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       # taz.de -- Rechtsanwalt über Überwachung: „Fremdkörper in der Demokratie“
       
       > Über 38 Jahre wurde der Bremer Publizist und Anwalt Rolf Gössner vom
       > Verfassungsschutz beobachtet. Im Interview erklärt er, warum dieser
       > seiner Meinung nach abgeschafft gehört.
       
   IMG Bild: Ein Leben mit dem Verfassungsschutz: der Bremer Jurist Rolf Gössner
       
       taz: Herr Gössner, wenn Sie laut sagen, dass Sie Rechtsanwalt sind und ich,
       dass ich Journalist bin – können wir uns dann sicher sein, nicht abgehört
       zu werden? 
       
       Rolf Gössner: Sicher kann man nie sein, aber es ist eher unwahrscheinlich.
       Das würde einen großen Lauschangriff auf mein Büro bedeuten. Aber als zwei
       Berufsgeheimnisträger, die über geheimdienstliche Arbeit reden, sind wir
       natürlich interessant für Geheimdienste wie den Verfassungsschutz (VS).
       
       Ihre Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wurde aber
       endgültig eingestellt? 
       
       2011 hat das Verwaltungsgericht Köln festgestellt: Diese über 38 Jahre
       andauernde Überwachung ist von Anfang an unverhältnismäßig und
       grundrechtswidrig gewesen.
       
       Also alles vorbei? 
       
       Das weiß ich nicht, denn das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die
       Bundesregierung hat die Zulassung der Berufung beantragt.
       
       Warum wurden Sie überwacht? 
       
       Meines Erachtens liegt der Einstieg schon im Jahr 1968, als ich in den
       Hoch-Zeiten des kalten Krieges eine polnische Freundin hatte und mehrfach
       in Polen war. Im Übrigen wurden mir berufliche Kontakte zu angeblich
       „linksextremistischen“ oder „linksextremistisch beeinflussten“
       Organisationen zum Vorwurf gemacht, wie der DKP, der Vereinigung der
       Verfolgten des Nazi-Regimes oder dem Verein Rote Hilfe. Das nenne ich
       „Kontaktschuld“.
       
       Sie waren selbst in keiner dieser Gruppen? 
       
       Nein. Das BfV hat argumentiert, ich sei ganz bewusst in keine
       „extremistische“ Organisation eingetreten, um meine Glaubwürdigkeit als
       vermeintlich unabhängiger Experte zu wahren. Das ist Inquisition. Egal was
       man macht: Man ist verdächtig.
       
       Macht Sie das wütend? 
       
       Das würde bedeuten, dass ich mir Illusionen gemacht hätte. Wer den VS seit
       den 50er-Jahren kennt, weiß, dass seine Geschichte die von Skandalen und
       Bürgerrechtsverletzungen ist.
       
       Daher fordern Sie seit Langem dessen Abschaffung? 
       
       Ja, wie die meisten Bürgerrechtsorganisationen in Deutschland. Dazu haben
       wir vor Kurzem ein Memorandum veröffentlicht und das auch direkt im BfV in
       Köln abgeliefert – durch alle Sicherheitsschleusen hindurch.
       
       In dem Amt, dass Sie über 38 Jahre lang beobachtet hat? 
       
       Für mich hatte das fürwahr eine pikante biografische Note, dort
       aufzutauchen und den BfV-Präsidenten damit zu konfrontieren. Wir haben ihm
       erklärt, warum sein Amt schädlich ist für die Demokratie und Bürgerrechte.
       
       Verfassungsschützer gegen Verfassungsschützer? 
       
       Wenn man so will – letztere bitte in Anführungszeichen.
       
       Sie sind 2007 zum stellvertretenden Richter am Bremer Staatsgerichtshof
       gewählt worden – trotz Ihrer Überwachung. Hatte die keine Folgen? 
       
