URI: 
       # taz.de -- Ferner Osten Russland: Schenken und Nehmen
       
       > „Nicht ein Rubel bleibt hier oben hängen“, sagt Wladimir Sujew. Der Ferne
       > Osten Russlands bleibt sich selbst überlassen. Eine Reise mit der
       > Eisenbahn.
       
   IMG Bild: Im September trat der Grenzfluss Ussuri über die Ufer. Das gab Anlass für Gerüchte über die expansionsfreudigen Chinesen.
       
       CHABAROWSK/ KOMSOMOLSK taz | Jian, Seiran und Meilin amüsieren sich
       prächtig. Die drei Chinesinnen sind für einen Tag über die russische Grenze
       nach Chabarowsk gekommen. Zum ersten Mal sind sie beim Nachbarn im Norden
       zu Besuch. Die jungen Frauen können kein Russisch, aber Wadim gibt sich
       alle Mühe, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
       
       Der 30-Jährige sitzt neben ihnen in einer Bar auf dem
       Murawjew-Amurskij-Boulevard, der Flaniermeile der Hauptstadt des russischen
       Fernen Ostens. Mit einem Dutzend Wörtern Englisch webt Wadim an einem
       Freundschaftsband. Die Studentinnen belohnen ihn mit einem hinreißenden
       Lächeln und fotografieren den russischen Hünen wieder und wieder.
       
       Im Fernen Osten ist Fremdes eigentlich suspekt, Freundschaftsbande sind
       selten. Seit die ersten russischen Kolonisten im 17. Jahrhundert in die
       Wildnis vordrangen, ist der Osten Grenzland geblieben. Eine riesige
       Landmasse zwischen Baikalsee und Stillem Ozean, die nur oberflächlich
       erschlossen wurde. Überall lauerten Feinde, echte und eingebildete, mal
       gerieten Japaner ins Visier, mal Amerikaner, mal Chinesen, aber auch
       Europäer oder die vielen indigenen Völker. In den 1930er Jahren versuchte
       die Sowjetunion, die Region endgültig zu unterwerfen. Rohstoffe lockten,
       von denen Russland bis heute lebt.
       
       Wadims private Annäherungsversuche liegen im politischen Trend, den der
       Kreml im 6.000 Kilometer entfernten Moskau vorgibt. „Wenn Russland sich von
       Europa überprüft fühlt, intensiviert es seinen Drang nach Asien“, meinte
       vor achtzig Jahren Prinz Lobanow-Rostowsky. Und das ist heute wieder der
       Fall. Russland, das sich vom Westen missachtet fühlt, macht Peking Avancen.
       Bereits im Jahr 2007 machte es dem Nachbarn ein symbolträchtiges Geschenk.
       Russland trat eine Flussinsel im Grenzfluss Ussuri an China ab, um die
       beide Mächte 1969 fast einen Krieg begonnen hätten. Eine Novum angesichts
       imperialer Raumlogik, die Größe in Quadratkilometern misst – und ein Symbol
       neuer Zweisamkeit.
       
       Ob Chinas Hunger nach Land damit wohl schon gestillt ist, fragen sich viele
       Russen im Fernen Osten. Misstrauisch beobachten sie den mächtigen Nachbarn.
       Die Boulevardpresse in Chabarowsk argwöhnt gar, dass Chinesen im Spätsommer
       die Staudämme geöffnet hätten, um das Land der Russen vorsätzlich zu
       fluten.
       
       ## Ein Meter hoher Rampenunterschied
       
       Die Menschen in Chabarowsk wirken abgerissen. Ihre Gesichter sind grob und
       verhärmt. Sie könnten Nachfahren jener Häftlinge sein, die im 19.
       Jahrhunderts hierher in Strafkolonien verfrachtet wurden. Auf dem Bahnhof
       wird die Einfahrt des Zuges nach Komsomolsk am Amur ausgerufen. Die
       Reisenden stürmen los, hasten mit dem Gepäck fünf Treppen hinauf zur
       Brücke, die zu den Bahnsteigen führt, und wieder hinab. Sie wuchten,
       stöhnen und schwitzen. An Rolltreppen ist nicht zu denken. Die „Plattform“,
       der Bahnsteig, liegt zu ebener Erde. Wer in den Waggon steigt, muss einen
       Meter Höhenunterschied überwinden. Kein Reisender nimmt daran Anstoß.
       Zivilisatorisch war der Ferne Osten nie eng mit dem russischen Kernland
       verwoben. Für das Zentrum blieb die Peripherie Kolonie. Darüber täuschen
       auch Großprojekte nicht hinweg, mit denen Moskau schubweise die Region
       nutzbar zu machen versuchte.
       
