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       # taz.de -- Neue brasilianische Literatur: Nichtsnutzige kleine Nihilisten
       
       > Sie erzählen von Mythen und Aussteigern: Daniel Galeras „Flut“ und Paulo
       > Scotts „Unwirkliche Bewohner“ als Beispiel der neueren brasilianischen
       > Literatur.
       
   IMG Bild: In Paulo Scotts „Unwirkliche Bewohner“ ist Porto Alegre alles andere als idyllisch.
       
       Paulo ist Anfang 20 und schlittert gerade in eine tiefe Existenzkrise. Er
       entstammt einem mittelständischen Haushalt in Porto Alegre, wohnt noch bei
       den Eltern. Die südbrasilianische Provinzmetropole ist eine Hochburg des PT
       (Partido dos Trabalhadores), der in den 1980er Jahren, in denen Paulo
       Scotts Roman „Unwirkliche Bewohner“ einsetzt, noch ein gutes Stück vom
       Präsidentenamt entfernt ist.
       
       Paulo hat gerade den Basiskomitees der PT in Porto Alegre den Rücken
       gekehrt – „Ich schäme mich dafür, wir wir uns entwickelt haben“ –, seine
       juristische Ausbildung abgebrochen und an der Bundesstraße 116 die
       14-jährige Indigena Maína kennengelernt. Seine Mutter schimpft ihn einen
       „nichtsnutzigen kleinen Nihilisten“.
       
       „Paulo verliert nicht gern die Kontrolle“, charakterisiert Scott seine
       jugendliche Hauptfigur. Doch er wird sie verlieren, ohne dabei zur Gänze
       unterzugehen. Paulo will die illegitime Beziehung zu Maína leben. Er holt
       sie zwischendurch zu sich in die Stadt, zieht dann in einem naiv anmutenden
       Versuch zu ihr. Beides bleibt schwierig. Mithilfe eines Freundes errichtet
       er eine Hütte in der Indianersiedlung an der Bundesstraße 116.
       
       ## Am Rande der Rassen- und Klassengesellschaft
       
       Er will etwas tun, hier am Rande der brasilianischen Rassen-und
       Klassengesellschaft, und mit dieser Guaraní sprechenden, geheimnisvollen
       jungen Frau, die Scott auf gewisse Weise reflektierter und entschlossener
       darstellt als den großstädtischen Paulo, zusammen sein.
       
       Doch dann rollt ein Ball auf die Bundesstraße 116, zwei Polizisten mit
       Ray-Ban-Sonnenbrillen steigen aus ihrem Auto – „sie könnten kaum
       klischeehafter wirken“ –, und das vorgezeichnete Unheil nimmt seinen Lauf.
       
       Aber nicht so, wie man nun vielleicht denken mag. Dafür hat der 1966
       geborene Scott seine Erzählung viel zu geschickt angelegt, eine wahnsinnig
       gute Squatter-Episode in London eingebaut – „Trainspotting“ auf
       brasilianisch? –, in deren Mittelpunkt neben anderen Migranten Rener aus
       Paris steht, „diese hochgewachsene Schwarze“, die sich vor der Action
       mittels Eigenblutdoping (Spritze in die Pobacke) in Schwung bringt.
       
       ## Existenzialistische Zuspitzung
       
       „Unwirkliche Bewohner“ ist sprachlich prägnant (ins Deutsche übersetzt von
       Marianne Gareis) universell und auf mehreren Ebenen komponiert. Die
       Unbedingtheit der Charaktere wirkt dabei verstörend. Sie sind bereit, alles
       hier und jetzt füreinander zu geben, suchen die zumindest temporäre
       existenzialistische Zuspitzung, mit unterschiedlichen Folgen für die
       Beteiligten in London, Porto Alegre oder eben an der Bundesstraße 116.
       
