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       # taz.de -- Überwachung und Terrorismus: Algorithmus Allah
       
       > Es kann jeden treffen. Das Individuum existiert in der Logik der
       > Überwachung nicht. Darin ähnelt sie der Logik des Terrorismus.
       
   IMG Bild: Individuen? Gibt's hier nicht.
       
       Für die Demokratie ist es eine großartige Nachricht: Es gibt keine
       Privilegien für die Mächtigen. Angela Merkel wird vom amerikanischen
       Geheimdienst NSA ebenso abgehört wie du und ich. Aber warum freut sich dann
       niemand?
       
       Vielleicht, weil Angela Merkel nichts von einer Terroristin hat. Viele
       Deutsche finden die Kanzlerin nett. Sie backt Streuselkuchen. Wenn es nette
       Streuselkuchenbäckerinnen (und nun sogar auch Päpste) treffen kann, dann
       kann es doch jeden treffen. Oder?
       
       Es kann jeden treffen. Was wir aus den Snowden-Enthüllungen über die Praxis
       der westlichen Geheimdienste wissen, bestätigt das. Möglichst lückenlose
       Überwachung wird angestrebt, und wo ein Dienst das nicht selbst darf, hilft
       ein befreundeter aus.
       
       Aus dieser Perspektive ist jeder Mensch also ein potentieller Schuldiger.
       Wir sind ein Kollektiv von Verdächtigen, ein Ameisenhaufen, ein
       bedrohliches Wimmeln. Das Individuum, eigentlich die Grundlage einer
       modernen demokratischen Gesellschaft, existiert in dieser Draufsicht nicht.
       
       Ironischerweise hat die Überwachung damit einen grundlegenden Mechanismus
       mit dem gemein, vor dem sie die Menschen in den USA und der Europäischen
       Union vorgeblich beschützen soll: dem Terrorismus.
       
       ## Ein Kollektiv von Feinden
       
       Der Terror, mit dem sich die USA – und damit irgendwie wir alle – im Krieg
       befinden sollen, verbreitet Angst nicht allein durch die schiere Opferzahl.
       Terror ist immer auch Kommunikation. Und eine Kernbotschaft des Terrors von
       al-Qaida und ähnlich ausgerichteten Terror-Organisationen heißt: Es kann
       jeden treffen. Denn für uns seid ihr – der Westen, die Ungläubigen – ein
       Kollektiv von Feinden.
       
       New Yorker Hochhäuser, spanische Züge, Londoner U-Bahnen, die
       Marathonstrecke von Boston – das waren einst Orte, wo sich Menschen sicher
       fühlten. Dann flogen die Flugzeuge ins World Trade Center, explodierten die
       Bomben. Selbst in Deutschland, obwohl bisher ohne solche Attentate, wurde
       diese Botschaft verstanden. Das sozialwissenschaftliche Institut der
       Bundeswehr veröffentlichte 2011 eine Studie derzufolge sich 42 Prozent der
       Befragten vor Anschlägen fürchteten, über 70 Prozent waren im gleichen Jahr
       in einer Befragung von ARD und Infratest dimap der Meinung, es werde auch
       in Deutschland Anschläge geben.
       
       Wir sind überall, sendeten die selbsternannten Glaubenskrieger. Und die
       Staaten, die sich angegriffen sehen, sendeten zurück: Wir auch.
       
       Geheimdienste tendieren auch ohne Anschläge dazu, so viel wie möglich über
       echte und vermeintliche Gegner und Gegnerinnen zu sammeln. Aber das Diffuse
       des Terrors – dein Nachbar kann ein Schläfer sein – verschaffte ihnen eine
       viel stärkere Legitimation. Gegen das wahnhafte Streben der Attentäter und
       ihrer Hintermänner, ihre angeblichen Feinde auszumerzen, setzten die
       Dienste eine ebenso angeblich unhinterfragbare Überzeugung: Für eure
       Sicherheit müssen wir alles wissen. Was letztlich wiederum bedeutet: Jeder
       muss überwacht werden.
       
       Am deutlichsten senden die Dienste ihre Botschaft in den Ländern, wo die
       Drohnen fliegen. In Pakistan zum Beispiel hängen Überwachung und Tod
       unmittelbar zusammen. Wer als Feind identifiziert wird, stirbt. Die Folgen
       lassen sich im Report „Living under drones“ nachlesen, viele befragte
       Pakistani hatten andauernde Angst. Die Furcht, es könne jederzeit so weit
       sein.
       
       ## Die Drohung gilt für alle
       
       Vergleiche sind keine Gleichsetzungen. In Deutschland, in den USA sterben
       keine Menschen durch Überwachung. Aber die Fälle, in denen jemand zwischen
       die Fronten des angeblichen „Kriegs gegen den Terror“ geraten kann, nehmen
       zu. Die Drohung, es könne jeden treffen, mag eigentlich für Terroristen
       bestimmt gewesen sein. Inzwischen hören sie auch andere. Nämlich alle, die
       von den Snowden-Enthüllungen lesen. Die Berichterstattung über beide
       Phänomene unterliegt diesem Dilemma: Die Berichte sind notwendig, sie
       machen aber auch die Botschaften von Terroristen und Überwachern stärker.
       
