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       # taz.de -- Der Revoluzzerpriester von Genua: Zwischen Himmel und Hafen
       
       > Einst waren Seefahrer und Welteroberer die gefeierten Helden von Genua.
       > Heute sind es anarchische Priester und untote Liedermacher.
       
   IMG Bild: Blick über die Dächer der Altstadt von Genua.
       
       Als Don Andrea Gallo in den Himmel kommt, stellt er Gott eine Frage:
       „Stimmt es, dass es hier lauter Heilige gibt?“ – „Ja, mein Sohn“, sagt
       Gott. „Und wo gibt es einen Platz für mich?“, fragt der Mann mit dem
       Schlapphut und kaut an seiner Zigarre.
       
       Mit dieser Karikatur nahm die römische Tageszeitung Il Manifesto Abschied
       von Don Gallo, der im vergangenen April gestorben ist. Auf Erden wurde er
       der Revoluzzerpriester genannt – und er hatte einen festen Platz. Sein
       Zuhause war Genua.
       
       Sein Stuhl steht noch immer in den baufälligen Gemäuern der Gemeindekirche
       San Benedetto. Sein Zimmer liegt am Ende eines dunklen Flurs, wo sich
       Kleidertüten und Spielzeug für die Bedürftigen türmen. In der
       Pförtnerkabine sitzt ein schnauzbärtiger Partisan und pafft Zigarre – wie
       sein alter Freund Andrea. Hinter einer knarrenden Tür steht der Holztisch,
       an dem Don Gallo saß und sich um seine „Familie“ kümmerte.
       
       Diese wächst weiter, auch nach seinem Tod. In der Gemeinschaft San
       Benedetto bekommen drogenabhängige Jugendliche, deren hohe Zahl in Italien
       ein nie gelöstes Problem darstellt, ein Heim und eine Aufgabe. Hier finden
       aber auch alle anderen Hilfe, die Hilfe brauchen: Prostituierte aus dem
       Hafenviertel, obdachlose Familien und Einwanderer, die eine Zukunft suchen.
       
       Don Gallos „ragazzi“ arbeiten auf den Bauernhöfen der Gemeinschaft und
       betreiben in Genua ein Geschäft, eine Bücherei und eine Trattoria am Hafen.
       Die kleine Kirchengemeinde San Benedetto ist das Mutterhaus. Es liegt in
       einer Seitenstraße hinter dem prunkvollen Bahnhof Piazza Principe.
       
       Jetzt steht Don Gallos Schreibtisch leer. In der Schublade liegen die
       Bibel, das Evangelium und die Schriften von Karl Marx, erzählen die, die
       ihn gekannt haben. Am anderen Ende des Zimmers sitzt Signora Lilly am
       Computer. Sie war seine engste Vertraute und hat jetzt verweinte Augen.
       
       „Wie soll es ohne ihn weitergehen?“, fragt sie. Sie versucht auf die Mails
       zu antworten, die die Website der Gemeinschaft überschwemmen. Es fehlt der
       gute Geist des „engelhaften Anarchisten“, aber auch das
       Kommunikationstalent des umtriebigen Priesters, der Kontakt zur Welt hielt
       und immer Unterstützer für sein Projekt gefunden hat.
       
       ## Die Wunder des Don Gallo
       
       An seiner Beerdigung hat die ganze Stadt teilgenommen. Ein Kardinal der
       katholischen Kirche, die ihn zeit seines Lebens drangsaliert hat, wurde
       ausgebuht. Das hat Signora Lilly nicht gefallen. Sehr gut gefallen hat ihr,
       dass am Ende auch die anwesenden Transsexuellen gesegnet wurden. „Das sind
       die Wunder, die Andrea vollbracht hat“, sagt sie. Am Ende sangen alle
       „Bella Ciao“, und der Bürgermeister sprach den letzten Gruß. Auch der
       heimische Fußballklub und der Imam der Stadtmoschee waren da. So sind sie,
       die Genueser. Am Ende halten sie zusammen.
       
       Don Gallo kannten alle. Er war ein Symbol der Stadt wie die Lanterna der
       Seefahrer unten am Hafen. „Mit ihm durch die Gassen von Genua zu laufen war
       ein großer Spaß. Alle grüßten und liebten ihn, vor allem die Prostituierten
       und Transsexuellen“, erzählt ein anderer berühmter Genueser: der Sänger
       Gino Paoli, auch ein betagter Herr, mit dem Don Gallo vor seinem Tod noch
       einen Film gedreht hat.
       
       Die Gassen von Genua heißen „caruggi“ und sind manchmal so eng, dass man
       sich von einem Fenster zum anderen die Hand reichen kann. Sie sind die
       Adern der Stadt und liegen zwischen der prächtigen Barockstraße Via
       Garibaldi und dem Hafen, von dem einst Christoph Kolumbus auszog, um
       Amerika zu entdecken, und wo sich der General Andrea Doria gegen die
       feindlichen Piraten rüstete.
       