       Das gigantischste Vorhaben wurde in den 1930er Jahren in Angriff genommen:
       der Bau einer zweiten West-Ost-Durchquerung des endlosen Raumes, der
       Baikal-Amur-Magistrale, kurz BAM, die vom Nordzipfel des Baikalsees bis an
       den Pazifischen Ozean führen sollte. Sie verläuft ein paar hundert
       Kilometer weiter nördlich fast parallel zur Transsibirischen Eisenbahn.
       Vordergründig war die BAM zur Entlastung der Transsib gedacht, tatsächlich
       ging es den Planern um strategische Überlegungen: Im Konfliktfall hätte
       China die einzige unmittelbar an der Grenze entlangführende russische
       Nachschubader kappen können.
       
       Zwangsarbeitslager entstanden neben der geplanten Trasse. Das Unternehmen
       wurde jedoch nach Fertigstellung einiger Teilstücke Anfang der 1950er Jahre
       vorläufig eingestellt. Zwanzig Jahre später sollte der Weiterbau dann der
       lahmenden Begeisterung für den Sozialismus neuen Auftrieb verleihen. Hier
       auf der Großbaustelle sollte sich die Nation von Neuem erfinden. Sibirien
       war kurzzeitig Synonym für Zukunft geworden.
       
       ## Das ewige Provisorium
       
       Der Zug von Chabarowsk braucht eine Nacht bis Komsomolsk, der
       sozialistischen Musterstadt und Rüstungshochburg der dreißiger Jahre. Mit
       35 Stundenkilometern zuckelt der Fortschritt durch die Taiga. An den
       Haltestellen warten Händler auf Lieferungen und fahren mit ihren Autos
       direkt an den Zug heran. Nur wenige Stationen besitzen befestigte
       Bahnsteige. Kaum jemand steigt zu, zu sehen sind überwiegend alte zahnlose
       Männer. Viele Häuser der Siedlungen entlang der Bahnstrecke stehen leer
       oder sind verfallen. Von acht Millionen Einwohnern im Fernen Osten sind
       seit dem Ende der Sowjetunion 1991 nach offiziellen Angaben zwei Millionen
       dem Leben im ewigen Provisorium entflohen.
       
       Doch nicht jeder kann sich einen Umzug leisten. Die Jüngeren suchen
       unterdessen nach Lösungen, die früher nicht denkbar waren. Der 34-jährige
       Orthopäde Alexei hat mit Freunden in China eine Arztpraxis eröffnet. Es sei
       dort einfacher und billiger als in Chabarowsk, wo er nur noch eine Wohnung
       unterhalte. „Selbstständig in China ist inzwischen ein Trend“, sagt Alexei.
       
       ## Alternativ zur EU
       
       Derzeit ist ein neuer Wiederbelebungsversuch des Fernen Ostens im Gang. In
       Chabarowsk richtete der Kreml ein eigenes Ministerium für den Fernen Osten
       ein, und auch die russische Staatseisenbahn investiert wieder in die BAM.
       Hinter der Passhöhe in der Nähe von Wysokogornaja, das zwischen Komsomolsk
       und dem Pazifikhafen Vanino liegt, hat die russische Bahn einen neuen
       Tunnel durch das Sichote-Alin-Gebirge getrieben und Ausweichgleise anlegen
       lassen. Moskau will den Frachtverkehr ausbauen, um Russland stärker in den
       ostasiatischen Wirtschaftsraum zu integrieren – als Alternative zur EU.
       
       Der mit Pomp eröffnete Tunnel und die Passhöhe sind nach Arsenij Kusnezow
       benannt, einem Bauingenieur des Stalinschen Geheimdiensts NKWD. Auch eine
       Bergstation trägt seinen Namen, und Wladimir Sujew, Direktor des
       BAM-Museums in Komsomolsk, führt ihn ehrfurchtsvoll im Munde. An den
       Tunnelausgängen schlängeln sich Treppen zu Wachtürmen hinauf.
       Stacheldrahtverhaue schirmen die Anlage ab. Das Grundmisstrauen gegenüber
       Peking ist hier – trotz Annäherung Moskaus – mit den Händen zu greifen. Auf
       diesem Humus gedieh der Heros des Grenzsoldaten.
       
