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       # taz.de -- Mit Migrationshintergrund im Bundestag: Der Begriff Integration ist überholt
       
       > Gesellschaftliche Gruppen werden von Abgeordneten im Bundestag vertreten.
       > Menschen mit Migrationshintergrund sind noch immer unterrepräsentiert.
       
   IMG Bild: Alle da?
       
       BERLIN taz | Die taz stellt vier neue Abgeordnete mit Migrationshintergrund
       vor:
       
       ## Der Wandelbare: Charles M. Huber
       
       Rassismus sei kein Thema mehr, sagt der CDUler, Schauspieler und Wahlhesse.
       Fernsehzuschauern ist sein Gesicht vertraut. Als Schauspieler spielte
       Charles M. Huber in der TV-Krimiserie „Der Alte“ bis 1997 dessen
       Assistenten. Seine neue Rolle führt ihn als Abgeordneten in den Bundestag.
       
       Als die hessische CDU einen Kandidaten gegen Exjustizministerin Brigitte
       Zypries suchte, kam Charles M. Huber nach Darmstadt. Im Bundestag möchte er
       sich jetzt für seine neue Wahlheimat starkmachen – „das ist, was der Wähler
       erwartet“. Darmstadt brauche zum Beispiel einen ICE-Anschluss, hat er
       festgestellt.
       
       Außerdem will Huber den Blick auf die Potenziale lenken, die Menschen
       bikultureller Herkunft mitbringen. „Länder wie Großbritannien und die USA
       haben dadurch Vorteile im Welthandel“, betont er. Den Begriff
       „Migrationshintergrund“ hält er aber für „überflüssig“, und Rassismus ist
       für ihn kein großes Thema. „Im Wahlkampf hat meine Hautfarbe keine Rolle
       gespielt“ – das zeige die Selbstverständlichkeit, die in Deutschland
       inzwischen herrsche, findet er.
       
       Hubers echter Vorname lautet übrigens Karl-Heinz, und das M in seinem
       Künstlernamen steht für Muhammad – nach dem Boxer Muhammad Ali. Huber wurde
       1956 als Sohn einer Hausangestellten und eines senegalesischen Diplomaten
       in München geboren, seinen Vater lernte er erst mit 28 Jahren kennen. In
       den 90er Jahren begann er dann, sich für Afrika zu interessieren, gründete
       einen karitativen Verband und betätigte sich als entwicklungspolitischer
       Berater. Damals wurde er Mitglied der SPD. Die gesellschaftspolitische
       Öffnung der Union unter Merkel sei „ein Grund, warum ich jetzt in der Union
       bin“, sagt Huber.
       
       Wird Huber mit der Harley Davidson, die er sich kürzlich als Dienstfahrzeug
       zugelegt hat, vor dem Reichstag vorfahren? „Kann passieren“, sagt er. Aber
       erst im Sommer.
       
       ## Der Etablierte: Özcan Mutlu
       
       Der Bildungsexperte der Grünen will jetzt über Berlin hinaus Akzente
       setzen. Dank seiner häufigen Talkshow-Auftritte – etwa als Gegenspieler des
       SPD-Lautsprechers Heinz Buschkowsky – ist er bereits bundesweit bekannt.
       Doch in den Bundestag zieht Özcan Mutlu, 45, erst jetzt, im zweiten Anlauf,
       zum ersten Mal ein.
       
       „Ich habe zehn Kilo abgenommen. Nicht weil der Wahlkampf so stressig war,
       sondern weil wir jeden Sonntag 4,5 Kilometer gerannt sind“, stöhnt Mutlu.
       Die Zahl 4,5 bezog sich übrigens auf die Prozentpunkte, die der
       Direktkandidat der Grünen im Bezirk Berlin-Mitte bei der vergangenen Wahl
       hinter der SPD lag.
       
       Mutlu wollte das mit einem aufwendigen Action-Wahlkampf um den zentralen
       Berliner Bezirk Mitte aufholen. Dass er letztlich nur auf einem
       enttäuschenden dritten Platz landete, dafür macht er den Bundestrend
       verantwortlich. „Im bundesweiten Vergleich haben wir in Berlin-Mitte noch
       die geringsten Verluste eingefahren. Aber verloren ist verloren!“
       
       Dank eines sicheren Platzes auf der Landesliste darf Mutlu dennoch in sein
       Büro am Boulevard „Unter den Linden“ umziehen. Es liegt nur unweit des
       Berliner Abgeordnetenhauses, in dem er die letzten 14 Jahre als
       Bildungspolitiker agierte. Seine Eltern, die vor vielen Jahren als
       Gastarbeiter aus der Türkei nach Berlin kamen, wollen am Dienstag dabei
       sein, wenn ihr Sohn erstmals im Bundestag Platz nimmt. Dort will sich Mutlu
       vor allem mit Innenpolitik und weiterhin mit Bildungsthemen befassen – aber
       auf keinen Fall mit Integration: „Ich halte nichts davon, dass Migranten
       aufgrund ihrer Herkunft automatisch für das Thema zuständig sein sollen.
       Diese Zeiten sind vorbei.“
       
       Noch im August hatte er mit Renate Künast in einem Kreuzberger Park einen
       „Veggie Day“ veranstaltet und mit Katrin Göring-Eckart in einer Kita
       gekocht. Rückblickend gibt sich Mutlu selbstkritisch: „Man hätte vielleicht
       mehr über die Massentierhaltung und die Auswirkungen des Fleischkonsums
       aufs Klima reden müssen, als die Idee eines Veggie-Days nach vorne zu
       rücken.“
       
       ## Der Aufsteiger: Mahmut Özdemir
       
       Der SPDler und will sich für die Jugend einsetzen. Der zweite Herr Özdemir,
       der in den Bundestag einzieht, wird mit 26 Jahren dort der jüngste
       Abgeordnete sein. Als ganz junger Mensch weit oben zu sein, das kennt er
       schon: Mit 14 Jahren war er bereits Juso-Vorsitzender in seinem Bezirk. Als
       Berufswunsch gab er damals an, Außenminister werden zu wollen.
       
