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       # taz.de -- Filmstart „Exit Marrakech“: Das Vater-Sohn-Gerangel
       
       > Oscar-Preisträgerin Caroline Link bemüht sich in „Exit Marrakech“, das
       > Land jenseits des Klischees ins Spiel zu bringen.
       
   IMG Bild: Inbegriff undeutscher Unvernunft: Ben (Samuel Schneider).
       
       Wenn die Zufriedenheit mit sich selbst schon routiniert ausfällt und auch
       die berufliche Anerkennung einen viel zu selbstverständlich über ganze
       Lebensdekaden umspült, dann reicht einem wohl ein abgehangener
       Paul-Bowles-Roman („Himmel über der Wüste“), um sich risikofrei in der
       Trägheit einer vergangenen Boheme zu spiegeln.
       
       Dann muss man nicht mehr höchstselbst in die Wüste, um den
       lebensherbstlichen Leib noch einmal den Witterungen der Extreme
       auszusetzen. Um noch etwas Überraschendes zu spüren, und sei es so etwas
       wie eine wirkliche Gefährdung. Dann reicht es wohl, wie Heinrich (Ulrich
       Tukur), Vater eines gerade groß werdenden Sohns und bekannter
       Theaterregisseur, in den Spielpausen seiner nach Nordafrika exportierten
       „Emilia Galotti“ an den Hotelpools herumzuhängen und das Marrakesch, das
       hinter den europäischen Annehmlichkeiten beginnt, einen fernen Ort bleiben
       zu lassen.
       
       Bis Sohn Ben (Samuel Schneider) eintrifft, die Hauptfigur des neuen Films
       von Caroline Links „Exit Marrakech“. Er fordert den alten Sack Heinrich
       heraus. Und zwar nicht nur mit dem üblichen pubertären Trotz oder der
       Gekränktheit eines übersehenen Kindes, – auf die er jedes Anrecht hätte –,
       sondern auch mit einer undeutschen Unvernunft, Risikofreude und Offenheit.
       
       Der 16-Jährige taucht ein in den maghrebinischen Kosmos und riskiert dabei
       – ganz im Bowles’schen Sinne und der ihm mit aller Kompromisslosigkeit
       folgenden Beatgeneration – selbst verloren zu gehen. Nicht nur um den
       Sinnvagabunden vor seiner Zeit die Ehre zu erweisen, sondern schlicht auch,
       um seinen Vater, der sich nie ums Elternsein gekümmert hat und stets nur um
       seine eigene Sonne rotierte, dazu zu bringen, endlich seinen Sohn zu
       suchen.
       
       ## Wohlstandssöhnchen der alten Kolonialmacht Europa
       
       Ben trifft die Prostituierte Karima, gespielt von der Französin Hafsia
       Herzi, die manchem noch aus „Couscous mit Fisch“ in allerbester Erinnerung
       sein dürfte, und folgt ihr durch die dunkel mäandernden Gassen der Medina,
       bezahlt sie, aber schläft nicht mit ihr. Damit ihre Liebesgeschichte
       beginnen kann, bevor Karimas Familien- und Sittenregelungen dem ein rasches
       Ende setzen. Bens Zuckerkrankheit sorgt für weitere dramaturgische
       Zuspitzung, die man vielleicht lieber ohne diesen pathologischen Zwang
       gehabt hätte.
       
       Ansonsten aber beweist Caroline Link ein gutes Gespür für die Fallhöhen,
       ihrer Vater-Sohn-Geschichte für den Mehrwert eines Ulrich Tukur und die
       schlummernden Stärken des hier entdeckten Samuel Schneider. Sie
       domestiziert Eitelkeiten und Rampenwucht und lockt klug dezentere Brüche
       aus ihrem Ensemble. Ihr geht es allein um den Konflikt, der Plot ist bloßes
       Vehikel.
       
       Und genau hier liegt das Problem. Denn nur allzu leicht lässt sich Ben als
       Wohlstandssöhnchen der alten Kolonialmacht Europa interpretieren, der
       kleinen Maghrebinerinnen die Liebe lehrt und das freie Leben, bis er am
       orientalischen Patriarchat scheitert. Letzteres lässt seinen ignoranten
       Vater dafür in einem umso annehmbareren Licht erscheinen.
       
       ## Über Wüstendünen surfen
       
       Mit dem Wissen um die Gewinne westlicher Aufklärung, bis hin zur sexuellen
       Befreiung, einem geschwächten Patriarchat und und der Vernichtung
       unpraktischer Mystik, lässt sich der Orient schließlich nur umso intensiver
       genießen. Könnte man argumentieren. Marrakesch wäre in dieser Logik nur
       eine Kulisse. Pathetisch, folkloristisch, kitschig.
       
       Doch Link und ihre Kamerafrau Bella Halben bemühen sich ums Gegenteil,
       lassen jede noch so kurz erscheinende Nachbarin Karimas als Charakter und
       nicht als Statistin erscheinen. Und wenn Ben über Wüstendünen surft, ist
       das sicher fern jedes Saharaklischees.
       
       Zumindest ein koloniales Opfer hat auch Links Erzählung bei aller Vorsicht
       dann doch zu verantworten. Es ist Karima, die der Plot einfach zurücklässt
       und damit zur fernen Katalysatorfigur reduziert. Sie hätte etwas Besseres,
       vor allem Differenzierteres, verdient. Doch nach ihrer letzten Szene gehört
       die Bühne allein dem Vater-Sohn-Gerangel und natürlich der Versöhnung der
       Generationen. Karima nützt das wenig. Ihre Geschichte, die muss jemand
       anderes erzählen. Und das wäre dann hoffentlich eine aus dem Inneren
       Marrakeschs.
       
       23 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Birgit Glombitza
       
       ## TAGS
       
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