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       # taz.de -- Spielabbruch im italienischen Fußball: Die Angst vor den eigenen Fans
       
       > Drei Auswechslungen direkt nach dem Anpfiff, fünf Verletzte nach 20
       > Minuten: Ein italienischer Drittligist provoziert ein absurdes Spielende.
       
   IMG Bild: Schon wieder eine Verletzung! So ein Pech!
       
       MAILAND taz | Schon Nero griff hart durch. Im Jahre 59 unserer Zeit sperrte
       er die Gladiatorenarena von Pompeji für zehn Jahre. Anlass waren
       Zuschauerausschreitungen mit Todesfall zwischen Besuchern aus Pompeji und
       Gästen aus dem nahen Nocera.
       
       Knapp 2.000 Jahre später scheint sich in der Gegend südlich von Neapel
       wenig geändert zu haben. Als Präventions-Nero wollte sich nun der Präfekt
       von Salerno profilieren und beim Derby zwischen der Drittligamannschaft von
       Salerno und der des nur 20 Kilometer entfernten Nocera die Gästefans nicht
       ins Stadion lassen.
       
       Diese bestürmten daraufhin die Mannschaft von Nocera, das ganze Spiel nicht
       stattfinden zu lassen. „Wenn wir nicht ins Stadion dürfen, dann sollt ihr
       auch nicht gehen“, forderten sie die Spieler auf. Italienische Medien
       sprachen gar von Morddrohungen an die Adresse der Spieler. Die fühlten sich
       so unter Druck gesetzt, dass sie tatsächlich um eine Absage des Derbys
       baten.
       
       Doch die Polizei wollte mit etwa 300 Mann die Sicherheit der Spieler
       garantieren. Hinzu kamen laut Informationen von Antonio Ioele vom
       Lokalsender Radiobase FM die Salernitana-Ultras, die Straßensperren
       errichtet hatten und die Ausweise kontrollierten. „Leute aus Nocera kamen
       da gar nicht durch, abgesehen von ein paar Journalisten“, so Ioele zur taz.
       
       Anwesend waren Nocerina-Ultras aber trotzdem. Über dem Stadion kreiste ein
       Flugzeug, im Schlepptau hatte es ein Transparent mit der Aufschrift
       „Respekt für die Ultras von Nocerina“. Dieser Gruß von oben hatte Nocerinas
       Drittligaspielern wohl die letzte Lust am Derby geraubt.
       
       ## 40 Minuten später auf dem Platz
       
       Zunächst ließen sie die Anstoßzeit verstreichen und bequemten sich erst
       nach 40 Minuten auf den Platz. Dann boten sie ein nie gesehenes Schauspiel:
       In den ersten 50 Sekunden verbrauchten sie gleich alle drei möglichen
       Auswechslungen. Und auf dem Rasen sah man sie wunderbare Sturzpirouetten
       drehen. Mal machten sie das nach Ballberührung, mal gab es zuvor
       tatsächlich Kontakt mit einem Gegenspieler, manch ein Nocerina-Spieler fiel
       wie vom Blitz gefällt auch ganz von allein um.
       
       „Die Spieler haben sich vorher nicht warm gemacht und hatten muskuläre
       Probleme“, erklärte Sportdirektor Gigi Pavarese später der Presse. Das
       Umfallspiel dauerte 20 Minuten, bis so viele Spieler von Nocerina den Platz
       verlassen hatten, dass dem Schiedsrichter wegen mangelnder
       Mannschaftsstärke nichts anderes als ein Spielabbruch übrig blieb.
       Salernitana erzielte in der Zwischenzeit übrigens kein Tor, was auch nicht
       gerade für Motivation und Spielstärke der Gastgeber spricht.
       
       Nach dem Ereignis war das Geschrei sehr groß. Vom „Derby der Schande“
       sprach die Gazzetta dello Sport. „Der Fußball in Nocera ist tot, umgebracht
       von den eigenen Tifosi“, meinte Neapels Zeitung Il Mattino. Ganz so einfach
       ist die Sache aber nicht. Woher die Polizei die Erkenntnis nahm, dass das
       Provinzderby zweier 20 Kilometer voneinander entfernter Städte in der
       dritten Liga „heißer“ als die Stadtduelle der Serie A von Rom, Mailand,
       Verona, Turin oder Genua sind, bleibt unklar.
       
       Empirische Belege gibt es nicht, das letzte Derby zwischen Nocerina und
       Salernitana fand 1987/88 statt, ohne Vorkommnisse übrigens. Davor wurde
       lediglich in den 20er Jahren gespielt, als es im Fußball noch nicht einmal
       die Begriffe „Hooligan“ oder „Ultra“ gab. Und ob die Geschichte von
       Ausschreitungen in der Arena von Pompeji Alltagswissen mit
       Reenactment-Potenzial waren, darf doch bezweifelt werden.
       
       ## Umstrittene Fanausweise
       
       Dass die Fans von Nocerina das Stadionverbot als „Diskriminierung“
       auffassten, wie sie [1][in einem Kommuniqué] am Montag erklärten, erscheint
       völlig verständlich. Vor allem bei denen, die sich mit dem lange
       umstrittenen Fanausweis durch die Angabe ihrer Personalien doch das Recht
       erworben haben, an Fußballveranstaltungen jeder Art als Zuschauer
       teilnehmen zu dürfen. Der Deal lautete: Der Staat hat die Daten, die Klubs
       mögen ein Nebengeschäft mit Merchandisingaktionen machen und der Fan hat
       den Zugang. Auf dieses Recht verwiesen die Fans in ihrem Schreiben
       ebenfalls.
       
       Freilich ist Italiens Süden in mancher Hinsicht ein Raum, in dem eher
       private Gewalt denn öffentliches Recht herrscht. Die Erfahrung machte vor
       einem Monat der zu Saisonbeginn von Nocerina in die Nachbarprovinz nach
       Benevento gewechselte Felice Evacuo. Als er beim Derby seine alten Anhänger
       begrüßte, wurde er von Benevento-Ultras derart bedroht, dass er sich zu
       einem bizarren Entschuldigungsvideo im Stile stalinistischer Selbstanklagen
       gezwungen sah.
       
       Nocerinas Fans hingegen haben jahrelang zu einem Vereinspräsidenten
       aufgeschaut, dessen Vater in einem Machtkampf der Camorra ums Leben kam und
       der selbst dank zahlreicher Bestechungen von Amtsträgern – er wurde dafür
       verurteilt – zum „Zementkönig von Salerno“ aufstieg.
       
       Einen Anteil an den absurden Ereignissen hat aber auch die Lega Pro. Wegen
       einer Reform der zweigeteilten dritten Liga gibt es in diesem Jahr in der
       1. Division keinen Absteiger. Selbst der Tabellenletzte Nocerina kann am
       grünen Tisch verlorene Punkte locker verschmerzen.
       
       11 Nov 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.sportpeople.net/comunicato-ultras-nocera-inferiore/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
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