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       # taz.de -- Kolumne Nüchtern: Weingutscheine von Amazon
       
       > Das derzeit beste Fernsehformat für Trinker heißt „Mom“ und kommt aus den
       > USA. In Deutschland wäre eine solche Serie unvorstellbar.
       
   IMG Bild: Der Trinker sieht: flaschenweise Wein. Der Nüchterne sieht vielfarbiges Laub.
       
       Selbstbetrug ist eine geradezu kosmische Kraft, er schafft ganze, kleine
       dysfunktionale Welten. Wir alle kennen das. Wir verleugnen bestimmte Seiten
       an uns, die wir nicht mögen, verschließen die Augen vor Problemen, die
       unlösbar scheinen, erzählen uns Geschichten über uns selbst.
       
       Als Trinker ist man da natürlich Experte. Man richtet sich sein
       Arbeitsleben so ein, dass das Trinken möglich ist. Man findet, ohne dass es
       einem notwendigerweise bewusst wäre, auch Freunde und Partner, die das so
       hinnehmen. Und ebenso schlafwandlerisch navigiert man sich in Lebensdramen,
       die den Schleier alkoholischen Vergessens fast schon notwendig erscheinen
       lassen.
       
       Meine Lieblingsserie im Moment heißt „Mom“. Sie ist diesen Herbst auf dem
       amerikanischen Fernsehsender CBS angelaufen, stammt aus der Feder von Chuck
       Lorre, dem Autor von „The Big Bang Theory“, und macht aus dem Drama
       trunkener Verleugnung ein unfassbar komisches Kammerspiel.
       
       „Mom“ handelt von einer alleinerziehenden Mutter und Kellnerin, die, gerade
       nüchtern geworden, versucht, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen –
       permanente Stimmungsschwankungen, Episoden des Wahnsinns und der
       Hilflosigkeit inklusive. Erschwert wird ihr Unterfangen unter anderem von
       ihrer recht explosiven Mutter, einem ehemaligen Partygirl, die mit ihr
       zusammen in AA-Meetings sitzt.
       
       ## Kollektiver Selbstbetrug
       
       In Deutschland wäre eine solche Serie unvorstellbar, nicht zuletzt weil
       Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker, die Guttempler oder das
       Blaue Kreuz hierzulande das unverdiente Image von pseudoreligiösen
       Zusammenkünften für Sozialschwache genießen. Bei uns redet man zwar gerne
       über das Trinken, aber nicht über die Folgen, die es haben kann, und schon
       gar nicht über Abstinenz. Selbstbetrug findet hierzulande auf einer sehr
       viel ausgeprägteren kollektiven Ebene statt als anderswo.
       
       Wenn man nicht trinkt, nervt das gewaltig. Immer wieder etwa bekomme ich
       Anfragen wie die von den Kollegen der sonntaz vor ein paar Wochen. Ob ich
       nicht eine Reportage über das Oktoberfest schreiben wolle – mit dem
       journalistischen Clou aber, dass ich dafür trinken würde! Eine brillante
       Idee. Oder es passieren Sachen wie bei Amazon: Als ich dort Bücher über
       Nüchternheit und Alkoholismus zu bestellen begann, lagen den Lieferungen
       plötzlich sehr großzügige Weingutscheine bei. 50 Euro hätte ich neulich
       wieder bei irgendeinem Chianti-Paket sparen können. Yes!
       
       Wenn Trinkgewohnheiten sich verselbständigen, sind Verdrängung und
       Selbstbetrug der naheliegende Weg, mit der resultierenden Hilflosigkeit
       umzugehen, auch auf kollektiver Ebene. Eine Zeit lang sind sie einfach die
       beste Strategie, um die konstanten Krisen durchzustehen und das Gespräch
       darüber zu vermeiden.
       
       ## 526 Millionen Euro für Alkoholwerbung
       
       Als ich vor zwei Monaten an dieser Stelle eine Statistik der Deutschen
       Hauptstelle für Suchtfragen über die Vervierfachung des deutschen
       Alkoholkonsums seit 1950 veröffentlichte, regnete es bitterböse
       Leserkommentare. Die Statistik könne einfach nicht stimmen.
       
       Deshalb nun noch ein paar Zahlen: Den 10 Millionen Euro, die bei uns
       jährlich für Aufklärungskampagnen ausgegeben werden, stehen 526 Millionen
       Euro gegenüber, die Alkoholhersteller in Werbung investieren. Jeder
       durchschnittliche Deutsche trinkt im Jahr eine Badewanne voll Bier, Wein
       und Spirituosen, eine Menge, die zu zahlreichen psychischen Störungen,
       Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Problemen führt.
       
       Alkohol trägt in unserem Land stärker zu einer Verkürzung der Lebenszeit
       bei als der Zigarettenkonsum. Jährlich sterben bei uns 74.000 Menschen
       durch das Trinken. Die Droge, von der in den Medien im vergangenen Jahr am
       meisten berichtet wurde, war Chrystal Meth. Nur zehn Prozent der
       Alkoholiker kommen hierzulande in Behandlung. Cheers!
       
       24 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Schreiber
       
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