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       # taz.de -- Inklusion an Berlins Schulen I: Den Mangel organisieren
       
       > Ein zuckerkrankes Mädchen geht auf eine Regelschule – wie Berlin das
       > will. Doch die Schulhelferstunden, die das Kind benötigt, stellt der
       > Senat nicht bereit.
       
   IMG Bild: Es wäre so schön, wenn alle gemeinsam das ABC lernen könnten...
       
       Wenn ihre Klassenkameraden in die Frühstückspause rennen und Pausenbrote
       gegen Schokolade tauschen, macht Maryem nicht mit. Das harmlose Spielchen
       wäre zu gefährlich für die Sechsjährige. Die Erstklässlerin der Neuköllner
       Karlsgarten-Grundschule ist schwer zuckerkrank. Ein Stück Schokolade oder
       ein Bonbon könnten ihren Blutzuckerspiegel gefährlich ins Ungleichgewicht
       bringen.
       
       Maryem ist laut ärztlichem Attest zu 50 Prozent körperbehindert – sie
       braucht ständige Betreuung, weil ihr Blutzucker noch nicht so stabil
       eingestellt ist wie bei einem Erwachsenen. Maryem merkt noch nicht, wann
       sie über- oder unterzuckert. Ihre Eltern schicken sie trotzdem auf eine
       normale Grundschule. „Maryem ist intelligent“, sagt ihr Vater Mohamed
       Mansour. „Warum sollten wir sie auf eine Förderschule geben?“
       
       Damit sind die Mansours eigentlich ein Musterbeispiel für das von der
       Senatsbildungsverwaltung 2011 vorgestellte „Gesamtkonzept Inklusive Schule“
       (siehe Kasten und Interview). Die Idee: alle Kinder lernen gemeinsam, ob
       behindert oder nicht.
       
       Die Idee ist schön – doch die Realität sieht anders aus. Mindestens 15
       Wochenstunden Betreuung durch eine SchulhelferIn hat Maryems Arzt
       empfohlen, damit das Lernen an der Regelschule klappt – trotz ständigem
       Messen des Blutzuckers, dem Einstellen der Insulinpumpe und der besonderen
       Aufsicht, die Maryem etwa beim Sportunterricht benötigt. 20
       Schulhelferwochenstunden wurden der gesamten Schule für das laufende
       Schuljahr zunächst von der Schulaufsicht zugeteilt – so viel, wie Maryem
       laut Arzt alleine benötigt.
       
       Christian Geißler arbeitet als Sonderpädagoge an der
       Karlsgarten-Grundschule. Gemeinsam mit der Schulleitung schreibt er der
       zuständigen Koordinierungsstelle der Schulaufsicht jedes Frühjahr, wie
       viele Kinder der insgesamt 400 SchülerInnen welchen besonderen Förderbedarf
       haben. Für das laufende Schuljahr sind es 36 Kinder. „Das Problem ist“,
       sagt Geißler, „dass wir, wenn wir uns im Frühjahr den Bedarf für das
       Schuljahr überlegen, noch nicht genau wissen, wie viele neue Kinder mit
       Förderbedarf wir tatsächlich im Herbst haben werden. Und seitens des Senats
       gibt es keine Nachsteuerungsreserve.“ Maryem war in den Berechnungen also
       noch nicht einmal berücksichtigt. Gleichwohl saß sie am ersten Schultag im
       Klassenraum – und brauchte ihr Insulin, viermal pro Schultag.
       
       Man habe sehr wohl reagiert und nachgesteuert, verteidigt sich die
       Senatsbildungsverwaltung. „Am 26. August erhielt die Schule die Mitteilung
       über eine Erhöhung der Stunden auf 24“, teilt Sprecherin Beate Stoffers
       mit. Da hatte das Schuljahr schon begonnen. Sechs Schulhelferstunden
       sollten Maryem zugeteilt werden. „Wie die Schule die Stunden letztlich
       aufteilt, liegt aber im Ermessen der Schulleitung“, betont Stoffers.
       
       Geißler schnaubt: Bei 24 Schulhelferstunden für 36 Kinder bleibt
       rechnerisch noch nicht einmal eine Stunde pro Woche je Kind. Die
       Senatsbildungsverwaltung findet trotzdem, dass das genügt: „Die Tätigkeiten
       der SchulhelferInnen beinhalten keine Maßnahmen im Sinne einer ständigen
       Assistenz.“
       
       Bei Maryem aber ist es nun mal mit dem Blutzuckermessen nicht getan. „Ich
       muss auch in den Pausen dabei sein und bei den drei Sportstunden, die sie
       pro Woche hat“, sagt Schulhelferin Renate Ratzmann. Und dann sind da noch
       die anderen Kinder, die mit Downsyndrom, ein autistischer Junge. Weil
       Ratzmann sich „nicht vierteilen“ kann, wie sie sagt, Maryem aber auch nicht
       alleine durch die Frühstückspause turnen darf, wurde die Mangelwirtschaft
       nun relativ drastisch organisiert: „Bis auf drei Stunden gehen alle
       SchulhelferInnenstunden in die Klasse von Maryem“, erklärt Geißler. Die
       Aufmerksamkeit der Schulhelferin muss sich Maryem allerdings mit dem
       autistischen Kind teilen. Die restlichen drei Stunden gehen in eine Klasse,
       in der zwei Kinder mit Förderbedarf „geistige Entwicklung“ sitzen. Eine
       weitere Klasse, unter anderem mit einem schwer verhaltensauffälligen Kind,
       bekommt Ratzmann derzeit gar nicht zu sehen.
       
       7 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
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