       Bei Scott liegt das allegorische Prinzip in einer als Kettenbrief
       weitergereichten Zeitung verborgen. Die Person, die die Zeitung hat,
       porträtiert darin eine andere Person, die dann als nächste die Zeitung
       erhält und die Idee fortsetzen muss. Ein subjektiv-objektives System ohne
       festgelegte Richtung. Der durch die Willkür des Individuums herbeigeführte
       Zufall ist Motor und Triebkraft einer Geschichte, die bei aller Skepsis nie
       abgeschlossen sein wird, also beeinflussbar ist.
       
       Die menschliche Form des Kettenbriefs in Scotts Roman heißt Donato und wird
       als Kleinkind am Strand von Garopaba weitergereicht, um ein anfänglich fast
       noch kolonial anmutendes Beziehungssetting gegen Ende der Erzählung
       postkolonial herauszufordern.
       
       ## Mikrokosmos einer konservativ-dörflichen Gemeinde
       
       Das im Süden Brasiliens am Atlantik gelegene Fischerstädtchen Garopaba
       spielt auch die Hauptrolle in dem bemerkenswerten Roman „Flut“. Der 1979
       geborene Daniel Galera hat ihn verfasst, und er ist ebenfalls vorzüglich
       geschrieben (Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner). Ist Scotts Roman
       als eine Reise in eine nahende, aber noch utopische Zukunft zu verstehen,
       so verankert der eine Generation jüngere Galera den zu erforschenden Mythos
       in der Vergangenheit. Die große Politik ist dabei völlig abwesend.
       Erforscht wird der Mikrokosmos einer konservativ-dörflichen Gemeinde.
       
       Galera hat sich einen Helden von 33-Jahren geschaffen, kein
       Intellektueller, ein Triathlet, der als Lauf- und Schwimmlehrer sein Geld
       verdient. In der dramatischen Eingangsszene von „Flut“ hat der Vater den
       Erzähler einbestellt. Eine Pistole liegt auf dem Tisch. Die Familie des
       Erzählers liegt in Trümmern, Eltern geschieden, der Bruder ist mit seiner
       Ex verheiratet.
       
       Der Vater eröffnet dem Sohn wider dessen Willen, dass er sich erschießen
       würde (er ist todkrank, will nicht mehr), dass der Sohn sich um die Hündin
       Beta kümmern müsse (er solle sie einschläfern lassen) und dass sein
       Großvater, der Gaucho – „er hatte die Kraft eines Pferdes“ – Ende der
       1960er Jahre ermordet worden sei.
       
       ## Es gab nie eine Leiche
       
       In Garopaba, bei einem Dorffest: „Als das Fest richtig in Gang ist, geht
       plötzlich das Licht aus. Und als es eine Minute später wieder angeht, liegt
       mitten im Saal der Gaucho mit zig Stichwunden in einer Blutlache. Alle
       haben ihn getötet, oder anders gesagt niemand. Die Stadt hat ihn getötet.“
       So hat es der ermittelnde Kommissar damals gesagt. Nur, es gab nie eine
       Leiche.
       
       Der Vater wird sich erschießen, der Erzähler in Galeras Roman die Hündin
       Beta nicht einschläfern, sondern mit nach Garopaba nehmen, um dort die Spur
       des familiären Mythos wieder aufzunehmen. Was war damals wirklich
       geschehen? Doch in Garopaba stößt er auf eine Mauer des Schweigens. Der
       Erzähler ist zwar offenkundig freundlicher geraten als sein mysteriöser
       Großvater, doch er hat dessen Sportlichkeit, Sturheit und Aussehen geerbt.
       
       In vielem – der Körperlichkeit, den nihilistischen Zügen – gleichen sich
       die Figuren aus Scotts und Galeras Romanen. Nur ist die Konfrontation mit
       dem Außen bei Galera deutlich härter ausgefallen, das konservative
       Gegenüber greifbarer wie auch am Ende die verstockte und unerreichbare
       Gestalt aus dem Wald. Es ist bei „Flut“ ein Ringen mit sich selbst, mit
       einem etwas arg bizarren, doch nicht fatalistischen Ende. Die Geschichte
       wiederholt sich nicht.
       
       15 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
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