       Die Caruggi des Hafenviertels waren auch das Revier von Fabrizio De André.
       Die Gassen Genuas waren sein Leben und seine Inspiration. Huren,
       Totschläger, die Liebe, die Ungerechtigkeit und die immerwährende Sehnsucht
       nach dem Meer sind die Themen seiner Balladen, die immer noch auf der
       Hitliste der italienischen Jugendlichen stehen. Sein Freund Don Gallo sagte
       über ihn: „Seine Lieder hinterlassen unauslöschliche Spuren.“
       
       ## „Man soll Brot stehlen...“
       
       Der Liedermacher starb vor 15 Jahren. Doch in dem Straßengewirr um die Via
       del Campo treibt sich sein unruhiger Geist bis heute herum. Er ist überall.
       Im Klo des kleinen Restaurants Darsena in der Via di Prè kann man gemütlich
       ein paar Zeilen aus der Ballade „Crêuza de mä“ lesen, die den Hafengassen
       Genuas und ihren Bewohnern gewidmet ist. Darunter steht groß: Grazie
       Fabrizio! Auf einer Mauer nahe der Piazza Fossatello hat jemand mit
       Farbdose einen anderen seiner Sätze gesprüht: „Man soll Brot stehlen, wenn
       man Hunger hat.“
       
       Alima, die in der Via di Prè Räucherstäbchen und geflochtene Plastiknetze
       verkauft, versteht den Satz nicht. Sie kommt aus Senegal. Sie und die
       anderen Afrikanerinnen, die vor den Häusern sitzen, bilden mit ihren
       farbigen Gewändern und Turbanen eine Art Lichterkette in den dunklen
       Hafengassen. Auf engstem Raum gibt es afrikanische, arabische und
       asiatische Metzger. Es duftet mal nach Focaccia, dem berühmten Genueser
       Pizzabrot, mal nach Curry. In den versteckteren Ecken stehen die
       Prostituierten, viele aus Südamerika und Osteuropa. Ihre Standplätze sind
       mit Grafitti an den Häuserwänden gekennzeichnet.
       
       Sie stehen in den Straßen, „wo die Sonne des lieben Gottes nicht strahlt“,
       so einer der Texte von De André. In manchen ebenerdigen Wohnungen brennt
       den ganzen Tag das Licht. In schmutzigen Ladenvitrinen liegen vergilbte
       Weihnachtskugeln – das ganze Jahr. Dazwischen findet man barock verzierte
       Innenhöfe von Adelspalästen.
       
       ## Ein Hafen für Touristen
       
       „De André war wie seine Stadt: introvertiert und geheimnisvoll. Genua und
       die Genueser sind sich ähnlich“, sagt der Architekt Renzo Piano, selbst
       Genueser und Erbauer der modernen „Waterfront“ am Hafen, die den alten
       Hafen für Besucher attraktiv machen soll.
       
       Sein Bigo im Porto Antico erinnert an den Hebekran eines Schiffs. Doch
       statt Kisten schwenken die Arme eine Gondel. Diese bietet einen
       Panoramablick aus 40 Metern Höhe auf das Meer und auf die Stadt, die die
       Bucht wie ein Amphitheater umschließt. Zum Bigo gehört auch eine Glaskugel,
       von den Genuesern Bolla genannt: ein Konstrukt aus Glas und Stahl, in der
       eine tropische Pflanzenwelt gedeiht.
       
       Daneben steht das Meerwasseraquarium, eines der größten und meistbesuchten
       Europas. Der Tourismus soll die Einnahmen der kriselnden
       Schiffsbauindustrie ersetzen. Dafür investiert die Stadt viel. Es gibt neue
       Architektur und große Kunstausstellungen.
       
       ## Genua und der G-8-Schock
       
       Es gibt aber auch die Piazza Alimonda im neueren Teil der Stadt, wo die
       Faschisten unter Mussolini breite Straßen für ihre Aufmärsche gebaut haben.
       Auf der Piazza Alimonda hat die italienische Polizei während des
       G-8-Gipfels von 2001 einen jungen Demonstranten erschossen. Am Abend wurden
       andere auf ihren Schlaflagern zusammengeknüppelt.
       
       Genua wurde Symbol für ein Ereignis, bei dem die Demokratie zu existieren
       aufgehört hat. Der Schock darüber steckt den Genuesern noch in den Knochen.
       „Hoffentlich denken sie noch lange daran“, hofft Signora Lilly. Auch Don
       Andrea hat damals auf der Straße protestiert.
       
       Seit dem G-8-Schock hat sich in Genua viel verändert, auch der
       Bürgermeister. Der neue ist ein alter Freund von Don Gallo. In seinem
       Rathaus, dem barocken Palazzo Ducale, darf man Roller fahren und Gitarre
       spielen. Seit ein paar Monaten werden dort auch Lebensgemeinschaften jeden
       Geschlechts mit Amtsstempel legalisiert. „Das ist eine gute Nachricht“,
       kommentierte Don Gallo noch kurz vor seinem Tod. Möglicherweise hat er am
       Tisch der Heiligen deshalb noch immer keinen Platz bekommen.
       
       26 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michaela Namuth
       
       ## TAGS
       
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   DIR Reiseland Italien
       
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