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       # taz.de -- Friedenspreisträgerin Alexijewitsch: Rede von Swetlana Alexijewitsch
       
       > Die Dokumentation der Rede der weißrussische Autorin Swetlana
       > Alexijewitsch zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
       
   IMG Bild: Das Denkmal „Maske der Trauer“ für die Opfer des Gulags in der Region Kolyma
       
       Ich möchte Sie als „liebe Nachbarn in der Zeit“ ansprechen. Wir haben nicht
       nur die gleichen Smartphones in der Tasche, uns eint mehr – die gleichen
       Ängste und Illusionen, die gleichen Verlockungen und Enttäuschungen. Es
       erschreckt uns alle, dass das Böse immer raffinierter und unbegreiflicher
       wird. Wir können nicht mehr wie die Helden Tschechows ausrufen, in hundert
       Jahren würde der Himmel voller Diamanten und der Mensch wunderbar sein. Wir
       wissen nicht, wie der Mensch sein wird. In Dostojewskis „Legende vom
       Großinquisitor“ wird über die Freiheit gestritten. Darüber, dass der Weg
       der Freiheit schwer ist, qualvoll und tragisch...
       
       „Warum zum Teufel müssen wir überhaupt erkennen, was gut und böse ist, wenn
       es uns so teuer zu stehen kommt?“
       
       Der Mensch muss sich die ganze Zeit entscheiden: Freiheit oder Wohlstand
       und gutes Leben, Freiheit mit Leiden oder Glück ohne Freiheit. Die meisten
       Menschen gehen den zweiten Weg.
       
       „Der Großinquisitor sagt zu Jesus, der auf die Erde zurückgekehrt ist: ‚Was
       bist Du gekommen, uns zu stören? Denn uns zu stören bist Du gekommen, und
       Du selbst weißt es wohl.‘ ‚Indem Du ihn [den Menschen] so hoch achtetest,
       hast Du gehandelt, als hättest Du kein Erbarmen mehr mit ihm, denn zuviel
       hast Du von ihm gefordert. [...] Hättest Du ihn geringer geachtet, hättest
       Du auch weniger von ihm gefordert, und das wäre der Liebe näher gekommen,
       hätte es doch sein Joch erleichtert.
       
       Schwach ist der Mensch und gemein. [...] Was kann die schwache Seele dafür,
       dass sie nicht die Kraft hat, so furchtbare Gaben aufzunehmen?‘ ‚Es gibt
       für den Menschen, solange er frei ist, keine dauernde und bedrückendere
       Sorge als so bald wie möglich etwas zu finden, das er anbeten kann. [...]
       und keine quälendere Sorge, als jemanden zu finden, dem er so schnell wie
       möglich das Ge- schenk der Freiheit abtreten kann, mit der dieses
       beklagenswerte Geschöpf geboren wird.‘“
       
       Ich habe den größten Teil meines Lebens in der Sowjetunion verbracht. Im
       kommunistischen Versuchslabor. Auf dem Tor des schrecklichen Lagers auf den
       Solowki-Inseln hing die Losung: „Mit eiserner Hand zwingen wir die
       Menschheit zum Glück“.
       
       Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan – den alten Menschen, den
       alten Adam, umzumodeln. Und das ist gelungen. Es ist vielleicht das
       Einzige, was gelungen ist. In etwas über siebzig Jahren ist ein neuer
       Menschentyp entstanden: der Homo sovieticus. Die einen betrachten ihn als
       tragische Gestalt, die anderen nennen ihn „Sowok“. Wer aber ist er? Ich
       glaube, ich kenne diesen Menschen, er ist mir vertraut, ich habe viele
       Jahre Seite an Seite mit ihm gelebt. Er ist ich. Das sind meine Bekannten,
       meine Freunde, meine Eltern. Mein Vater, er ist vor kurzem gestorben, ist
       bis ans Ende seines Lebens Kommunist geblieben.
       
       Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast
       vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen
       Chronik: Revolution, Gulag, Krieg ... Tschernobyl ... der Untergang des
       „roten Imperiums“ ... Ich folgte der Sowjetzeit. Hinter uns liegen ein Meer
       von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der
       „kleine Mensch“ von sich.
       
       Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos,
       er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. Ich gehe zu denen, die keine
       Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist
       für mich ein Chor, eine Sinfonie. Es ist unendlich schade, wie vieles ins
       Nichts gesagt, geflüstert, geschrien wird. Nur einen kurzen Augenblick lang
       existiert.
       
       Im Menschen und im menschlichen Leben gibt es vieles, worüber die Kunst
       nicht nur noch nie gesprochen hat, sondern wovon sie auch nichts ahnt. Das
       alles blitzt nur kurz auf und verschwindet, und heute verschwindet es
       besonders schnell. Unser Leben ist sehr schnell geworden. Flaubert sagte
       von sich, er sei „ein Mensch der Feder“, ich kann von mir sagen: Ich bin
       ein Mensch des Ohres.
       
       Jeder von uns trägt ein Stück Geschichte in sich, der eine ein großes, der
       andere ein kleines, und aus all dem entsteht die große Geschichte. Die
       große Zeit. Ich suche den Menschen, der eine Erschütterung erlebt hat...
       durch die Begegnung mit dem Mysterium des Lebens, mit einem anderen
       Menschen. Manchmal werde ich gefragt: Reden die Leute wirklich so schön?
       Der Mensch spricht nie so schön wie in der Liebe und in der Nähe des Todes.
       Wir Menschen aus dem Sozialismus sind wie alle Menschen, und wir sind
       anders, wir haben unsere eigenen Vorstellungen von Helden und Märtyrern.
       Und ein besonderes Verhältnis zum Tod.
       
       Stimmen... Stimmen... sie sind in mir... verfolgen mich...
       
       Ich erinnere mich an einen hochgewachsenen schönen Greis, der noch Stalin
       gesehen hat. Was für uns ein Mythos war, war für ihn sein Leben. 1937 wurde
       zuerst seine Frau verhaftet, sie ging ins Theater und kam nicht zurück, und
       drei Tage später wurde auch er abgeholt.
       
       „Sie schlugen mich mit einem Sack voll Sand auf den Bauch. Alles wurde aus
       mir herausgepresst wie aus einem zerquetschten Wurm. Sie hängten mich an
       Haken auf. Mittelalter! Alles läuft aus dir raus, du hast deinen Körper
       nicht mehr unter Kontrolle. Überall fließt es aus dir heraus... Diesen
       Schmerz auszuhalten... Diese Scham! Sterben ist leichter...“
       
       1941 wurde er entlassen. Er hatte lange darum gekämpft, an die Front zu
       dürfen. Aus dem Krieg kam er mit Orden zurück. Er wurde ins Parteikomitee
       bestellt, und dort sagte man zu ihm: „Ihre Frau können wir Ihnen leider
       nicht zurückgeben, aber Ihr Parteibuch bekommen Sie zurück...“ „Und ich war
       glücklich!“, sagte er. Ich konnte seine Freude nicht verstehen.
       
       „Man darf uns nicht nach den Gesetzen der Logik beurteilen. Verdammte
       Buchhalter! Verstehen Sie doch! Uns kann man nur nach den Gesetzen der
       Religion beurteilen. Des Glaubens!“
       
       Oder eine andere Geschichte... „Ich hing sehr an unserer Tante Olja. Sie
       hatte lange Haare und eine schöne Stimme. Als ich erwachsen war, erfuhr
       ich, dass Tante Olja ihren leiblichen Bruder denunziert hatte, der dann im
       Lager umkam. In Kasachstan. Sie war schon alt, und ich fragte sie: ‚Tante
       Olja, warum hast du das getan?‘ ‚Wo hast du zur Stalin- zeit einen
       redlichen Menschen gesehen?‘ ‚Bereust du, was du getan hast?‘ ‚Ich war
       damals glücklich. Ich wurde geliebt.‘ Verstehen Sie, das Böse, das ist nie
       chemisch rein... Das sind nicht nur Stalin und Berija, das ist auch die
       schöne Tante Olja...“
       
