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       # taz.de -- Lou Reed ist tot: Die Stromstöße zurückgegeben
       
       > Biest und Heiliger: Als Frontmann von Velvet Underground und dann solo
       > hat Reed wie keiner vor ihm der Rockmusik Krach und Düsternis geschenkt.
       
   IMG Bild: See you on „The Wild Side“. Lou Reed – hier in Spanien, in Santiago de Compostela, 2004.
       
       „Lou 3 an Lou 8 – Hallo!“ So lautete ein Eintrag von Lou Reed in sein
       Notizbuch, während er sich auf Geheiß seiner Eltern 1959 einer
       Elektroschockbehandlung im Creedmore State Psychiatric Hospital von Long
       Island/New York unterziehen musste. Acht Wochen, drei mal wöchentlich
       dauerte diese Prozedur. Kein ungewöhnlicher Vorgang für die USA der späten
       Fünfziger Jahre, wo die sogenannte „Lobotomie“ Standard war, um mit
       „verhaltensauffälligen“ oder „schwererziehbaren“ Kindern und Jugendlichen
       fertig zu werden.
       
       Reeds jüdische US-Mittelschichts-Eltern wollten, dass ihr damals
       17-jähriger Sohn von seinen Stimmungsschwankungen kuriert wird. Er sollte
       kein Außenseiter in der Vorstadt werden. Sollte seinen homosexuellen
       Neigungen absprechen. Wie wir wissen, hat das nicht funktioniert. Seine
       größte Leidenschaft galt schon damals dem Rock'n'Roll. „Das bedeutet, Musik
       hören, die deine Eltern nicht mögen, sich so anziehen, dass es deinen
       Eltern nicht gefällt,“ sagte er später in einem Interview.
       
       Und die Stromstöße, die man Lewis Allan Reed als Jugendlichen ins Gehirn
       jagte, gab er später als Lou Reed mit seiner E-Gitarre doppelt und dreifach
       wieder zurück. Eine ganze eigene Art, Gitarre zu spielen, mit
       tiefergestimmten Saiten und einem spartanischen, aber treffgenauen
       Klangbild. Nicht zu vergessen seine sonore Stimme, die von Anfang an sehr
       erwachsen und abgeklärt klang und auch in den Abgründen angelte, die andere
       ausließen. Den launischen, ja konfrontativen Kurs seiner Jugend hat Reed in
       allen Phasen seiner Musikerkarriere beibehalten, sich mit Journalisten
       angelegt, gelegentlich sogar mit den Fans. Ein Biest.
       
       Bevor er 1964 tatsächlich im New Yorker Brillbuilding als Songschreiber für
       die Plattenfirma Pickwick in Lohn und Brot stand, besuchte er die Uni und
       traf auf einen Gleichgesinnten, den Gitarristen Sterling Morrison, mit dem
       er später bei Velvet Underground spielen sollte. Auf dem College begann
       Reed sich intensiv für die Welt der Literatur zu begeistern, verschlang die
       Romane von William S. Burroughs, Krimis von Raymond Chandler und die
       Gedichte der Beatpoeten. Er wurde zum Schüler des Dichters Delmore
       Schwartz, belegte seinetwegen einen Kurs in Creative Writing. All das trug
       später Früchte.
       
       Seine Rock'n'Roll-Leidenschaft lief parallel weiter, Reed spielte schon um
       1962 in Bands. Bob Dylan wurde sein erklärtes Vorbild, nachdem er ihn 1963
       live gesehen hatte. Wie jener machte auch Reed Erfahrungen mit
       Rauschmitteln, fuhr regelmäßig nach New York, um Konzerte zu sehen und
       Drogen zu kaufen.
       
       ## So eng war Pop und Kunst zuvor nie
       
       Durch seine Arbeit bei Pickwick lernte Reed 1965 den walisischen Musiker
       (und Bratschisten) John Cale kennen und dessen Freund, den
       Underground-Filmemacher und Musiker Tony Conrad. „Wie ein Bullterrier, der
       einen am Hosenbein zieht“, so beschreibt Reeds Biograf Victor Bockris
       dieses Aufeinandertreffen sehr unterschiedlicher Charaktere. Zusammen mit
       dem bildenden Künstler (und Drummer) Walter De Maria und Tony Conrad
       begannen Reed und Cale zunächst als The Primitives Musik zu machen.
       
