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       # taz.de -- Interview mit Pirat Martin Delius: „Es ist viel mehr drin“
       
       > Der Berliner Piraten-Abgeordnete Martin Delius über die verlorene
       > Bundestagswahl, das Ende des Hypes und die Chancen bei der Europawahl.
       
   IMG Bild: „Wir brauchen die Europawahl“: Der Berliner Pirat Martin Delius auf einer Demo im September
       
       taz: Herr Delius, gerade mal 2,2 Prozent erreichten die Piraten bundesweit
       bei der Bundestagswahl: Wie viel Mitleid und Häme müssen Sie von
       Parlamentarieren anderer Fraktionen im Abgeordnetenhaus jetzt ertragen? 
       
       Martin Delius: Keinerlei. Dafür sind wir Abgeordneten fast alle
       professionell genug – mal abgesehen von einigen Unverbesserlichen, die uns
       als Splitterpartei bezeichnen.
       
       Es käme wahrscheinlich einigen entgegen, wenn Sie zur Splitterpartei
       würden: Gab es schon Abwerbeversuche in ihrer Fraktion? 
       
       Ich sage es mal so: Es ist natürlich sehr attraktiv für andere Parteien,
       durch gezieltes Abwerben einzelner Mitglieder der Piratenpartei jetzt den
       Gnadenstoß zu geben. Und natürlich gibt es Annäherungsversuche – auch bei
       mir.
       
       Interessieren sich denn Abgeordnete anderer Fraktionen für ihre Lage? 
       
       Natürlich werden wir gefragt: „Wie geht ihr mit der Niederlage um?“ Sehen
       Sie: Wir arbeiten kontinuierlich und intensiv mit, etwa am Haushalt. In
       allen Fachbereichen stellen wir Anträge, loten Gegenfinanzierungen aus,
       sprechen mit Betroffenen. Das hat eine ganz andere Qualität als noch bei
       den letzten Haushaltsberatungen vor zwei Jahren – da waren wir ja gerade
       erst gewählt. Das merken auch die Kollegen.
       
       Die Wähler haben das aber nicht gemerkt. 
       
       Das stimmt. Wir haben ein wahnsinnig schlechtes Marketing. Und wir haben
       uns in Zeiten des Hypes nur auf den Selbstläufereffekt verlassen. Alle
       Zeitungen haben geschrieben: Die Piraten sind die Rettung der Demokratie,
       alles wird neu und schick. Darauf ließ sich natürlich trefflich ausruhen.
       
       Und nun? 
       
       Jetzt ist der Hype vorbei, die Partei beruhigt sich, die Mitgliederstürme
       haben nachgelassen.
       
       Nachgelassen? Ihre Partei verliert konstant Mitglieder. 
       
       Das gehört zur Konsolidierung der Personalfrage. Und es hilft auch: Die
       Leute lernen sich jetzt besser kennen. Das reicht aber nicht, um ein
       Verkaufselement nach draußen zu transportieren. Es ist wirklich schwere
       Arbeit, sich zu profilieren, wenn man im Parteiensystem angekommen ist.
       
       Die Piraten sind im Parteiensystem angekommen? 
       
       Ja. Wir sind ja nicht eingebrochen, sondern haben den Stimmenanteil
       erreicht, den wir vor dem Hype hatten. Manche sagen, das ist unser
       Markenkern. Soweit würde ich nicht gehen: Ich glaube eher, das ist unsere
       Grundlage, ohne dass wir viel Arbeit in die Partei stecken.
       
       Sie haben aber im Wahlkampf viel Arbeit in die Partei gesteckt. Sind die
       2,2 Prozent jetzt der Anfang vom Ende? 
       
       Nein, es ist viel mehr drin. Nur müssen wir beginnen, dafür zu arbeiten.
       Wir müssen Persönlichkeiten aufbauen, die glaubwürdig sind in unseren
       Themenfeldern. Der Ausgang der Bundestagswahl zeigt, dass in Fragen des
       Internets, Datenschutz, Urheberrechts eine Piratenpartei notwendiger denn
       je ist. Es wird keine NSA-Aufklärung geben mit Schwarz-Rot im Bund, und
       auch nicht mit Schwarz-Grün.
       