       Ich hörte diese Stimmen seit meiner Kindheit. In dem weißrussischen Dorf,
       in dem ich aufgewachsen bin, lebten nach dem Krieg nur noch Frauen, sie
       arbeiteten von früh bis zum Dunkelwerden, am Abend aber graute ihnen vor
       ihren leeren Hütten, sie gingen hinaus auf die Straße, saßen auf Bänken
       zusammen. Und redeten über den Krieg, über Stalin, über ihren Kummer. Von
       ihnen hörte ich, dass der Krieg im Frühling und im Herbst am schlimmsten zu
       ertragen war, wenn die Vögel fortzogen oder wiederkehrten; sie wussten ja
       nichts von den Angelegenheiten der Menschen. Sie gerieten oft in
       Artilleriebeschuss. Zu Tausenden stürzten sie vom Himmel.
       
       Die Frauen sprachen über Dinge, die ich mit meinem kindlichen Verstand
       nicht begriff, aber im Gedächtnis behielt. Wie ganze Dörfer mit allen
       Einwohnern niedergebrannt wurden. Wer weglaufen und sich in den Sümpfen
       verstecken konnte, kehrte nach einigen Tagen an einen leeren Ort zurück.
       Keine Menschenseele mehr, nur noch Asche. Und zwei zufällig im
       Kolchosgarten vergessene Pferde. „Wir dachten: Dass sich die Leute nicht
       schämen, so etwas vor Tieren zu tun! Die Pferde haben ihnen doch
       zugesehen...
       
       Oder dies... Vor der Erschießung warfen junge SS- Soldaten Bonbons in die
       Grube, in der sie jüdische Kinder lebendig begruben...
       
       Oder dies über Partisanen... Sie nahmen aus dem Ghetto geflohene Juden in
       ihre Abteilung auf. Die- se Partisanen kämpften tapfer gegen den Feind, in
       ihrer Freizeit aber vergewaltigten sie das „Jiddenmädchen“ Rosa. Dann wurde
       sie schwanger, und die Partisanen erschossen sie...
       
       Bei Nietzsche heißt es: „Kultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über dem
       glühenden Chaos.“ „Der Mensch ist fließend“, schrieb Tolstoi, alles hinge
       davon ab, was in ihm die Oberhand gewinne. Die Ideen sind schuld, aber auch
       der Mensch selbst ist schuld. Vor allem er selbst. Er trägt die
       Verantwortung für sein Leben. Erinnern Sie sich? „Wo hast du in der
       Stalinzeit einen redlichen Menschen gesehen?“, rechtfertigte sich die
       schöne Tante Olja vor ihrem Tod. Ungeheuerlich, unsagbar und unvorstellbar
       ist die „Banalität des Bösen“ in „finsteren Zeiten“.
       
       Was ich auf der Straße hörte, konnte ich in den Büchern im Haus meiner
       Eltern, die beide Lehrer auf dem Land waren, nicht finden. Wie alle trug
       auch ich das Abzeichen mit dem lockenköpfigen Lenin als Kind. Ich träumte
       davon, Pionier zu wer- den und Komsomolzin. Ich bin diesen Weg bis ans Ende
       gegangen...
       
       Erinnerungen sind ein launisches Ding. Da legt der Mensch alles hinein: Wie
       er gelebt, was er in der Zeitung gelesen und im Fernsehen gesehen hat, wem
       er in seinem Leben begegnet ist. Und ob er glücklich war oder nicht.
       Zeitzeugen sind weniger Zeugen, sie sind vielmehr Schauspieler und
       Geschichtenerfinder. Man kann sich der Realität nicht vollkommen annähern,
       zwischen der Realität und uns stehen unsere Gefühle. Ich weiß, dass ich es
       mit Versionen zu tun habe, jeder hat seine eigene Version, und daraus, aus
       ihrer Gesamtheit und ihrer Schnittmenge, entsteht das Bild der Zeit und der
       Menschen, die in ihr gelebt haben.
       
