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       # taz.de -- Fotografin über Obdachlosen-Reportage: „Ich hatte Schwellenangst“
       
       > Ein halbes Jahr lang hat Heike Ollertz in einem Hamburger Obdachlosenasyl
       > fotografiert. Und fragte sich: Was kann ich zeigen - und was nicht?
       
   IMG Bild: So diskret wie möglich: Heike Ollertz fotografierte im Hamburger Obdachlosenasyl "Pik As".
       
       taz: Frau Ollertz, Sie haben sechs Monate lang das Leben in der Hamburger
       Obdachlosenunterkunft „Pik As“ dokumentiert. Was ging Ihnen durch den Kopf,
       als Sie zum ersten Mal dort waren? 
       
       Heike Ollertz: Es war im Winter, im Dezember, es standen nicht sehr viele
       Leute draußen, weil es eben sehr kalt war, aber ich hatte schon
       Schwellenangst – Angst, über die Schwelle zu treten. Die hat auch eine
       ganze Weile angehalten, sodass ich gar nicht wusste, ob ich das schaffe:
       fotografisch, emotional und ob ich den Zugang zu den Menschen bekomme.
       
       Wie sind Sie vorgegangen? 
       
       Ich habe erst einmal lange mit Tobias Barta gesprochen, einem der
       Sozialarbeiter, damals kommissarischer Leiter des Hauses. Er hat mir alles
       gezeigt, wir hatten ein sehr offenes Gespräch. Vom Träger des „Pik As“, dem
       städtischen Unternehmen Fördern und Wohnen, habe ich mir das Okay geholt,
       dass ich bei meinen Bildern freie Hand habe, denn ich wollte auf keinen
       Fall, das mir hinterher jemand sagt, was ich zeigen darf und was nicht. Das
       war dann unsere Vereinbarung: „Ich komme hierher, um umgeschönt zu zeigen,
       was ist; aber ich möchte euch unterstützen.“
       
       Und die Bewohner? 
       
       Natürlich habe ich alle Bewohner, die ich fotografiert habe, vorher
       gefragt. Und ich habe auch von allen eine schriftliche
       Einverständniserklärung, wo auch genau erklärt wird, in welchem Rahmen die
       Bilder gezeigt werden.
       
       Sie sagten, Sie waren unsicher, ob Sie es fotografisch hinbekommen würden. 
       
       Zum einen ist Sozialreportage überhaupt nicht mein Schwerpunkt. Ich mache
       viele Reisegeschichten und Portraits für Magazine, da werde ich nicht
       häufig mit sozialen Konflikten konfrontiert. Zum anderen hatte ich einen
       Konflikt mit mir selbst: „Was kann ich wie zeigen?“ Ich habe mich dann
       entschieden: Ich nehme nur vorhandenes Licht und nach Möglichkeit kein
       Stativ, um so beweglich und unauffällig wie möglich zu sein. Ich wusste
       anfangs auch nicht, ob ich es schaffe, die Nähe zu den Menschen
       auszuhalten. Gut, Nähe ist jetzt vielleicht ein zu großes Wort, aber wie
       würde es sein, vielleicht absolut betrunkenen, vollgedröhnten,
       psychiotischen Leuten zu begegnen, die vielleicht rumschreien, und das auch
       noch zu fotografieren?
       
       Gab es Szenen, in denen Sie nicht fotografiert haben? 
       
       Die gab es und das hat mich sehr beschäftigt, weil ich Menschen in
       Situationen gesehen habe, in denen ich kein Foto machen wollte – und
       unsicher war, ob das falsch ist. Weil ich mich gefragt habe: „Würde eine
       gute Bildjournalistin jetzt nicht ein Foto machen?“ Nur – ich fand es nicht
       richtig!
       
       Ein Beispiel? 
       
       Einmal saß da einer vor mir in einem so jämmerlichen Zustand, es war wie
       ein Abziehbild eines Obdachlosen, es hat die Härte und die Konsequenz von
       einem Leben auf der Straße auf den Punkt gebracht. Aber ich habe es nicht
       gemacht ...
       
       Was war das Besondere? 
       
       Sein Zustand. Und dann hatte er diese schweren, braunen Stiefel an, saß da
       und allen Ernstes klappt der Schuh vorne hoch, die Sohle hatte sich gelöst
       und man sah den blanken Fuß – im Winter. Das war schon fast kitschig.
       
       Ein Stillleben. 
       
       Genau. Aber der Mann war in einem wirklich erbärmlichen Zustand, total
       psychiotisch, eingepinkelt, abgemagert und betrunken. Ich hätte ihn fragen
       können, ob ich ihn fotografieren darf, er hätte vielleicht Ja gesagt und
       womöglich hätte er mir das auch unterschrieben. Aber er hätte bestimmt
       nicht gewusst, worauf er sich da einlässt. Und mir war klar: Das mache ich
       nicht! Kurze Zeit später hat der „World Press Photo“-Gewinner Paul Hansen
       in einem Interview einen sehr schönen Satz gesagt: „Die besten Bilder sind
       oft die, die wir nicht machen.“ Das war für mich die wichtigste Erkenntnis
       in diesem Arbeitsprozess: zu verstehen, dass es manchmal besser ist, Bilder
       nicht zu machen.
       
       Neben den Porträts haben Sie auch viele Bilder von Details gemacht: Blicke
       in Räume, auf Wände … 
       
       Räume und Wände waren spannend: Man kann an dem, was die Leute noch haben
       oder womit sie sich umgeben, unheimlich viel erzählen. Was sie an die Wand
       pinnen, obwohl sie nur eine Tüte mit ihren letzten Sachen haben, das
       erzählt viel über ihre Lebenssituation.
       
       Gibt es Fotos, die Sie gemacht haben, aber nun nicht zeigen? 
       
       Die gibt es. Einmal habe ich bei der Entlausung fotografiert, da kam ein
       externer Obdachloser, der meinte: „Macht bitte mal was, die Viecher
       nerven.“ Er war ziemlich angetrunken, er hatte unter der Jeans eine lange
       Unterhose an, sitzt da, relativ breitbeinig, raucht eine Zigarette und du
       siehst: Die Unterhose ist total gelb, weil sie so eingepinkelt ist. Das
       Foto habe ich gemacht, aber ich zeige es nicht. Ich zeige eines, wo er
       sitzt, aber man sieht das nicht. Und dann gibt es Fotos von Beinwunden, die
       einfach schlimm sind: Offene Beine sind ein großes Problem im „Pik As“ und
       ich finde es wichtig, das auch zu zeigen. Und es gibt ein solches Bild,
       aber es ist eine Totale, keine Großaufnahme. Eine Großaufnahme mag mehr
       schocken, aber sie erzählt auch nicht mehr als ein Blick von weiter weg.
       Einmal allerdings habe ich eine Großaufnahme gemacht: auf Wunsch des
       Krankenpflegers, für die Ärztin.
       
       ## „Pik As – 100 Jahre Nachtasyl“: bis 8. November, Hamburg, Freelens
       Galerie. Das Buch zur Ausstellung kostet 20 Euro. Es ist erhältlich in der
       Buchhandlung in den Hamburger Deichtorhallen oder unter
       
       1 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Keil
       
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