
       leichte, prickelnde mehr ist, sondern eine, aus der ein Erwachsenenleben
       erwachsen könnte. Und um den Tod geht es, denn Mohls Helden haben ihre
       erste Beerdigung hinter sich und rätseln nun, was ihnen diese eigentlich
       sagen soll.
       
       Angst, nicht ernstgenommen zu werden 
       
       Es war Nils Mohl anfangs ein wenig unwohl, als er sich darauf einließ,
       fortan sogenannte Jugendromane zu schreiben: „Ich bin ja noch mit dem
       Bewusstsein groß geworden, dass man von allen Büchern, auf denen
       ’Jugendroman‘ steht, besser die Hände lassen soll“, sagt er. „Ich dachte:
       Schreibst du einen Jugendroman, nimmt dich unter den Literaten keiner mehr
       ernst.“ Und kann man nicht ab spätestens 16 jeden Erwachsenenroman in die
       Hand nehmen?
       
       Doch andererseits bietet einem die vordergründige Nische auch Schutz, gibt
       bald Sicherheit, und bei Mohl hat sich der Mut, sich aus der Literatur
       heraus auf das Feld der Jugendliteratur zu wagen, gelohnt: Erschienen seine
       ersten Kurzgeschichten in heute fast vergessenen Kleinverlagen wie Acilla
       Press oder dem Hosentaschenverlag, ist er seit 2011 beim Rowohlt Verlag
       unter Vertrag. Zugleich herrscht an literarischen Auszeichnungen kein
       Mangel: Zweimal erhielt er den Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg;
       zweimal den Literaturpreis des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR). Und dann
       als Krönung gab es für seinen Indianerland-Roman sowohl den Oldenburger
       Kinder- und Jugendbuchpreis sowie den Deutschen Jugendliteraturpreis.
       
       Drei Jahre hat er an „Stadtrandritter“ geschrieben; während dieser Zeit
       wuchs der Text auf über 600 Seiten an. Er hat sich dabei nicht gequält, hat
       nicht auf das Ende gehofft. Im Gegenteil: „Beim Schreiben noch mal jung
       sein, diese Welt von damals zu durchwandern und auch die Furcht, die
       Architektur ausstrahlt, noch mal mit Leben zu füllen, das hat mich sehr
       inspiriert.“ Wobei Mohl zugleich unumwunden zugibt, dass das Eintauchen in
       die Sphären der Jugend für einen längst Erwachsenen ohne Schmerzen nicht zu
       haben ist: „Dass mit diesem Buch die Jugend unweigerlich vorbei ist, das
       Bewusstsein, das wird es nie wieder geben, das hat mir körperlich fast
       wehgetan.“
       
       Ein Wohnwagen auf Amrum 
       
       Und natürlich gäbe es auch andere, schöne Orte, die es lohnten, dass man
       von hier aus seine Helden ins Leben schickt, wie die Insel Amrum, wohin es
       jahrelang in den Familienurlaub ging und wo wiederum heute ein Wohnwagen
       steht und auf ihn, seine Frau und die Kinder wartet: „Aber man hat nur ein
       kleines Fenster und selbst wenn ich noch 20, 30 Jahre weiterschreibe, dann
       reicht diese Zeit nicht, um alle Geschichten aufzuschreiben, die einen
       bewegen.“ Auch dass die Leser nicht mitgehen auf seine erneute Reise in das
       Reich der Jugend fürchtet er nicht: „Das Interesse an der Jugend als
       literarisches Thema wird nie aussterben, weil einen die Jugend mindestens
       einmal im Leben schwer beschäftigt. Und als Eltern dann ein zweites Mal.“
       Zugleich gäbe es wohl kaum ein anderes Feld, auf dem sich die
       existenziellen Fragen des Lebens besser stellen ließen, als im
       Übergangsfeld von Jung- und Erwachsenendasein, noch angefacht durch die
       Radikalität der Jugend. Mohl sagt: „In der Schule haben wir Camus gelesen,
       haben erfahren, dass alles sinnlos ist – das macht in dem Alter ja
       unheimlich viele Räume auf. Denn was bedeutet das und wie geht man damit
       um? Besonders, wenn man immer mehr auf den ganzen Horror zuschliddert, den
       die Großen einem da vorleben.“
       
       Mohl ist damals nach der Schule zum Studieren nach Kiel gegangen, dann nach
       Tübingen. Nach Berlin hat es ihn anschließend verschlagen, kurzzeitig auch
       nach Weimar, dann ging es wieder zurück nach Hamburg. Seine Eltern wohnen
       noch immer in Jenfeld: „Wenn ich sie besuche, ziehe ich unwillkürlich den
       Kopf ein, so klein kommt mir die Wohnung plötzlich vor.“ Neulich war er in
       Jenfeld mit Leuten vom Film unterwegs, sein Roman „Es war einmal
       Indianerland“ soll demnächst verfilmt werden, und man hatte die Idee,
       vielleicht in Jenfeld den einen oder anderen Drehort zu entdecken: „Ich
       hab’ das gerne gemacht und mich schnell gewundert, dass alles nur halb so
       spektakulär aussah, wie ich es im Kopf hatte. Die Kolonie am See etwa, die
       es tatsächlich gibt, ist längst erschlossen und ringsherum entstehen
       Neubauten.“ Er sagt das fast kopfschüttelnd: „Es ist ja alles viel kleiner,
       als man es in Erinnerung hat.“ Und: „Es gibt diese Orte, an die man sich
       erinnert und es gibt sie nicht – das zu erleben, war eine spannende
       Erfahrung.“
       
       Nils Mohl, „Stadtrandritter“, Rowohlt Taschenbuch, 2013, 682 Seiten, 14,99
       Euro
       
       14 Nov 2013
       
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