       Genau dort, in der warmen menschlichen Stimme, in der lebendigen
       Widerspiegelung der Vergangenheit, verbirgt sich die ursprüngliche Freude
       und offenbart sich die unabwendbare Tragik des Lebens. Sein Chaos und seine
       Leidenschaft. Seine Einzigartigkeit und seine Unbegreiflichkeit. Alles ist
       echt.
       
       Ich habe eine Geschichte des „häuslichen“, des „inneren“ Sozialismus
       geschrieben. Darüber, wie er in der menschlichen Seele aussah. Eine Ge-
       schichte der Gefühle: Was der Mensch über sich selbst gelernt, was er aus
       sich geschöpft hat. Die ganze Welt seines Lebens. Das Kleinste und
       Menschlichste. Meine Aufzeichnungen habe ich in Wohnungen und in Dorfhütten
       gemacht, auf der Straße, in Cafés und im Zug. Im Frieden und im Krieg. In
       Tschernobyl.
       
       Stimmen... Stimmen... Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die
       Stimmen aber bleiben. Moskau. Tag des Sieges. Wir können uns noch immer
       nicht trennen von diesem Feiertag, denn ohne ihn bliebe nur der Gulag.
       
       „Nach dem Gefecht gehst du über ein Feld, die Toten sind darüber verstreut
       wie Kartoffeln. Und schauen zum Himmel. Alle sind jung und schön. Sie tun
       dir leid, die einen wie die anderen. Töten ist unangenehm. Du willst
       überhaupt nicht töten.“
       
       „Als der Krieg vorbei war, habe ich mich lange gescheut, zum Himmel zu
       blicken. So viele unserer jungen Männer waren gefallen! Nach dem Gefecht
       warfen wir die Toten in eine Grube und liefen weiter. Am nächsten Morgen
       wieder eine volle Grube. Wir marschierten von Grube zu Grube.“
       
       Kabul 1988. Ein afghanisches Hospital. Eine junge Afghanin, ein Kind auf
       dem Arm. Ich gehe hin und reiche dem Kind einen Plüschteddy, und es nimmt
       ihn mit den Zähnen. „Warum nimmt er ihn mit den Zähnen?“, frage ich. Die
       Afghanin reißt die dünne Decke herunter, in die der Kleine eingewickelt
       ist, und ich sehe einen kleinen Rumpf ohne Arme und Beine. „Das haben deine
       Russen gemacht.“ „Sie versteht nicht“, erklärt mir ein sowjetischer
       Hauptmann, der daneben steht, „wir haben ihnen den Sozialismus gebracht.“
       „Geh nach Hause und bau da den Sozialismus auf. Warum bist du
       hergekommen?“, sagt ein alter Afghane, ihm fehlt ein Bein. Ich erinnere
       mich an einen riesigen Saal – er war menschenleer... „Das haben deine
       Russen gemacht.“
       
       In einer Kaserne. Verstörte Gesichter unserer Jungen, die nicht verstehen,
       wofür sie hier sterben. Sie antworten mir böse: Schießen oder nicht
       schießen, solche Fragen stellt man nach dem Krieg. Wenn du schießt, tötest
       du als Erster, tötest du nicht, wirst du getötet. Alle wollen nach Hause
       zurückkehren. Zu ihrer Mutter...
       
       Manche wurden mit Wodka betrunken gemacht, in ein Flugzeug gesetzt, und in
       der Nacht waren sie in Kabul. Sie heulten, schrien, griffen die Offiziere
       an. Zwei brachten sich um. Erhängten sich auf der Toilette. Andere kamen
       freiwillig her. Kin- der von Dorfschullehrern, von Ärzten ... sie wurden
       dazu erzogen, der Heimat zu vertrauen...
       
       In einem Jahr werden sie heimkehren, und die Heimat, die sie zum Morden
       geschickt hat, wird nicht mehr existieren. Das große kommunistische
       Experiment wird vor ihren Augen enden ...
       
       Die Explosion in Tschernobyl... ich fuhr hin... auf dem Reaktorgelände
       liefen Männer mit Maschinenpistolen herum, standen einsatzbereite
       Militärhubschrauber. Niemand wusste, was tun, aber alle waren ohne zu
       zögern bereit zu sterben. Das haben wir gelernt.
       
