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       # taz.de -- Jesmyn Wards Roman „Vor dem Sturm“: Im schwarzen Herzen von Mississippi
       
       > Die Heimsuchung kam lange vor dem Hurrikan „Katrina“: Jesmyn Ward erzählt
       > vom Elend der ehemaligen US-Südstaaten.
       
   IMG Bild: Die Hurrikan hinterließ viele Spuren an der Golfküste – auch auf der gemalten
       
       Schmerz ist da, um ertragen zu werden. Das ist die Lehre, die die
       15-jährige Esch aus ihrer obsessiven Lektüre der griechischen Mythen zieht.
       Und sie zieht sie auch aus ihrem eigenen Leben. Denn Esch ist schwanger,
       arm und schwer unglücklich.
       
       Die Mutter ist tot und der Vater ständig besoffen. Manny, ihr Geliebter,
       schaut ihr beim Sex nicht in die Augen und küsst sie nicht. Wenn andere
       dabei sind, ignoriert er Esch und verleugnet sie. Die Liebe zu ihren
       Brüdern ist das Einzige, was Esch Halt gibt. Immerhin kümmern sie sich um
       sie und führen sie aus zu Hundekämpfen und Basketballspielen.
       
       Es ist vor allem die archetypische Erzählweise, die den Roman „Vor dem
       Sturm“ auszeichnet. Die US-amerikanische Autorin Jesmyn Ward setzt das
       Schicksal von Esch in einen universalen, seit der Antike geläufigen Kontext
       der verratenen Frau in einer männlich dominierten Welt.
       
       Aber auch seine historische Dimension gibt dem Roman eine besondere
       Bedeutung. Denn der bevorstehende Sturm, von dem im Romantitel die Rede
       ist, nennt sich „Katrina“. 2005 richtete der Hurrikan das gesamte Gebiet um
       die Golfküste zugrunde. Auch Autorin Jesmyn Ward hielt sich in jenem
       September dort auf.
       
       Die mangelnde Hilfeleistung für mittellose Katastrophenopfer, bei denen es
       sich größtenteils um Afroamerikaner handelte, entzündete eine neue Debatte
       über Rassen- und Klassentrennung in den damals von George W. Bush regierten
       Vereinigten Staaten. Wards Roman jedoch handelt von den je in ein Kapitel
       gefassten zwölf Tagen vor dem Hurrikan, dem Elend und der Armut, die die
       Bewohner schon vor „Katrina“ heimsuchten.
       
       ## Ohne Pathos
       
       Im schwarzen Herzen von Mississippi, einem fiktiven Ort namens Bois
       Sauvage, siedelt Ward das Zuhause ihrer Protagonistin zwischen Autowracks
       und Hühnerstall an. Es ist heiß, es riecht nach Staub, immer wieder fließt
       Blut. Der Pitbull namens China, der am Anfang des Romans Babys gebärt, ist
       das einzige weibliche Wesen in Eschs unmittelbarer Umgebung und wird zur
       Identifikationsfigur.
       
       Dabei ist Esch ganz anders als eine Kampfhündin: Bemüht, möglichst nicht
       aufzufallen, spricht sie nur, wenn sie etwas gefragt wird, und behält all
       ihre Sorgen wie das Geheimnis in ihrem Bauch für sich. Das Einzige, was
       Esch je leicht gefallen ist, erzählt sie, war Sex. „Es war einfacher, es
       hinzunehmen, als ihn zu bitten, aufzuhören.“ Dass es mit Manny aber alles
       andere als einfach ist, dafür legt Ward ihrer Protagonistin die feinsten
       Metaphern in den Mund: „Er bringt mein Herz auch so zum Hüpfen, will ich
       sagen und auf das Eichhörnchen zeigen, das unter rhythmischen roten
       Spritzern stirbt.“
       
       Die physische Abwesenheit der toten Mutter verhindert nicht, dass sie
       allgegenwärtig in den Gesprächen der Geschwister ist und als Erinnerung an
       eine glücklichere, wohlhabendere Zeit herhält. Auch die weißen Leute sind
       außer Reichweite, spielen aber kaum eine Rolle im Leben der Familie. Das
       schaltet den Rassismus natürlich nicht aus. Im Gegenteil, diese Kluft
       zwischen den gesellschaftlichen Gruppen betont geradezu das tiefsitzende
       Problem der ehemaligen Südstaaten.
       
       All diese Umstände schafft Jesmyn Ward weitgehend ohne Pathos zu schildern,
       weil sie die Perspektive und den ganz selbstverständlichen Alltag von Esch
       nicht verlässt und weil außer dem Vater, der bis zuletzt wie ein Spinner
       erscheint, ohnehin keiner die Hurrikan-Warnungen ernstnimmt. Und als
       „Katrina“ schließlich kommt, geht es ja auch wieder nur ums Ertragen.
       
       16 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
       
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