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       # taz.de -- Ausstellung „Erfindung der Kindheit“: Kinder als nachwachsende Ressource
       
       > Eine Ausstellung im Museum für Kunst und Technik in Baden-Baden
       > beschäftigt sich mit dem Konzept der Kindheit – und seiner Kolonisierung.
       
   IMG Bild: Schautafel mit Wechselbild: „Hans lacht", „Hans weint“
       
       Es war ein langes Jahrhundert. Nicht wenige Historiker sehen es schon mit
       der Französischen Revolution aufgehen und erst mit dem Ausbruch des Ersten
       Weltkriegs untergehen. Lang ist die Liste der Erfindungen, die wir diesem
       19. Jahrhundert verdanken. Ihre Wirkung schwingt bis heute nach.
       
       Dampfmaschine, Luftfahrt oder Telefon beschleunigten Produktion, Mobilität
       und Kommunikation mit einer Wucht, die nebenbei auch den Rahmen des
       damaligen Weltbildes sprengte. Charles Darwin kippte die Schöpfungslehre.
       Sigmund Freud ging auf Tauchfahrt in der menschlichen Psyche. Dass auch die
       Kindheit gleichsam ein typisches Kind dieser Ära ist, daran erinnert nun
       eine Ausstellung im Museum für Kunst und Technik in Baden-Baden.
       
       Jean-Jacques Rousseau mag mit „Émile oder über die Erziehung“ die
       ideologischen Grundlagen bereitet haben. Als schützenswertes Gut aber
       wurden Kinder erst von einem Bürgertum erkannt, das nach der
       wirtschaftlichen bald auch nach der politischen Macht greifen sollte. Zuvor
       waren Kinder in den Augen der Gesellschaft kaum mehr als geistig
       unvollendete und entsprechend nutzlose Menschen.
       
       Mit der Industrialisierung betrachtete man die Kinder als billige
       Arbeitskräfte, etwa in den flachen Flözen der Bergwerke und anderswo.
       „Jetzt ist unser Gewerbe in eine so schlimme Lage gekommen“, klagte ein
       englischer Handwerksmeister, „dass ein Mann nicht leben kann, wenn er keine
       Kinder zu seiner Hilfe hat.“ Verboten wurde die Maloche von Kindern unter
       10 Jahren in Preußen erst, als das Militär erkannte, dass diese Arbeit
       kaputte, zum Wehrdienst untaugliche Jugendliche produzierte.
       
       ## Spitzbübischer Amor und pausbäckige Putte
       
       Wenn in der Kunst zuvor Kinder dargestellt waren, stellten sie eigentlich
       keine Kinder im heutigen Sinne dar. Im Mittelpunkt der berühmten „Las
       Meninas“ von Diego Velázquez steht 1656 zwar ein fünfjähriges Mädchen,
       umringt von Zofen und einem Zwerg. Tatsächlich ist die kleine Infantin
       Margarita Teresa hier kein Kind, sondern repräsentiert das Haus Habsburg
       und damit Spanien – sie wird an den Hof nach Wien verheiratet werden, sechs
       Kinder zur Welt bringen und mit 22 Jahren sterben. Hier, am oberen Ende der
       Gesellschaft, war der Nachwuchs eine kostbare Währung auf dem
       diplomatischen Heiratsmarkt der europäischen Großmächte.
       
       Wenn es 100 Jahre davor in den flämischen Landschaften eines Pieter
       Brueghel von Kindern wimmelt, dann sollten damit nur irgendwelche
       Sinnsprüche personifiziert werden. Und die komplette christliche Malerei
       des hohen Mittelalters kennt überhaupt nur den spitzbübischen Amor, die
       pausbäckige Putte und das würdevolle Christuskind auf dem Schoß seiner
       Mutter.
       
       An diese abendländische Bildersprache knüpft das Bürgertum an, als es von
       seinen eigenen, ganz konkreten Kindern zu sprechen beginnt. Plötzlich sehen
       wir echte Kinder majestätisch auf den Knien ihrer echten Mütter thronen.
       Das Kind wird als Keim erkannt, ein kommender Erwachsener ist es, von
       blütenhafter, tendenziell mädchenhafter Geschlechtslosigkeit; die blaue
       Farbe für Jungs setzte sich erst später mit dem kaiserlichen
       Flottenprogramm durch, das die ganze Gesellschaft mobilisierte und gerade
       das Bürgertum motivierte, seine Söhne in Matrosen zu verwandeln.
       
       Auch ist der Übergang von der Personifizierung zur Person in Baden-Baden an
       zwei benachbarten Gemälden gut zu beobachten. Eine Studie von Franz von
       Lenbach zeigt bereits einen normalen Hütejungen, keine romantisierte
       Allegorie auf Christus als Hirte. Einen Schritt weiter ging Karl Blechen
       mit seinem „Hirtenknaben“, einem erschöpften Jungen mit geflickter Hose und
       dunklen Augenringen.
       