       Ich schrieb mit... das waren ganz neue Texte...
       
       Die Feuerwehrleute, die in der ersten Nacht das Feuer bekämpft hatten,
       starben einer nach dem anderen. Ein Atomreaktor brannte, sie aber wurden
       gerufen wie zu einem ganz normalen Einsatz, sie hatten keine Schutzkleidung
       dabei. Sie bekamen Strahlendosen ab, die mehr als hundertfach über der Norm
       lagen. Tödliche Dosen. Die Ärzte ließen die weinenden Ehefrauen nicht zu
       ihnen.
       
       „Nicht nahe rangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr
       der geliebte Mensch, das ist ein strahlenverseuchtes Objekt.“
       
       In einem Umkreis von dreißig Kilometern um das Kraftwerk herum verließen
       Zigtausende Menschen ihre Häuser – für immer. Aber noch glaubte das
       niemand. Volle Busse und eine Stille wie auf einem Friedhof. Um die Busse
       drängten sich Hau- stiere – Hunde, Katzen. Die Tiere wurden zurück-
       gelassen. Die Menschen wagten nicht, ihnen in die Augen zu sehen.
       
       „Die Vögel am Himmel ... die Tiere im Wald ... wir alle haben sie verraten.
       Unserem geliebten Hund Scharik haben wir einen Zettel dagelassen: ‚Verzeih
       uns, Scharik!‘“
       
       Leiden ist unsere Gabe und unser Fluch. Der große Streit der russischen
       Literatur: Solschenizyn behauptete, Leiden mache den Menschen besser, aus
       dem Lager komme der Mensch zurück wie aus dem reinigenden Fegefeuer,
       Schalamow dagegen war überzeugt, dass die Lagererfahrung den Menschen
       verderbe, dass die Lagererfahrung nur im Lager gebraucht werde. Die Zeit
       hat gezeigt, dass Schalamow recht hatte. Der Mensch, den der Sozialismus
       hinterlassen hat, verstand sich nur auf das Leben im Lager.
       
       Die 90er Jahre... alle redeten von der Freiheit... warteten auf ein Fest,
       doch das Land um sie herum war zerstört. Veraltete Betriebe wurden
       geschlossen, unzählige Militärstädtchen starben, es gab plötzlich Millionen
       Arbeitslose, die schlechten Wohnungen aber kosteten auf einmal Geld, eben-
       so medizinische Versorgung und Bildung. Alles lag in Trümmern...
       
       Wir entdeckten, dass Freiheit nur auf der Straße ein Fest war, im Alltag
       aber war das etwas ganz anderes. Freiheit ist eine anspruchsvolle Pflanze,
       sie gedeiht nicht an jedem Ort, aus dem Nichts. Allein aus unseren Träumen
       und Illusionen.
       
       Ich erinnere mich, wie erschüttert ich war, als ich im Gerichtssaal, wo der
       Prozess gegen mein Buch „Zinkjungen“ begann, ich war wegen Verleumdung der
       Sowjetarmee verklagt worden, die Mutter eines gefallenen Soldaten
       entdeckte. Das erste Mal waren wir uns am Sarg ihres Sohnes begegnet, er
       war ihr einziges Kind gewesen, sie hatte ihn allein großgezogen.
       Verzweifelt schlug sie mit dem Kopf auf den Sarg und flüsterte: „Wer liegt
       da drin? Bist du da drin, mein Junge? Der Sarg ist so klein, und du warst
       doch so groß. Wer ist da drin?“
       
       Als sie mich sah, rief sie: „Erzähl die ganze Wahrheit! Sie haben ihn zur
       Armee geholt. Er ist Tischler, er hat für die Generale Datschen renoviert.
       Sie haben ihm nicht mal das Schießen beigebracht. Dann haben sie ihn in den
       Krieg geschickt, und dort wurde er gleich im ersten Monat getötet.“ Im
       Gerichtssaal fragte ich sie: „Warum sind Sie hier? Ich habe die Wahrheit
       geschrieben.“ „Ich brauche deine Wahrheit nicht! Ich will, dass mein Sohn
       ein Held war!“ Vor Gericht traf ich einen Granatwerferschützen wieder, der
       im Krieg erblindet ist... Der arme schreckliche „rote Mensch“!
       