       Die Lower Eastside-Musikavantgarde im Umfeld des Komponisten La Monte Young
       stand den Beteiligten nun näher als die Charts. Na ja, Reed verteidigte den
       Rock'n'Roll mit Zähnen und Klauen. Und so gingen Rock und Avantgarde eine
       für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts absolut stilbildende Allianz
       ein. Nach einigen Umbesetzungen nannte sich die Band 1965 The Velvet
       Underground und verfeinerte ihre stürmische künstlerische Zusammenarbeit
       nachdem sie von dem Künstler Andy Warhol als Hausband für die Factory
       engagiert wurden. So eng war Kunst und Pop davor nie. „Es ging darum,
       aufzutreten und die Songs auf der Bühne zu improvisieren“, beschrieb John
       Cale die Herangehensweise seiner Band.
       
       Die Velvets waren die erste erwachsene Rockband, schrieb Diedrich
       Diedrichsen einmal sinngemäß. Das stimmt: sowohl, was die Themenwahl angeht
       – die unverblümte, aber auch simplistische Sprache war einmalig – als auch
       die Härte der Musik, die Experimentierfreudigkeit und Genauigkeit. Das
       Lebensgefühl, das in ihr zum Ausdruck kam. Die Velvets sollten
       einflussreich werden. Lou Reed nahm bei seinem Ausstieg 1969 etwas mit, was
       er zeitlebens beibehalten sollte: „Ich wollte kein Hitlieferant für die
       Charts sein, da gehöre ich nicht hin.“
       
       Das änderte sich nicht mal, als er - nun solo - 1972 zusammen mit David
       Bowie das Album „Transformer“ aufnehmen sollte, das mit dem Song „Walk on
       the Wild Side“ seinen größten Hit abwarf. Auch „Berlin“, im darauffolgenden
       Jahr veröffentlicht, ein Konzeptalbum über eine dysfunktionale gewalttätige
       Familie, inspiriert von Shakespeares „Othello“ und den Romanen des
       britischen Schriftstellers Christopher Isherwood, änderte nichts an Lou
       Reeds Status als Enfant Terrible des Rock.
       
       Die siebziger und achtziger Jahre brachten mit Punk und New Wave neue
       Genres, die Reed schon in den Sechzigern vorgeprägt hatte. Während er von
       jungen Musikern zum Säulenheiligen ausgerufen wurde, dümpelte seine eigene
       Karriere vor sich hin. Er wechselte mehrmals die Plattenfirma,
       veröffentlichte 1982 mit „The Blue Mask“ ein kühles, dem Stile der
       Velvet-Alben nachempfundenes Album, blieb für den Mainstream aber weiterhin
       Persona Non Grata.
       
       ## Sich selbst in den Klassikerstatus überführt
       
       Das änderte sich erst gegen Ende der achtziger Jahre, als Reed „New York“
       aufnahm, ein weiteres Konzeptalbum, Songs über den desaströsen Zustand
       seiner Heimatstadt New York. Allmählich überführte sich der Künstler damit
       auch selbst in den Klassikerstatus. Untermauert wurde dies durch die
       verdiente Reunion von Velvet Underground in Originalbesetzung und Konzerte
       von ihnen in Europa.
       
       Nach der Jahrtausendwende war bei Lou Reed eine dauerhafte Return-to-Form
       festzustellen; ersichtlich an dem tollen Album „The Raven“, auf dem er sich
       dem Werk von Edgar Allan Poe widmete. Ersichtlich auch an den umjubelten
       Konzerten von seiner Re-Enactement-Tour zu „Berlin“, die er 2007
       absolvierte.
       
       Im Mai hatte sich Lou Reed einer Lebertransplantation unterziehen müssen,
       am Sonntag ist er an Komplikationen in diesem Zusammenhang gestorben. Er
       wurde 71 Jahre alt, aber sein Leben und Werk werden in Erinnerung bleiben.
       Seine Songs gehören mit zum Größten, was die Popmusik je hervorgebracht
       hat.
       
       28 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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