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       # taz.de -- Debatte Staatsbürgerschaft: Weg vom Blutsrecht
       
       > Die rechtliche Beziehung zwischen Staat und Bürgern ist ein Indikator für
       > die Verfasstheit von Demokratien. Problematisch sind nationalistische
       > Trends.
       
   IMG Bild: Die Einbürgerung wurde 2000 etwas erleichtert, die doppelte Staatsbürgerschaft aber weiter verhindert.
       
       Der Obrigkeitsstaat hat die doppelte Staatsbürgerschaft nie gemocht –
       insbesondere nicht für Männer, denn sie bilden die eiserne Reserve für die
       eigene Armee, und ein Staat will wissen, in welche Richtung „seine“ Männer
       im Ernstfall schießen. Wer im nationalen Denken gefangen ist, unterstellt
       Doppelbürgern mangelnde Loyalität.
       
       Mit dem Zerfall des „Ostblocks“ nach 1989 durfte man hoffen, solche groben
       militärischen und nationalen Kalküle gehörten der Vergangenheit an. Die
       Realität ist aber eine andere.
       
       Nicht nur in den östlichen, sondern auch in westlichen EU-Staaten erwachen
       die nationalistischen Bewegungen. Es werden neue nationalkonservative und
       rechte Parteien gegründet, die bereits bestehenden erhalten neuen Auftrieb.
       1999 gewann der Unionspolitiker Roland Koch die hessische Landtagswahl dank
       einer von der Bild-Zeitung orchestrierten nationalistischen Kampagne gegen
       die doppelte Staatsbürgerschaft.
       
       Das hatte Auswirkungen weit über Hessen hinaus, denn die rot-grüne
       Bundesregierung verlor mit Kochs Sieg ihre Mehrheit im Bundesrat. Mit einer
       Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft fegte die CDU
       das Thema von der Tagesordnung. Anstatt das Staatsbürgerschaftsrecht zu
       liberalisieren und die doppelte Staatsbürgerschaft zu ermöglichen, kam es
       zum faulen Kompromiss: Menschen mit zwei Pässen müssen sich bis zum 23.
       Lebensjahr für eine Staatsbürgerschaft entscheiden und auf die zweite
       verzichten.
       
       ## Ausgang ungewiss
       
       In den laufenden Koalitionsverhandlungen steht dieser Optionszwang nun zur
       Debatte. Ausgang ungewiss. Vielleicht gelingt jetzt, was mit der rot-grünen
       Reform in Jahr 2000 verpasst wurde: die Wende weg vom „Blutsrecht“.
       
       Denn die Staatsangehörigkeit kann grundsätzlich nach zwei Rechtsprinzipien
       geregelt werden. Entweder nach dem Prinzip der Abstammung – oder nach dem
       Geburtsortprinzip der Eltern. Im ersten Fall spricht man vom ius soli
       („Recht des Bodens“), im zweiten vom ius sanguinis („Blutsrecht“).
       
       In der Bundesrepublik galt von 1913 bis 2000 ein Staatsangehörigkeitsrecht
       nach dem Abstammungsprinzip: Hier geborene Kinder von Einwanderern werden
       Ausländer, auch wenn sie ihr ganzes Leben hier verbringen. Die Geschichte
       des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ist reich an solchen abgründigen
       Facetten. In den deutschen Staaten war man rechtlich immer zuerst Untertan
       eines Landesherrn beziehungsweise Bürger eines Landes, also Hamburger,
       Hesse, Preuße, Bayer. Erst in zweiter Hinsicht – kulturell und sprachlich –
       war man auch Deutscher.
       
       ## Völkische Amalgame
       
       Eine einheitliche, landesunabhängige deutsche Staatsbürgerschaft nach dem
       Prinzip der Abstammung schufen erst die Nazis mit dem Gesetz vom 5. Februar
       1934. Noch das Grundgesetz enthält im Artikel 116 eine blutsrechtliche
       Spezialität, verbunden mit einer logischen Zumutung.
       