       Aufgewachsen ist Mahmut Özdemir in einem Hochhaus in Duisburg-Homberg.
       Gerne erzählt er die Geschichte, wie er von dort zu den Jusos kam: Weil er
       von seinen Eltern, die aus der Türkei stammen, ein paar Inlineskater
       geschenkt bekam, aber damit vom Hof des benachbarten Baumarkts vertrieben
       wurde, machte er sich gemeinsam mit ein paar Freunden für einen Skaterpark
       in seinem Viertel stark. Dessen Bau war sein erster politischer Erfolg.
       
       Im Bundestag möchte der SPD-Youngster „vor allem das Sprachrohr der jungen
       Generation sein“, wie er sagt. „Die hangelt sich von Jahresvertrag zu
       Jahresvertrag. Aber wer sich in solchen Beschäftigungsverhältnissen
       wiederfindet, der investiert nicht in die Gesellschaft, in Kranken- und
       Rentenkassen und der übernimmt auch kein Ehrenamt.“Und Özdemir findet auch:
       „Es kann nicht sein, dass Leute arbeiten gehen und es trotzdem ohne das
       Jobcenter nicht zum Leben reicht.“
       
       Dass er Schröder und Müntefering, die beiden Architekten der
       „Agenda-Politik“, trotzdem noch immer als Vorbilder bezeichnet, darin sieht
       er keinen Widerspruch: „Sie haben damals versucht, Antworten auf die Fragen
       ihrer Zeit zu finden. Heute geht es darum, neue Antworten zu finden und die
       Fehler zu korrigieren, die wir gemeinsam zu verantworten haben“, sagt er.
       
       Die Aussicht auf eine gemeinsame Regierung von SPD und CDU/CSU schreckt ihn
       nicht: „Wenn ich das Wahlprogramm der SPD in entscheidenden Punkten
       wiederfinde, dann kann ich damit leben.“ Doch er nennt auch sein Kriterium:
       „Es gab ein 100-Tage-Regierungsprogramm von Peer Steinbrück. Das ist der
       Maßstab, an dem man sich messen lassen muss.“
       
       ## Die Unabhängige: Azize Tank
       
       Es gehe um Teilhabe, sagt die Linken-Politikerin und einstige
       Migrationsbeauftragte. Ob sie die älteste Newcomerin ist, die in den neuen
       Bundestag einzieht, das weiß sie gar nicht. „Aber ich stehe zu meinem
       reifen Alter, ich finde das schön“, sagt die 63-jährige Azize Tank. „Und
       auf meinen Wahlspruch, dass das Leben auch im Alter sexy und liebenswert
       sein kann, habe ich sehr viele positive Reaktionen bekommen.“
       
       Zwanzig Jahre lang war Azize Tank Migrantenbeauftragte im Berliner Bezirk
       Charlottenburg, 2011 ging sie in den Ruhestand. „Ich habe ein sehr bewegtes
       Leben“, sagt sie.
       
       Geboren wurde sie in der Türkei, seit 40 Jahren lebt sie in Berlin. Hier
       engagierte sie sich in der Frauen- und Friedenspolitik. Mit ihrem Ehemann,
       dem Anwalt Eberhard Schultz, hat sie eine Stiftung für Menschenrechte
       gegründet. Ihren Töchtern hat Tank beigebracht: „Als Frau muss man doppelt
       so gut sein wie ein Mann, als Frau mit Migrationshintergrund dreimal so
       gut.“ Als unabhängige Kandidatin wurde die Frau mit den weißen
       Korkenzieherlocken von der Linkspartei nominiert, ein Parteibuch besitzt
       sie nicht. „Die Linke ist die einzige Partei, in der ich mich zu Hause
       fühlen würde“, sagt sie. „Aber es wäre nicht ehrlich gewesen, sofort
       Mitglied zu werden. Zum Glück hat das auch niemand von mir verlangt.“
       
       Den Begriff „Integration“ hält sie für überholt: „Es geht nicht um
       Chancengleichheit, nicht um Anpassung“, findet sie. „Wenn Teilhabe an der
       Gesellschaft nicht möglich ist, kann man alles andere vergessen.“
       
       Sie selbst wagt mit 63 Jahren noch einmal einen beruflichen Neuanfang,
       trotzdem will sie zur Rente mit 65 zurück: „Im Bundestag kann man auch noch
       mit 85 arbeiten“, sagt sie. „Aber als Dachdecker und in vielen anderen
       Berufen kann man das nicht.“ Im Bundestag strebt sie deshalb eine Tätigkeit
       im Ausschuss für „Familie und Soziales“ an. Vor allem aber will sie den
       Kontakt zur Basis nicht verlieren. „Ich möchte es gerne etwas anders machen
       als andere Politiker. Ich hoffe, das gelingt mir und mein Idealismus bleibt
       mir erhalten.“
       
       22 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Bax
       
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