       Nun war das Thema NSA im Wahlkampf präsent … 
       
       Warum wird immer uns vorgeworfen, wir würden nichts aus dem Thema machen?
       Genauso könnte man auch fragen, warum die SPD nichts daraus macht. Aber Sie
       haben recht: Wir haben die Bedeutung des Themas nicht genügend vermittelt
       und auch keine Bündnispartner dafür gesucht. Und wir haben mit zu vielen,
       wenn auch kompetenten, Stimmen gleichzeitig gesprochen.
       
       Sie haben gerade vom Aufbau von Persönlichkeiten gesprochen. Was ist mit
       Ihnen? Sie sind eines der Aushängeschilder der Piraten, als Vorsitzender
       des BER-Untersuchungsausschusses sind Sie häufiger als andere
       Fraktionskollegen in den Medien. 
       
       Ich werde als einer der wenigen Piraten bundesweit überhaupt in der
       Öffentlichkeit auf unsere Partei angesprochen, etwa beim Einkaufen.
       Manchmal ist das unangenehm, wenn gerade ein Bundesvorstand – auf gut
       Deutsch – Blödsinn erzählt hat und die Leute böse sind auf die Partei. Das
       kriege ich dann halt ab. Mein Alltag ist untrennbar verbunden mit der
       Arbeit als Piratenpolitiker.
       
       Sind Sie mitverantwortlich am Wahldebakel, weil es Ihnen nicht gelungen
       ist, ihre Persönlichkeit im Wahlkampf zu vermitteln? 
       
       Nein, es war nicht meine Veranwortung, weil ich gar nicht zur Wahl stand.
       Das muss ich schon betonen. Ich würde den Leuten quasi eine Lüge
       auftischen, wenn ich mich hingestellt und gesagt hätte: „Wählt die
       Piratenpartei wegen mir!“ Ich bin ja nicht für den Bundestag angetreten.
       
       Das ist ein schönes demokratisches Ideal… 
       
       …ein sehr wichtiges sogar…
       
       …aber im Wahlkampf geht es ja auch um die Vermittlung von Inhalten der
       Partei. 
       
       Das habe ich getan bei Veranstaltungen, die für mich Relevanz hatten. So
       war ich der einzige geladene Parteivertreter bei dem Protest der
       Flugroutengegner vor dem Kanzleramt. Das habe ich genutzt, um Wahlkampf zu
       machen. Aber es wäre der völlig falsche Ansatz gewesen, so zu tun, als wäre
       zum Beispiel ich als Abgeordneter des Berliner Landesparlaments ein Ersatz
       für den nicht gekürten Spitzenkandidaten.
       
       Aber Sie selbst verlangen doch profilierte Köpfe. 
       
       Ja. Wir hätten den Schritt wagen können und eine Spitzenpersönlichkeit
       wählen sollen. Das wäre aber Aufgabe der Partei gewesen. Was ich tun
       konnte, habe ich getan.
       
       Jetzt verstecken Sie sich hinter Ihrer Partei. 
       
       Das sehe ich nicht so.
       
       Aber Sie verkörpern Ihre Partei. 
       
       Wer sagt denn, dass ich die Partei verkörpere?
       
       Sie werden von Bürgern im Supermarkt als Parteivertreter identifiziert. 
       
       Ich werde mit der Partei verbunden – wenn ich behauptete, ich würde die
       Partei verkörpern, wäre ich arrogant und überheblich. Ich bin eine Person,
       die durch die Arbeit in der Partei in der Öffentlichkeit bekannt geworden
       ist - und ich wünsche mir, dass es mehr solche Personen gibt. Entsprechend
       habe ich mich im Wahlkampf zurückgehalten, um so die Möglichkeit zu
       schaffen, damit sich mehr Parteimitglieder profilieren können.
       
       Sie hatten vor eineinhalb Jahren bundespolitische Ambitionen und wollten
       Geschäftsführer werden. Wäre jetzt nicht der Zeitpunkt, es nochmal zu
       probieren, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen? 
       