       Doch: Als Anwalt konnte ich das Mandatsgeheimnis nicht gewährleisten,
       manche Mandanten sind deshalb abgesprungen. Als Publizist gab es Probleme
       mit dem Informantenschutz. Ich schreibe ja seit Jahren auch über
       Geheimdienste. Unter diesen Bedingungen heikle Recherchen durchzuführen,
       ist gefährlich und aufwendig.
       
       Inwiefern? 
       
       Whistleblower aus Sicherheitsbehörden mussten befürchten, aufzufliegen,
       wenn sie mit mir Kontakt aufnehmen. So hatte ich mich etwa mit einem
       Informanten aus einer Polizeibehörde im Café getroffen. Da wimmelte es
       bereits von dunklen Gestalten. Er kannte seine Pappenheimer, ihre
       Verhaltensweisen deuteten auf Polizeispitzel. Da half nur noch zu fliehen.
       
       Der niedersächsische VS überwachte die Journalistin Andrea Röpke. Als sie
       darüber Auskunft verlangte, wurden die Einträge gelöscht … 
       
       Ein Skandal! Die Einträge hätten lediglich gesperrt werden dürfen. Nach den
       Skandalen um die Schreddereien der NSU-Akten allemal. Die Löschung ist
       nicht zu rechtfertigen mit der Behauptung, die Daten seien löschungsreif
       gewesen.
       
       Sie meinen, es war Vertuschung? 
       
       Im Ergebnis ja. Wobei gerade das zum Geheimdienstgeschäft gehört:
       Desinformation aus Geheimhaltungsgründen und Vertuschung der eigenen
       Machenschaften – ein wahres Verdunkelungssystem.
       
       Viele VS-Behörden streben nach mehr Transparenz. Auch Bildungs- und
       Öffentlichkeitsarbeit steht auf dem Programm. 
       
       Transparenz und Geheimdienste – das ist ein Widerspruch in sich. Es kann
       auch nicht Aufgabe eines Geheimdienstes sein, das gesellschaftliche
       Bewusstsein zu beeinflussen. In einer Demokratie darf Geheimdiensten kein
       Aufklärungs- oder Bildungsauftrag zustehen.
       
       Bremen will nach dem NSU-Skandal Konsequenzen ziehen. Der Entwurf eines
       neuen Verfassungsschutz-Gesetzes liegt auf dem Tisch. 
       
       Der Entwurf zieht nur sehr halbherzig Konsequenzen, wagt sich jedenfalls
       nicht an die problematischen VS-Geheimstrukturen.
       
       Soll nicht immerhin die Kontrolle durch das Parlament verstärkt werden? 
       
       Richtig: Durch die Parlamentarische Kontrollkommission und die
       G10-Kommission …
       
       … die etwa über Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit von Abhöraktionen und die
       Einsätze von V-Leuten entscheiden soll … 
       
       … und die damit vollkommen überfordert sind. In der Kontrollkommission sind
       wenige, vielbeschäftigte Abgeordnete. Sie arbeiten geheim und dürfen nicht
       darüber reden. Eine geheime Kontrolle ist keine demokratische Kontrolle.
       
       Wie steht es mit gerichtlichen Kontrollen? 
       
       Das Geheimhaltungssystem umschlingt auch die Justiz. Ich habe es in meinem
       eigenen Verfahren erlebt: Um meine über 2.000-seitige Personenakte, die zu
       80 Prozent geschwärzt ist, freizubekommen, musste ich ein
       Parallel-Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht anstrengen – ein
       sogenanntes „In-Camera-Verfahren“, als ein Geheimprozess. Rechtsstaat?
       Fehlanzeige. Diese Geheimbehörden sind Fremdkörper in der Demokratie: Sie
       sind intransparent, schwer kontrollierbar, neigen zu Willkür und
       Machtmissbrauch.
       
       Sollte man dann den Einsatz von V-Leuten nicht erst recht stärker
       kontrollieren? 
       