       Neue Stimmen fielen einander ins Wort ...
       
       „Die Neunziger... wunderbare Jahre, das Beste, was ich je erlebt habe. Ein
       Schluck Freiheit...“
       
       „Wenn es um die Neunziger geht... ich würde nicht sagen, dass das eine
       schöne Zeit war, sie war abscheulich. Eine Hundertachtzig-Grad- Wende in
       den Köpfen ... manche haben das nicht ausgehalten und wurden verrückt,
       andere haben sich umgebracht. Auf den Straßen wurde ständig geschossen.
       Unglaublich viele Menschen wurden ermordet. Jeden Tag gab es kriminelle
       Auseinandersetzungen. Sie teilten Russland unter sich auf... jeder wollte
       etwas an sich reißen, den anderen zuvorkommen..
       
       Ich weiß sehr gut, was ein Traum ist. Meine ganze Kindheit lang wünschte
       ich mir ein Fahrrad, aber ich bekam keins. Wir waren arm. In der Schule
       habe ich unter der Hand mit Jeans gehandelt, am Institut mit sowjetischen
       Armeeuniformen und diversem Sowjetkram. Die Ausländer kauften das. Das war
       gewöhnlicher Schwarzhandel. Zu Sowjetzeiten bekam man dafür zwischen drei
       und fünf Jahren Gefängnis. Mein Vater rannte mit dem Riemen hinter mir her
       und schrie: ‚Du Spekulant! Ich habe vor Moskau Blut vergossen, und mein
       Sohn macht solche Scheiße!‘
       
       Was gestern noch als Verbrechen gegolten hatte, war nun ein Geschäft. Ich
       kaufte an einem Ort Nägel und woanders Absatzflicken, packte das zusammen
       in eine Plastiktüte und verkaufte es als neue Ware. Ich brachte Geld nach
       Hause und kaufte ein, der Kühlschrank war immer voll. Meine Eltern
       rechneten dauernd damit, dass man mich verhaften würde. (Er lacht laut.)
       Ich handelte mit Haushaltswaren. Mit Schnellkochtöpfen und Dampfgarern.
       Einen ganzen Autoanhänger mit dem Zeug hab ich aus Deutschland
       hergeschafft. Das ging haufenweise weg...
       
       In meinem Zimmer stand ein alter Computerkar- ton voller Geld, nur so war
       das Geld für mich real. Du nimmst immer wieder Geld aus dem Karton, und es
       wird nicht alle. Ich hatte mir im Grunde schon alles gekauft: ein Auto,
       eine Wohnung... eine Rolex... ich erinnere mich an diesen Rausch ... du
       kannst dir alle deine Wünsche erfüllen, alle deine geheimen Phantasien. Ich
       habe viel über mich selbst erfahren: erstens, dass ich keinen Geschmack
       habe, und zweitens, dass ich Komplexe habe. Ich kann nicht mit Geld
       umgehen. Ich wusste nicht, dass viel Geld arbeiten muss, dass es nicht
       einfach so rumliegen darf. Geld ist für den Menschen genauso eine
       Versuchung wie Macht oder die Liebe... ich träumte... und fuhr nach Monaco.
       Im Casino von Monte Carlo verspielte ich viel Geld, sehr viel. Ich konnte
       nicht aufhören... ich war ein Sklave meines Kartons. Ist noch Geld drin
       oder nicht? Wie viel?
       
       Es musste immer mehr und mehr sein. Ich interessierte mich für nichts mehr,
       wofür ich mich früher interessiert hatte. Politik... Kundgebungen...
       Sacharow war gestorben. Ich ging mit zum Abschiednehmen. Hundert- tausende
       Menschen... alle weinten, auch ich weinte. Und jetzt stand kürzlich über
       ihn in einer Zeitung: ‚Ein großer Narr Russlands ist gestorben.‘ Da dachte
       ich: Er ist zur rechten Zeit gestorben. Als Solschenizyn aus Amerika
       zurückkam, haben sich alle auf ihn gestürzt. Aber er verstand uns nicht,
       und wir verstanden ihn nicht. Ein Ausländer. Er wollte zurück nach
       Russland, aber draußen war Chicago...
       