       Ja, das wäre es. Aber wer soll dann die ganze andere Arbeit machen? Es ist
       ein zweischneidiges Schwert. Ich bin Vorsitzender des
       BER-Untersuchungsausschusses: Das ist extrem wichtig für die Piratenpartei
       und für mich aufwändig, mich da thematisch immer weiter reinzuarbeiten.
       Deswegen wäre es eher verantwortungslos zu sagen, ich übernehme noch ein
       Parteiamt.
       
       Wer kann Ihre Partei denn sonst retten? 
       
       Wir haben die Leute dafür, sehr sehr gute sogar, nicht zuletzt durch den
       Mitgliederzuwachs 2011. Das Problem ist nur, dass wir ihnen nicht die
       notwendige Beinfreiheit geben, wie das der einstige SPD-Kanzlerkandidat
       formuliert hat. Da stellt sich etwa die Frage nach der Bezahlung der
       Vorstände oder die innerparteiliche Frage nach deren Legitimation. Unsere
       Parteitage sind die größten demokratischen Versammlungen in Deutschland,
       wenn nicht sogar weltweit. Unsere Vorstände sind extrem stark demokratisch
       legitimiert. Gleichzeitig verspüren sie aber nicht die Freiheit, das auch
       auszuüben.
       
       Nun ja, es gibt einige Einzelgänger wie den früheren Geschäftsführer
       Johannes Ponader, die durchaus Alleingänge konnten. 
       
       Ja, Ponader. Wir sollten hier aber nicht über Einzelfälle reden.
       
       An der Basis gibt es durchaus Stimmen die sagen, der Absturz bei der
       Bundestagwahl hätte vor allem heilende Wirkung für die Partei, unter
       anderem, weil es solche Alleingänger ausbremse, die sich nicht ums Wohl der
       Partei gekümmert haben. 
       
       Ich halte gar nichts von einem Rückblick, derjenige oder diese Initiative
       haben der Partei geschadet. An eine Analyse muss man systematisch rangehen.
       Dass einzelne Personen ihre Meinung kompromisslos artikulieren, auch wenn
       sie sich nicht deckt mit dem Mainstream der Partei, ist ein hohes Gut. Das
       müssen wir pflegen. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Können wir nicht
       einfach diese Leute in ihren Themenbereichen unterstützen?
       
       Bisher war die Antwort meist ein Shitstorm - ein Begriff, den ihre Partei
       in den letzten Jahren populär gemacht hat, was auch viel über sie aussagt. 
       
       Das stimmt so nicht ganz. Es gab auch viele inhaltliche Einzelkämpfer:
       Deren ganz klare Positionen sind am Ende im Wahlprogramm gelandet. Bei uns
       ist ein Basismitglied in der Lage, einen Bundesparteitag mit 2.000
       Mitgliedern davon zu überzeugen, dass sein Programmantrag zu Europas
       Finanzsystem der Beste ist, und dafür eine Mehrheit zu bekommen. Wenn er
       aber keine Zeit hat, aufgrund seiner berulichen oder privaten Situation,
       selbst seinen Programmpunkt weiter zu vertreten, dann hat er doch ein Recht
       darauf, dass das ein von der Partei legitimierter Mensch tut. Das ist die
       Unterstützung von Mitmachkultur und Basisdemokratie, die es braucht.
       
       Und wie wollen Sie diese Delegierten bestimmen? 
       
       Das entscheidet sich beim Parteitag Ende November in Bremen. Die Frage wird
       sein: Wie gestalten wir den Bundesvorstand? Werden die Themenbeauftragten
       endlich auch Sprecher? Die Lehre ist: Mehr Unterstützung, mehr Personen an
       die Öffentlichkeit, nicht nur einzelne. Und jedem einzelnen Piraten kann
       ich nur raten, keine Angst davor zu haben, sich selbst als Gesicht der
       Partei darzustellen. Man darf sich ruhig auch mal aus dem Fenster lehnen.
       
       Das ist doch eine Aufforderung für weitere Egotrips. 
       
