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       # taz.de -- US-kanadischer Friedenspark: Friedlich ziehen die Grizzlybären
       
       > Eine Reise zum Waterton National Park, einem Teil der großen Wildnis an
       > der Grenze zwischen Kanada und den USA. Die Region ist ein wichtiger
       > Korridor für Wildtiere.
       
   IMG Bild: Grizzlybär mit Nachwuchs beim Fische fangen.
       
       Autokino in Waterton geht so: Man setzt sich in der Dämmerung in einen
       Allradwagen, fährt aus dem kleinen Ort hinaus, vorbei an den Pferdeställen
       und in den Feldweg hinein. Dann stellt man sich an den Straßenrand zu all
       den anderen Autos. Und wartet. Bis die Elche aus dem Gebüsch kommen und auf
       der Prärie grasen. Dann steigen alle aus, mit Kameras in der Hand. Wenn es
       dunkel wird, fährt die Kolonne wieder zurück.
       
       Waterton, eine kleine Gemeinde an einem großen See, liegt in Alberta. Der
       Ort und sein Nationalpark sind eine Durchgangszone, ein Korridor, und zwar
       im doppelten Sinn, für Menschen und für Tiere. Denn der Waterton Lakes
       National Park bildet zusammen mit dem Glacier National Park auf der
       angrenzenden US-amerikanischen Seite seit 1932 einen International Peace
       Park.
       
       Der Friedenspark gilt als Symbol der Völkerverständigung, die bis heute von
       den Bootsführern auf den Ausflugsschiffen beschworen wird.
       
       Unser Schiff zuckelt gen Süden. Ein See wie ein Fjord, Nadelbäume begrünen
       das steile Ufer, Berge stapeln sich bläulich bis zum Ende des Sichtfelds.
       Hier leben Hirsche, Elche, Luchse, gut 60 Säugetier-, 250 Vogel- und 6
       Amphibien-, 4 Reptilien- und 24 Fischarten.
       
       Nach einer knappen Stunde legt das Schiff in den USA an. Passkontrollen
       gibt es hier nicht. Man landet allerdings im unwegsamen Glacier National
       Park, bevölkert von Wölfen und von Grizzlybären. Für die Natur würden
       ohnehin keine Grenzen gelten, sagt der Bootsführer. Wer abends am Ortsrand
       von Waterton Elche beobachtet, mag dieser Bemerkung gern Glauben schenken.
       Es ist aber komplizierter, vor allem, was die Grizzlys betrifft.
       
       Diese großen nordamerikanischen Bären brauchen viel Platz. Sie leben außer
       in Alaska in Gebieten auf einer Süd-Nord-Achse vom Yellowstone, dem
       weltweit ersten Nationalpark, bis zum Yukon Territory. Eine US-kanadische
       Naturschutzorganisation nennt sich danach: Y2Y, Yellowstone to Yukon, und
       setzt sich für den Erhalt der Wildnis ein. Das Schlüsselwort lautet
       hierbei: Korridore. Damit die Tiere zirkulieren können, damit ihr Genpool
       variantenreich bleibt, müssen sie zwischen den einzelnen Regionen wandern
       können.
       
       Und da gibt es sehr wohl Grenzen, wenn auch Ländergrenzen nicht das Problem
       sind, sondern Highways, Siedlungen und das Heben von Bodenschätzen wie der
       Ölsande in Alberta. Zwar gelten die Rocky Mountains um den Waterton-Glacier
       International Peace Park als Grizzly-Gebiet, doch der Korridor ist zu klein
       für große Säugetiere. Um das ökologische Gleichgewicht zu sichern, sollen
       zusätzlich jene Gebiete geschützt werden, die an Nationalparks angrenzen.
       Wie etwa das Flathead-Stromtal, wegen seiner Artenvielfalt Serengeti des
       Nordens genannt, das westlich des Waterton Parks liegt und als wichtige
       Wildnis-Pufferzone gilt.
       
       ## Der Godall der Grizzlys
       
       Aber wer will denn Grizzlys hier haben zwischen Ranches, einem Nationalpark
       und Orten wie Waterton? Grizzlys! Mit diesen Bären kennt sich niemand so
       gut aus wie Charlie Russel. Man geht nicht zu weit, nennt man Russel den
       Godall der Grizzlys. Dabei ist der 71-Jährige eigentlich Rancher, seine
       Familie lebt seit gut hundert Jahren hier, was sehr lange ist – für Weiße.
       Sein Vater war außer Rinderzüchter auch Tierfilmer, 1961 drehte er einen
       Film über Grizzlybären in Alaska, Charlie Russel war dabei.
       
       Wir treffen ihn auf einer Anhöhe mit Blick auf sein Land. Russel erinnert
       sich an die Zeit dieses Films: „Damals wurden viele Grizzlybären getötet,
       sie galten als sehr gefährlich.“ Er aber fand, der Grizzly sei ein
       friedliches Tier, „die Geschichten über die Gewalttätigkeit der Tiere
       schienen mir nur zur Heldenbildung von Typen mit Gewehren zu dienen“. Er
       wollte auf seiner Ranch mit den Bären koexistieren, doch die wurden von den
       anderen Ranchern gejagt. „Ich habe in 20 Jahren kein einziges Rind
       verloren“, sagt Russel.
       
