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       # taz.de -- Kolumne Schlagloch: Die große Transformation
       
       > Grüne und Linke müssen jetzt den Wahlkampf beginnen. Sie müssen konkrete
       > Vorschläge machen, zu denen die Bürger nicht Nein sagen würden.
       
   IMG Bild: Spinnefeind? Aber nein. Grüne und Linke, die Koalitionäre von 2017
       
       „Wir erreichen das Ende einer Epoche“, formuliert der Wortführer der
       Koalition. Sein Partner stimmt ihm zu: „Wir haben einen Wendepunkt
       erreicht. Entweder drohen erbitterte Verteilungskämpfe, oder die Politik
       schafft eine sozial-ökologische Transformation, die in ihrer Dimension kaum
       Vorbilder findet. Diese Transformation muss alle Bereiche in Wirtschaft und
       Gesellschaft erfassen.“
       
       Und der Dritte im Bunde legt eine Reihe von Diagrammen auf den
       Verhandlungstisch, aus denen hervorgeht, dass kein weiteres Wachstum des
       Bruttosozialprodukts zu erwarten ist, dass wir jährlich knapp 57 Milliarden
       mehr für Bildung brauchen und dass mit Effizienzsteigerung allein keine
       Umweltprobleme gelöst werden. Sondern dass wir anders leben müssen, dass
       die Politik eine Kulturrevolution anstiften muss.
       
       Das ist kein Mitschnitt der anstehenden schwarz-roten Gespräche, sondern es
       stammt aus dem Bericht der Enquetekommission Wohlstand, Wachstum,
       Lebensqualität der vergangenen Legislaturperiode. Wegen der 60 Sondervoten
       einer Allianz von SPD, Grünen und Linken sind es eigentlich zwei Berichte:
       einer, der auf eine ewige Wiederkunft des kapitalistischen Wachstums setzt,
       wenn auch mit kleinen Korrekturen. Und einer, der gestaltende Politik nur
       noch für möglich hält, wenn sie sich aus der „geistigen Geiselhaft“ des
       Wachstumsdenkens befreit.
       
       Es gab dabei Hoffnung auf eine ganz große Koalition, etwa als der
       wertkatholische CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer und das SPD-Urgestein
       Michael Müller gemeinsam über die Ambivalenz des Fortschritts nachdachten;
       im großen Ganzen aber machte die Kommissionsarbeit deutlich: Wenn es hart
       auf hart kommt, stecken wir immer noch im kalten Krieg zweier Kulturen, die
       sich nicht einmal auf eine gemeinsame Definitionen von Wachstum, Krise oder
       Lebensqualität einigen können.
       
       ## Petitessen
       
       Was für einen Wahlkampf hätten wir erlebt, wenn die drei
       sozialdemokratischen Parteien auf ihre Hinterbänkler gesetzt und mit
       verteilten Rollen für die „große Transformation“ geworben hätten? Wenn die
       Presse sich nicht mit Petitessen wie Steinbrücks Rhetorik oder
       presserechtlichen Verantwortlichkeiten aus grüner Vorzeit beschäftigt
       hätte, sondern mit einem Kampf der Konzepte? Wenn die Leitartikler
       beigesteuert hätten, was den Parteien derzeit abgeht: Lust auf das, was
       nottut, und vor allem: die „Kraft der Zuspitzung“? Und was wäre dabei
       herausgekommen? Schlimmstenfalls Schwarz-Gelb, aber klare Verhältnisse.
       
       Und nun? „Die SPD steht nur für einen Politikwechsel zur Verfügung“, hat
       ihr Parteikonvent beschlossen, aber nach Lage der Dinge wird, neben der
       Trophäe des Mindestlohns (den die Kanzlerin sonst erst Anfang 2017
       eingeführt hätte) ein wenig an den Stellschrauben des Steuerrechts und der
       Altersrenten gedreht und, oh Jammer, der Stromnetzausbau beschleunigt, auf
       dass die Elektrizität in den Händen der Riesen bleibt. Aber, um mit Beckett
       zu sprechen: „Egal. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
       
       Die Grünen, die den Reformwillen der Wähler weniger überschätzt als zu
       wenig geformt haben, und die Linken, die im Kritisieren immer präziser
       werden, aber übersehen, dass es nicht reicht, ein paar Reiche zu besteuern
       – die Koalitionäre von 2017 sollten sich nicht vier Jahre lang in
       Detailkritik halbherziger Mitte-rechts-Maßnahmen vertrieseln.
       
       Sie muss so schnell wie möglich den Parlamentarismus beatmen und die
       Regierung mit konkreten eigenen Vorschlägen, Projekten, Gesetzesinitiativen
       quälen, zu denen die Bürger nicht Nein sagen würden, und so der SPD den
       Ausgang aus der langen Blamage zeigen. Es gibt viele Projekte – früher
       hätte man sie systemüberwindende Reformen genannt –, die schon lange
       strukturelle Mehrheiten im Land haben.
       
       Einige davon sind auf dem Weg, wie die Rekommunalisierung von Gas und
       Wasser; andere brauchten Anstöße des Gesetzgebers. Hier eine kleine
       Auswahl: Abschaffung des Föderalismus im Schulwesen; eine
       Gesundheitsreform, die Prävention favorisiert; eine steuerfinanzierte
       Universalversicherung für Gesundheit und Rente, in die ausnahmslos alle
       Bürger einzahlen, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit, und die endlich
       die strukturelle Ausbeutung der Familien beendet; eine Steuer- und
       Budgetpolitik, die Vermögen und hohe Einkommen stärker heranzieht, aber
       diese Veränderungen an konkrete Verbesserungen der Lebensqualität und der
       Zukunftsvorsorge aller Bürger knüpft (was juristisch problematisch,
       politisch aber möglich ist).
       
       Es lassen sich noch mehr Projekte denken (die entsprechenden Taschenbücher
       sind alle geschrieben), die die Strukturen unseres Sozialstaats an eine
       veränderte Welt anpassen – auch umstrittene wie das Grundeinkommen oder die
       allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit.
       
       ## Analysen ohne Polemik
       
       Die Oppositionspolitik der nächsten Jahre ist daher nicht, sich im
       ständigen Nein zu schwarz-roten Notlösungen zu verschleißen, die dann
       durchgewinkt werden. Sondern die Regierungskoalition zu zwingen, selbst
       Nein sagen zu müssen – zu Vorschlägen, die vernünftig, konkret, populär und
       durchgerechnet sind. Und – das ist der schwierigere Teil – über die geredet
       wird.
       
       Große Koalitionen lockern zwar die Fronten im Journalismus, aber die
       Strategie, mit vernünftigen Vorstößen den Medienschleier und den Zynismus
       der Chefkommentatoren zu durchlöchern, funktioniert, wenn überhaupt, nur
       mit unpolemischen, scharfen Analysen und ausformulierten Vorschlägen.
       
       In den Stiftungen, die nach Böll und Luxemburg benannt sind, sitzen genug
       Wissenschaftler, die das können. Sie sollten sich schnell zusammentun und
       mit dem Wahlkampf beginnen. Vielleicht finden sich ja wieder ein paar
       wortstarke, fernsehtaugliche Intellektuelle, die Besseres vorhaben, als
       noch mal 80 Seiten „Empört Euch!“-Prosa abzuliefern, den Sozialstaat als
       Kleptokratie zu geißeln, die Schlachten der Vergangenheit zu schlagen oder
       gar: vom Wählen abzuraten.
       
       26 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mathias Greffrath
       
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