       Nein, das ist eine Aufforderung, mit den Persönlichkeiten, die man
       legitimiert für ein Amt, verantwortungsvoll umzugehen. Und die
       Persönlichkeiten als Ressourcen zu begreifen.
       
       Risikieren Sie damit nicht das Ende des Basisprinzips? 
       
       Nein. Das hindert uns ja gar nicht daran, weiter basisdemokratisch
       Positionspapiere, Wahlprogramme zu entwickeln und selbst kurzfristige
       Entscheidungen via Liquid Feedback zu treffen.
       
       Ein Ergebnis der Bundestagswahl ist, dass auf Ihrer Berliner Fraktion nun
       noch mehr Druck lastet, es für die Gesamtpartei rauszureißen. Wie wollen
       Sie das schaffen? 
       
       Wir haben ja insgesamt vier Fraktionen in den Landtagen, und alle müssen
       zusammen arbeiten und der Partei helfen. In Berlin geht es vor allem darum,
       dass wir die extrem kleinteiligen politischen Prozesse viel besser aufs
       Ganze beziehen und diese mit Personen verbinden. Wir müssen belegen, dass
       wir unsere Wahlversprechen angegangen sind. Zum Beispiel bereiten wir
       gerade eine Studie zum fahrscheinlosen Öffentlichen Nahverkehr vor, eines
       unserer zentralen Versprechen 2011, mit dem wir immer noch verbunden werden
       – obwohl es eigentlich eine FDP-Idee Anfang der 90er war.
       
       Warum dauert es zwei Jahre, bis Sie solche eine Studie starten? 
       
       Wir haben ja fünf Jahre Zeit, um unsere Wahlversprechen umzusetzen. Wir
       haben jetzt zwei Jahre im Parlament gearbeitet – da herrscht ein
       Arbeitsalltag, der einen auch gerne mal auffrisst, der einen auch mal
       treibt. Wir müssen jetzt dahinkommen, unsere Themen zu treiben.
       
       In welchen Feldern haben sich die Piraten unverzichtbar gemacht im
       Abgeordnetenhaus? 
       
       Etwa bei der parlamentarischen Kontrolle und Transparenz. Es gibt keine
       Fraktion, die mehr Sachinformationen ans Licht der Öffentlichkeit gebracht
       hat als wir. Damit müssen wir auch hausieren gehen. Dann gibt es unseren
       BER-Watch und die ganze Frage des Aufsichtsrats der Flughafengesellschaft,
       ein Spezialthema, mit dem man aber super punkten kann. Und wir ermöglichen
       Menschen ihre Sozialleistungen einzuklagen, weil die Jobcenter aufgrund
       unserer Arbeit ihre internen Papiere und Strukturen veröffentlichen müssen.
       Letzteres kommt direkt bei den Menschen an.
       
       Die nächste große Wahl ist die Europawahl im Mai 2014. Glauben Sie, die
       Piraten schaffen den Sprung über die 3 Prozent Hürde? 
       
       Ja.
       
       Da müssen Sie sich aber noch deutlich steigern im Vergleich zur
       Bundestagswahl. 
       
       Wir haben uns in der Vergangenheit schon mal deutlich gesteigert. Ich gehe
       davon aus, dass wir das noch mal schaffen. Bei der Europawahl spielen die
       Themen, mit denen wir assoziiert werden, eine große Rolle. Wir sind eine
       klar pro-europäische Partei, und wir müssen schauen, dass wir uns gegen
       einen nationalistischen Mainstream, der sich auch in Deutschland immer mehr
       abzeichnet, positionieren.
       
       Wäre ein Scheitern bei der Europawahl schlimm? 
       
       Wir brauchen die Europawahl! Weil sie exakt unsere Themen betrifft. Auch
       die Kommunalwahlen sind wichtig für uns, weil sich die Partei dabei auf
       lokaler Ebene verfestigen kann.
       
       Welches Ziel ist realistisch? 
       
       Vier Prozent. Derzeit. Wir stapeln jetzt mal besser tief.
       
       11 Oct 2013
       
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   DIR Konrad Litschko
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