       Er wollte untersuchen, wie Mensch und Bär friedlich miteinander leben
       könnten. „Ich wollte viele Bären“, sagt der weißhaarige große Mann. Und so
       reiste er auf ziemlich gerader Linie nach Westen, in eine der unwegsamsten
       Regionen der Erde auf der anderen Seite des Pazifiks: nach Kamtschatka.
       Zwölf Jahre lebte er dort, dreht Filme, schrieb Bücher über Bären, „die vom
       Menschen noch nicht gejagt und eingeschüchtert waren“.
       
       ## Unbekannte Bären
       
       In ruhigem Ton erzählt Russel, wie nahe er den Grizzlys kam, wie furchtlos
       sie einander begegneten. Danach gefragt, wie sich Urlauber verhalten
       sollten, die nun im Waterton National Park Bären begegneten, schiebt er
       sich die große Brille auf der Nase zurecht und hält sich mit Ratschlägen
       zurück. „Ich kenne die Erfahrungen dieser Tiere hier nicht. Vor diesen
       Bären würde ich mich in Acht nehmen.“
       
       Wir kennen uns nicht aus mit Bären. Und so stehen unsere Ohren ähnlich
       spitz in die Höhe wie die unserer Pferde, als wir am Ufer des Lake Waterton
       ausreiten. Wir gewinnen Höhe, blicken über wogendes Gras, folgen einem
       Pfad, wir reiten in Reihe hintereinander. Bis unsere Guide plötzlich die
       Hand hebt: „Bär links.“ Sie hatte uns schon erzählt, etwas weiter vorn, am
       Golfplatz, würden oft Bären gesehen. Die hätten sich an Golfer gewöhnt. So
       wie die Hirsche in Waterton an die Dorfbewohner.
       
       Jeder hier hat eine Geschichte über Bären auf Lager. Sollte nun der Bär
       neben dem Reitpfad unsere Bärengeschichte werden? Er lässt sich nicht
       stören, und genau das irritiert unsere Reitguide. Erst als wir richtig Lärm
       machen, springt der Bär überraschend schnell auf einen Baum zu und schaut
       zu uns herüber. Wir reiten in einem Bogen an ihm vorbei. Das war unser Bär.
       
       ## Immobilienpreise explodieren
       
       Waterton liegt mitten im Nationalpark, weil die Häuser schon standen, als
       der Park ausgerufen wurde. Heute wird dort nichts mehr gebaut. Beth
       Russel-Towe, eine gut 60-jährige weißhaarige Frau, hatte ihr Haus vor
       vielen Jahren für 50.000 Dollar gekauft. Heute gibt es nichts unter einer
       halben Million. Das ist die falsche Politik, sagt Barney Reeves, seit 14
       Jahren Bürgermeister und emeritierter Professor. „Die Gemeinde stirbt aus,
       im Winter leben hier 22 Menschen, nur alte Leute.“ Saisonkräfte müssen
       pendeln, weil sich keiner ein Haus leisten kann. „Wir wollen, dass der
       Staat günstige Wohnungen für Familien baut.“
       
       Barney Reeves, 72, hat Archäologie, Geologie und Philosophie mit
       Schwerpunkt Metaphysik studiert. Seine Familie kam 1887 hierher. Reeves
       erinnert sich, dass zu seiner Kindheit auch im Winter 400 Leute in Waterton
       wohnten. Und noch früher lebten an den Ufern des Sees noch mehr Einwohner.
       Schon vor 18.000 Jahren siedelten hier die ersten Menschen.
       
       Reeves packt eine Kiste mit Pfeilspitzen aus. Er dreht sie in den Händen,
       weist auf besondere Schlagtechniken hin und auf das Gestein. „Vieles davon
       wurde eingehandelt, das stammt aus Montana. Damals brauchte man keinen
       Friedenspark, der Kontinent war grenzenlos.“
       
       ## Vier Tage ohne Nahrung
       
       In der Mythologie der Blackfoot-Stämme kam Napi, der Schöpfer der Erde,
       genau hierher, um den Blackfoot zu helfen, und kehrte dann über einen Berg
       am See wieder zur Sonne zurück. Für jemanden wie Reeves sind das nicht bloß
       Geschichten. Es gebe Visionen in vielen Kulturen, man denke an Moses auf
       dem Berg Ararat. Visionen seien dann gültig, wenn sie von der Gemeinschaft
       als solche akzeptiert würden. Die Blackfoot fuhren auf Floßen auf den See
       hinaus, vier Tage ohne Nahrung, manche kamen zurück, „die konnten wirklich
       – wie Moses – das Wetter beeinflussen“, sagt Reeves.
       
       Die größte Veränderung in den letzten Jahren habe „9/11“ gebracht, so
       Reeves. Seit den Anschlägen werde das Konzept des Friedensparks unterhöhlt.
       „Man konnte im Glacier National Park ungehindert wandern. Heute streifen
       dort Patrouillien zur Terrorismusbekämpfung herum. Absurde Vorstellung:
       Terroristen, die tagelang mit Rucksack und Zelt wandern, um in die USA zu
       gelangen.“
       
       Reeves erzählt von Trommeltänzen und Gesängen der Blackfoot. Wir sitzen am
       Ufer des Waterton Lakes, stellen uns vor, wie die Melodien einst über den
       See wehten, den Floßen nach zu den jungen Männern auf der Suche nach
       Spiritualität. Und nach großen Hirschen und Bären.
       
       2 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Schaefer
       
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