       Die Malerin Henriette Browne wiederum fing etwas völlig Neues und
       Zukunftsweisendes ein: „Die Kinderstube“, eingerichtet in pastellener
       Behaglichkeit. Ein Rückzugsort nur für Kinder, wie er im Museum auch anhand
       zeitgenössischer Exponate wie Wiegen, Kinderwagen und Bettchen nachgestellt
       ist. Darüber hinaus offenbaren Bilderfolgen, in denen der Künstler ein
       Mädchen vom Säuglingsalter bis in die Schulzeit begleitet, ein erwachtes
       Interesse an den Formen und Nuancen frühkindlicher Entwicklungen.
       
       ## Der Nachwuchs als Garant der eigenen Unsterblichkeit
       
       Dieses Interesse, das sich an allen der in Baden-Baden gezeigten Gemälde
       und Objekte ablesen lässt, war kein in erster Linie romantisches. Im Kind,
       auch dies wird klar, erkannte das 19. Jahrhundert so etwas wie einen
       genealogischen Transmissionsriemen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und
       Zukunft. Nach dem Verlust metaphysischer Gewissheiten stieg der eigene
       Nachwuchs zum Garanten nicht nur der eigenen Unsterblichkeit, sondern auch
       zum Agenten kommender Zeitalter auf.
       
       Besonders deutlich wird das in den Spielsachen, mit denen sich diese
       Ausstellung ebenfalls schmückt. Da gibt es winzige, aber funktionstüchtige
       Dampfmaschinen für den künftigen Ingenieur, kleine Bahnhöfe für den
       künftigen Lokomotivführer und Bausätze zum Ausschneiden für den künftigen
       Architekten. Die konnten sich auch an einem von den Gebrüdern Lilienthal
       entwickelten Steinbaukasten versuchen, wobei, folgte man der Anleitung, am
       Ende immer Gebäude im typisch wilhelminischen Historismus herauskamen, wie
       sie heute noch in Berlin bisweilen als U-Bahnhöfe dienen.
       
       Sehenswert auch panoramische Brett- und Würfelspiele wie etwa „Das lenkbare
       Luftschiff“. Für die Umkreisung des Berliner Rathausturmes erhält der
       Spieler zwei Marken. Geht ein „Mann über Bord“, muss ausgesetzt werden.
       Andere Spiele und Zinnfiguren bringen den jungen Untertanen die Biografie
       ihres Kaisers näher. Aber auch andere, dunklere Dinge kündigen sich an: Ein
       strategisches „Festungs- oder Belagerungsspiel“ etwa soll künftige
       Offiziere dazu ermuntern, feindliche Zitadellen einzunehmen. Die
       ästhetischen und inhaltlichen Parallelen zu den Computerspielen von heute
       sind verblüffend. Das gilt auch für manche Schulmaterialien, bei denen etwa
       Tafeln von der Größe eines iPad mit dem Motiv eines Jägers helfen sollen,
       den Buchstaben J einzuprägen.
       
       Überhaupt nimmt die schulische Erziehung den großen Raum ein, den sie
       verdient. Gezeigt werden Federhalter, Tintenfässchen oder Schulhefte, in
       denen die Schüler wie mönchische Kopisten trockene Geschäftsbriefe in
       Sütterlin abzuschreiben hatten. Die berüchtigte „schwarze Pädagogik“ mit
       ihrer Dressur triebhafter Kinder ist nicht das Thema der Ausstellung, auch
       wenn sie immer wieder anklingt – etwa auf zahlreichen Bildern, die
       unterschiedliche Varianten der Prügelstrafe für ungehorsame Knaben
       propagieren.
       
       ## Lebensraum Kindergarten
       
       Andererseits wird auch die Alphabetisierung gefeiert, etwa wenn das Mädchen
       der am Spinnrad einer vergangenen Zeit sitzenden Großmutter aus der Zeitung
       vorliest. Mit seinem eigens entwickelten Spielzeug ist natürlich auch
       Friedrich Fröbel vertreten, der Erfinder eines geschützten Lern- und
       Lebensraums namens „Kindergarten“ – diese Einrichtung war dem preußischen
       Staat wegen ihres spielerischen Charakters so verdächtig, dass er sie
       zeitweise verboten hat.
       
       Höhepunkt der sehr kleinen, aber umso feineren Ausstellung sind die
       Lithografien von Honoré Daumier. Seine damals in Zeitungen erschienenen
       Karikaturen beispielsweise zur Vaterschaft könnten auch morgen noch ohne
       Abstriche jeden Artikel zu „überforderten neuen Vätern“ illustrieren.
       Daumier idealisiert nicht, er überspitzt wie in einer satirischen
       Momentaufnahme alles – von der Tücke mancher Kinder bis zum dumpfen Stolz
       der Eltern. Kindheit erscheint hier noch als modischer Trend. Eine
       Entdeckung, die jederzeit wieder einkassiert oder vom Kommerz
       kolonialisiert werden könnte. Auch daran hat sich bis heute nichts
       geändert.
       
       Vielleicht, so legt ein Besuch in Baden-Baden nahe, ist „Kindheit“
       tatsächlich nur eine Chiffre dafür, wie wir uns selbst als nachwachsende
       Ressource begreifen und bearbeiten.
       
       13 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Arno Frank
       
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