       Das V-Leute-System bekommt man auch mit stärkerer Kontrolle nicht in den
       Griff. V-Leute stammen aus den jeweiligen Szenen. Im gewaltbereiten
       neonazistischen Bereich ist klar, dass es gnadenlose Rassisten und
       kriminelle Neonazis sind. Der VS verstrickt sich zwangsläufig in kriminelle
       Machenschaften.
       
       War der VS auf dem rechten Auge blind? 
       
       Ich spreche von ideologischen Scheuklappen, von Ignoranz und systematischer
       Verharmlosung des Neonazismus. Das ist auch ein Erbe aus den
       antikommunistischen Zeiten des kalten Krieges, in denen der Fokus einseitig
       auf „Linksextremismus“ und Kommunismus gerichtet war, später dann ab 9/11
       auf den „islamischen Extremismus“ und internationalen Terrorismus.
       
       Entsteht ohne den VS keine Sicherheitslücke? 
       
       Nein. Der VS ist selbst ein Sicherheitsrisiko – seine Gesinnungsschnüffelei
       verletzt Bürgerrechte. Der Schutz vor Gewalt und Straftaten ist Sache von
       Polizei und Justiz. Die haben Möglichkeiten, im Vorfeld strafbarer
       Handlungen und zur Abwehr von Gefahren tätig zu werden, was man kritisieren
       kann und was jedenfalls eine intensive Kontrolle erfordert. Alles andere
       ist meines Erachtens Sache von Politik und Zivilgesellschaft.
       
       Die Trennung von Geheimdiensten und Polizei war eine Konsequenz aus dem
       Nationalsozialismus. 
       
       Diese Trennung ist wichtig, um eine unkontrollierbare Machtkonzentration
       der Sicherheitsapparate zu verhindern. Allerdings erleben wird eine
       ständige Aufweichung dieses Gebots. So darf auch die Polizei
       nachrichtendienstliche Mittel anwenden und mit gemeinsamen Abwehrzentren
       und Anti-Terror-Dateien wurde die Trennung in Teilen ganz über den Haufen
       geworfen.
       
       Die Idee einer „wehrhaften Demokratie“ gilt als Reaktion auf die
       Wehrlosigkeit der Weimarer Republik … 
       
       Will heißen: Hätte es damals einen VS gegeben, wäre die Geschichte anders
       verlaufen? Kaum zu glauben, denn der wäre so rechts gewesen, wie Justiz
       oder Polizei, die durchsetzt waren von Erzkonservativen und den Nazis den
       Weg bereiteten. Die Weimarer Republik scheiterte nicht an extremen Rändern
       der Gesellschaft, sondern an ihrer Mitte. Auch heute gilt: Der Rassismus in
       der Mitte der Gesellschaft wird vom VS ignoriert.
       
       Nach den Skandalen um NSU und NSA lässt ein lauter Aufschrei auf sich
       warten. Ist in Zeiten sozialer Netzwerke die Privatsphäre nicht mehr
       wichtig? 
       
       Doch, das ist sie, wenn sie auch im digitalen Zeitalter längst einen
       anderen Stellenwert hat. Die ungeheure Dimension geheimdienstlicher
       Überwachung der Privatsphäre, der digitalen Durchleuchtung ganzer
       Gesellschaften wirkt abstrakt, erzeugt Ohnmachtsgefühle. Aber sie stellt
       alle Betroffenen unter Generalverdacht, führt zu massenhafter Verletzung
       von Persönlichkeitsrechten, stellt die Demokratie insgesamt in Frage.
       Deshalb brauchen wir endlich eine gesamtgesellschaftliche Debatte über
       Geheimdienste in Demokratien. Das Diktat der Geheimdienste muss gebrochen
       werden.
       
       Den kompletten Themenschwerpunkt "Brauchen wir den Verfassungsschutz?"
       finden Sie in unserer gedruckten Wochenendausgabe am Kiosk oder [1][hier]
       
       1 Nov 2013
       
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