       Und es gibt Menschen, die bereits die nächste Stufe erlebt haben, die
       strafende Hand des Überwachungsstaates. Bekannt werden derzeit vor allem
       Berichte von Leuten, die wissen, wie sie sich Öffentlichkeit verschaffen:
       Bollywood-Star Shah Rukh Khan – stundenlang an einem Flughafen nahe New
       York verhört. Der Schriftsteller Ilja Trojanow – Einreiseverbot in die USA.
       Der Musiker und Journalist Johannes Niederhauser – in den USA verhört und
       nach Europa abgeschoben.
       
       Trojanow weiß nicht, warum er nicht einreisen durfte, Niederhauser
       schreibt, keine Ahnung zu haben, was ihm vorgeworfen wird. Wie auch. Der
       Kausalzusammenhang – ich habe etwas falsch gemacht, deshalb bist du hinter
       mir her – ist von gestern. Diesem Prinzip folgt Überwachung nur noch
       bedingt. Wie Terror haftet ihr und ihren Folgen heute stattdessen etwas
       Schicksalhaftes, Unhinterfragbares an. Eine geheime, über allem stehende,
       unberechenbare Macht.
       
       Islamistische Terroristen machen bei ihren Feinden ein Verhalten aus, das
       nicht ihren Vorstellungen entspricht: Wer trinkt Alkohol? Wer macht sich
       westlicher Dekadenz schuldig? Wer ist demzufolge der Feind? Ihr Gott,
       Allah, den viele andere Gläubige als friedlich ansehen, dient ihnen als
       Chiffre für das Aufspüren und Ahnden von Abweichungen. Die Normen setzen
       sie.
       
       ## Ein Kollektiv Überwachter
       
       Auch die NSA sucht in ihren riesigen gesammelten Datenmengen nach
       Abweichungen vom angenommenen Normalverhalten. Für das Spionageprogramm
       Prism tun das Algorithmen, Roboter aus Software.
       
       Schon die Rasterfahndung nach der RAF funktionierte nach diesem Prinzip.
       Damals in den 1970ern fragten die Ermittler nach folgender Abweichung: Wer
       bezahlt seine Stromrechnung bar und unter falschem Namen? Sie
       beschlagnahmten die Kundendateien von Stromwerken, suchten alle Barzahler
       heraus und glichen diese unter anderem mit Melderegistern und
       Versicherungsunterlagen ab. Wer dort nicht gefunden wurde, hatte offenbar
       einen falschen Namen angegeben. Und war damit ein potenzieller Terrorist.
       Neu ist das Vorgehen also nicht, aber leistungsfähige Software und bis noch
       vor Kurzem unvorstellbare Speicherkapazitäten lassen komplexere Abgleiche
       und Korrelationen zu.
       
       ## Wer soll dagegen schon ankommen?
       
       Der Unterschied: Terror ist die Waffe der Unterlegenen. Dem Algorithmus
       Allah und seinen Vollstreckern fehlen die Rechenkapazitäten und die Macht,
       um weltweit eine ähnliche Kontrolle aufrechtzuerhalten, wie es die USA und
       ihre Verbündeten können. Diese Macht wird dadurch noch stärker, weil die
       großen monopolartigen Kommunikationskonzerne wie Facebook und Google ihre
       Datenmengen mit den Überwachungsdiensten – freiwillig oder nicht – teilen.
       Welch eine Allianz, wer soll dagegen ankommen? Die Frankfurter Allgemeine
       Zeitung fragte bereits: Halten sich die Geheimdienste für Gott?
       
       Gott war die Kontrollinstanz für den Menschen, bis er von diesem selbst und
       seinem Gewissen abgelöst wurde. Überwachung ist die perfekte Kombination
       aus beidem – für den normalen Menschen undurchschaubare Macht plus
       Selbstkontrolle. Überwachung und Terror säen beide Unsicherheit. Welches
       Verhalten ist richtig, welches falsch? Menschen stellen ihr Leben aus
       Furcht vor Vergeltung um: Sie meiden bestimmte Plätze oder Veranstaltungen,
       sparen sich Witze oder Kunstwerke, die das Risiko bergen, ein
       bombenbepackter Muslim könne sich eines Tages dafür rächen.
       
       Und Menschen, die Angst vor Überwachung haben, lesen bestimmte Texte im
       Internet nicht, schauen Videos nicht an – der Überwacher könnte es später
       gegen sie verwenden. „Chilling Effect“ heißt das im Fachjargon,
       vorauseilender Gehorsam, Schere im Kopf.
       
       Bisher jedoch ist von einer paralysierten Gesellschaft angesichts von
       Terror und Überwachung noch nicht so viel wahrzunehmen. Es überwiegt
       Gelassenheit und Gleichmut. War doch klar, dass die Geheimdienste alles
       überwachen, heißt es dann nach neuen Snowden-Enthüllungen. Von dieser
       Coolness berichteten Medien auch nach den Anschlägen auf die Londoner
       U-Bahnen. Damals hieß es, die Briten seien durch die IRA eben Terror
       gewöhnt. Und diese Gelassenheit hat sogar etwas Gutes: Wer nicht einfach
       nur schockiert ist, kann noch nachdenken. Noch handeln.
       
       2 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Schulz
       
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