       Während die Verfassungen aller Staaten nur Staatsangehörige und
       Nichtstaatsangehörige („Ausländer“) kennen, schuf das Grundgesetz ein
       hybriden Dritten: den „Volksdeutschen“, „anderen Deutschen“ oder
       „Statusdeutschen“, also den Abkömmling von Deutschen, die vor 100, 200 oder
       auch 800 Jahren nach Osten von dannen gezogen waren, aber dort ihr
       „Deutschtum“ angeblich weitervererbten.
       
       Das Unikat des Hybriddeutschen wurde 1949 „neu geschaffen“ (so der
       Grundgesetzkommentar von Maunz-Dürig-Herzog), um diese „Abruf-Deutschen“
       aus 1945 verloren gegangenen Gebieten und älteren Auswanderungsgegenden
       (Siebenbürgen, Wolga) eingemeinden zu können. Zu solchen Zumutungen passt,
       dass das Kapitel des Grundgesetzes, in dem die Hybriddeutschen geschaffen
       wurden, mit „Übergangs- und Schlussbestimmungen“ überschrieben ist. Der
       Normentyp, zu dem das Übergangswesen des Hybriddeutschen gehört, ist für
       Juristen denn auch „gegenstandsverzehrenden Abschmelzungsprozessen“
       ausgesetzt.
       
       Zum Abschmelzen der rassistisch-völkischen Amalgame von Recht und Biologie
       im Abstammungsprinzip bot die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr
       2000 Gelegenheit. Sie blieb ungenutzt. Die Einbürgerung wurde etwas
       erleichtert, die doppelte Staatsbürgerschaft aber weiter verhindert.
       
       Wie gut solche Entscheidungen über die Verfasstheit der Demokratie und über
       politische Konjunkturen Auskunft geben, lässt sich unterdessen in
       Frankreich erkennen: Hier galt bis 1804 und seit 1871 das ius soli, das
       Geburtsprinzip, wonach in Frankreich geborene Kinder automatisch Franzosen
       sind, unabhängig davon, woher ihre Eltern stammen. Gälte in Frankreich das
       deutsche Abstammungsprinzip, würde rund ein Viertel der Franzosen über
       Nacht zu Ausländern, unter anderem auch Nicolas Sarkozy.
       
       Lange zählte das ius soli zu den Grundlagen der Französischen Republik und
       Bürgernation, die auf Rechten und Werten beruht, nicht auf ethnischer
       Herkunft. Diese Grundlage war der kleinste gemeinsame Nenner aller
       demokratischen Parteien. Sarkozy warb im 2012 sogar mit dem Slogan: „Das
       Geburtsprinzip ist Frankreich.“
       
       ## Bis zur Ununterscheidbarkeit
       
       Der radikalnationalistische Front National aber fordert nun die Abschaffung
       des Geburtsprinzips, die Beschränkung der Einwanderung und die Verknüpfung
       von sozialstaatlichen Leistungen und ethnischer Herkunft.
       
       Und auch Jean-François Copé und François Fillon – die beiden Rivalen im
       Kampf um die Parteiführung in der konservativen UMP – kratzen an der
       Geschäftsgrundlage des demokratischen Republikanismus: Angesichts des
       Zulaufs zum FN und der Kommunalwahlen im März fordern Copé und Fillon einen
       Gesetzentwurf gegen „den automatischen Erwerb der französischen
       Staatsbürgerschaft für Kinder, die in Frankreich geboren werden“. Das
       konservative UMP-Programm soll vorsehen, alles zu vermeiden, „was heimliche
       und legale Einwanderung anzieht“.
       
       Damit nähert sich die UMP dem Front National bis zur Ununterscheidbarkeit.
       Nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa sieht es düster aus, wenn
       solche nationalistischen Trends noch mehr Schwung gewinnen.
       
       10 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Walther
       
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