       Dass es Gulag-Häftlinge waren, die in dieser Wildnis buchstäblich Berge
       versetzten und zu Tausenden umkamen, streitet Sujew nicht ab, hört es aber
       nicht gern. „Wir wissen, wo jeder Tote liegt.“ Die Opferzahlen seien aus
       politischen Gründen übertrieben worden, meint der Bahnveteran. Er war einer
       jener Enthusiasten, die in den siebziger Jahren dem Lockruf des Sozialismus
       folgten und an die Baustellen der BAM zogen. Indem wir die Natur verändern,
       verändern wir uns selbst, hieß die Losung damals.
       
       ## Marodierender Braunbär
       
       Von Enthusiasmus ist in Wysokogornaja, dem beim Ausbau der Trasse besondere
       Bedeutung zukommt, nichts zu spüren. Die Straßen der Eisenbahnersiedlung
       sind nicht asphaltiert. Die Häuser gleichen Absteigen, die noch in der
       1980er Jahren in tausend Meter Höhe als unverputzte Rohbauten hingestellt
       wurden. Angeheiterte Jugendliche hängen auf dem Spielplatz vor dem Bahnhof
       herum. Es gibt in dem 5.000-Seelen-Ort kein Kulturhaus, kein Kino, nicht
       einmal eine Disco. Die einzige Abwechslung ist der marodierende Braunbär,
       vor dem ein Aushang am Dorfladen warnt.
       
       Den 29-jährigen Sergei hat es für drei Jahre hierhin verschlagen. Der
       Eisenbahner aus Chabarowsk muss sein Studium hier abarbeiten. Gefällt es
       ihm? Er lächelt gequält und erzählt von seiner schwangeren Frau. Soeben hat
       die Geburtsstation des Krankenhauses geschlossen. Auch andere Abteilungen
       könnten folgen, vermuten Umstehende. Wer einen Arzt braucht, muss eine
       Nacht mit dem Zug nach Komsomolsk fahren.
       
       Nicht nur die Menschen zieht es fort, auch die Rohstoffe. Mehrmals täglich
       rollen kilometerlange, mit Holz beladene Güterzüge Richtung Vanino an der
       Küste. Das Holz wird hier oben in den Bergen geschlagen. „Nicht ein Rubel
       bleibt hier hängen“, schimpft der Kommunist Sujew. Er fühlt sich vom Staat
       verraten. Früher hätte der Ort sogar einen eigenen TV-Sender gehabt. Heute
       droht der Holzunternehmer den Forstarbeitern mit Entlassung, wenn sie
       höhere Löhne verlangen. Chinesen würden ihren Job übernehmen. Kapital kennt
       kein Vaterland.
       
       Der Historiker Karl Schlögel hat den Fernen Osten als „Raum der
       Unzuständigkeit“ charakterisiert. Viele nutzen ihn, doch niemand trägt
       Verantwortung. Wirft er nichts mehr ab, wird er sich selbst überlassen.
       Unterdessen wird in Vanino der Hafen für die steigenden Exporte
       modernisiert. Zweihundert Hektar Hafengelände soll sich schon Gennadi
       Timtschenko gesichert haben – ein Oligarch und alter Freund Wladimir
       Putins.
       
       3 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
       ## TAGS
       
   DIR Russland
   DIR Wladimir Putin
   DIR Russland
   DIR Russland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Anti-Terrorkampf in Russland: Sippenhaft wie zu Zeiten Stalins
       
       Auch Angehörige und Freunde mutmaßlicher „Terrorristen“ sollen bestraft
       werden können. Damit will der Kreml vor der Olympiade 2014 für Ruhe sorgen.
       
   DIR Kommentar Ultranationalisten in Russland: Zu den Klängen von „Hakenkreuz“
       
       Russlands Nationalismus ist schlimm. Doch der moralisch überhebliche Westen
       ist nicht besser. Es braucht gute Vorbilder statt erhobene Zeigefinger.
       
   DIR Modernisierung in Russland: Pimp my Bahn
       
       Ausbau von Eisenbahnstrecken, eine neue Autobahn – Russland will seine
       Infrastruktur aufpolieren. Das wird nicht nur teuer, sondern auch
       schmutzig.