       Was ich ohne die Perestroika heute wäre? Ein kleiner Ingenieur mit
       lächerlichem Gehalt... (Er lacht.) Und jetzt habe ich meine eigene
       Augenklinik. Mehrere Hundert Menschen mitsamt ihren Familien, ihren
       Großmüttern und Großvätern sind von mir abhängig. Leute wie Sie wühlen in
       ihrem Inneren herum, reflektieren – ich habe dieses Problem nicht. Ich
       arbeite Tag und Nacht. Ich habe brandneue Ausrüstungen gekauft und meine
       Chirurgen zum Praktikum nach Frankreich geschickt. Aber ich bin kein
       Altruist, ich verdiene gut. Ich habe alles selbst erreicht ... ich hatte
       nur dreihundert Dollar in der Tasche ...
       
       Angefangen habe ich mit Partnern, bei deren An- blick Sie in Ohnmacht
       fallen würden, wenn die jetzt hier reinkämen. Gorillas! Grimmiger Blick!
       Die sind nicht mehr da, sie sind verschwunden wie die Dinosaurier. Ich bin
       mit einer kugelsicheren Weste rumgelaufen, auf mich wurde auch schon
       geschossen. Wenn jemand schlechtere
       
       Wurst isst als ich, kümmert mich das nicht. Ihr habt den Kapitalismus doch
       alle gewollt. Habt davon geträumt! Also schreit jetzt nicht, dass man euch
       betrogen hat ...“
       
       Es gibt wenige Gewinner, aber viele Verlierer. Und zwanzig Jahre danach
       lesen die jungen Leute wieder Marx. Wir hatten gedacht, der Kommunismus sei
       tot, aber diese Krankheit ist chronisch. In den Küchen werden noch immer
       die gleichen Gespräche geführt: Was tun und wer ist schuld? Da wird von
       einer eigenen Revolution geträumt. Umfragen zufolge sind die Menschen für
       Stalin, für eine „starke Hand“ und für den Sozialismus. Das Ende des „roten
       Menschen“ ist aufgeschoben. Ein alter KGB-Mann erklärte mir gegenüber im
       Zug ganz offen: „Ohne Stalin geht bei uns nichts. Was ist der Mensch? Ramm
       ihm ein Stuhlbein in den Hintern, und er ist kein Mensch mehr. Nur noch
       physisch. Ha-ha.“ Das hatte ich schon mal gehört...
       
       Alles wiederholt sich... in Russland... in meinem kleinen Weißrussland
       gehen Tausende junge Leute erneut auf die Straße. Sitzen im Gefängnis. Und
       reden über die Freiheit.Vor der Revolution von 1917 schrieb der russische
       Schriftsteller Alexander Grin: „Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz.“
       Auch jetzt ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz ... Manchmal frage ich
       mich, warum ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin. Um den
       Menschen zu finden...
       
       Zum Schluss möchte ich den Mitgliedern der Jury für die hohe, mir erwiesene
       Ehre danken. Danken möchte ich auch dem deutschen und dem schwedischen
       PEN-Zentrum und den französischen Schriftstellern, die mich in einer
       schwierigen Situation unterstützt haben, als ich aus politischen Gründen
       meine Heimat verlassen musste. Mein Dank gilt auch meiner langjährigen
       Verlegerin Elisabeth Ruge, die mich seit Jahrzehnten begleitet, und meiner
       Agentin Galina Dursthoff.
       
       Ich danke allen meinen Helden, die ihr Geheimnis mit mir geteilt, mir ihr
       Leben erzählt haben. Viele von ihnen leben nicht mehr. Aber ihre Stimmen
       bleiben. Ich danke Ihnen allen.
       
       Aus dem Russischen übersetzt von Ganna Maria Braungardt.
       
       13 Oct 2013
       
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