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       # taz.de -- Dawid Danilo Bartelt über Brasilien: „Die Favela ist ein komplexes Gebilde“
       
       > Der Autor über Diskriminierung in seinem Land, den Strand als
       > demokratischen Ort und die aristokratische Vergangenheit von Copacabana.
       
   IMG Bild: Cover-Ausschnitt von Dawid Danilo Bartelts „Copacabana – Biographie eines Sehnsuchtsortes“.
       
       taz: Herr Bartelt, ihr Buch „Copacabana – Biographie eines Sehnsuchtsortes“
       erstreckt sich von der Kolonisierung Brasiliens ab 1500 bis ins heutige Rio
       de Janeiro. Wen trifft man denn heute im Stadtteil Copacabana? 
       
       Dawid Danilo Bartelt: Der Mythos zieht in aller erster Linie natürlich in-
       und ausländische Touristen aus aller Welt an. Für einen Brasilianer ist ein
       Besuch in Copacabana Pflicht. Die meisten Hotels in Rio befinden sich in
       Copacabana. Man ist mitten in der Stadt, wohnt komfortabel, macht drei
       Schritte und ist an einem Strand, an dem man bedenkenlos baden kann.
       
       Und wer lebt in Copacabana? 
       
       Der kleine Stadtteil Copacabana hat offiziell rund 150.000 Einwohner. Es
       gibt praktisch keine Baulücken mehr. Wenn man etwas Neues bauen will, muss
       man etwas Altes abreißen. So ging es kürzlich auch einem der letzten
       Gebäude aus der klassischen Moderne der 1930er Jahre. Lange Zeit hatte es
       das österreichische Generalkonsulat beherbergt, nun wird dort ein
       Hotelklotz entstehen. Der Umgang mit Architektur in Rio ist
       verantwortungslos. Dennoch gibt es viel Dynamik in der Stadt, Zuzug und
       Wegzug.
       
       In Copacabana lebten zunächst nur ein paar Fischer, erst Anfang des 20.
       Jahrhunderts dehnte sich Rio richtig aus, warum so spät? 
       
       Das liegt an der sehr speziellen Topografie. Die Grenze Rios ging früher
       bis an die Felsenkette, hinter der sich Copacabana befindet. Dorthin zu
       kommen, war sehr beschwerlich. Richtig erschlossen wurde Copacabana erst,
       als der erste Tunnel gebaut wurde, das war 1892. Die andere Frage lautet:
       Seit wann gehen die Leute an den Strand, um in Sonne und Meer zu baden?
       Diese kulturelle Erfindung ist gerade mal 150 Jahre alt. Das hat man früher
       nicht gemacht. Auch nicht in Brasilien, wo das Wetter gewissermaßen dazu
       einlädt. Das erste Seebad gab es im englischen Brighton, und 1798 gab es
       dann das erste deutsche Seebad in Heiligendamm. Das war damals aber nur für
       den Adel bestimmt. Auch Copacabana in Rio entstand als „aristokratischer
       Ort“, als neues Wohn- und Freizeitkonzept für den Geldadel. Die Arbeiter
       aus den dichtbebauten Stadtkernen Rios kamen in Massen erst ab den 1970er
       Jahren.
       
       Die Stadtentwicklung Rios war sehr eng mit dem Blick auf Europa und dem
       europäischen Modernitätsbegriff verknüpft. Wie ist das heute? 
       
       Die brasilianische Politik grenzt sich heute relativ heftig gegen Einflüsse
       aus der „ersten Welt“ ab. Präsidentin Dilma Rousseff hat kürzlich auch ihre
       Reise in die USA abgesagt, wegen der NSA-Affäre. Hier zeigt sich meiner
       Meinung nach auch immer noch ein Rest von diesem alten
       Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Norden und Europa, auch wenn das
       Land die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt hat.
       
       Wann haben die Brasilianer angefangen, sich kulturell vom Vorbild Europa zu
       lösen und stärker die eigene Identität zu betonen? 
       
       Bis Anfang des 20. Jahrhunderts standen die Intellektuellen im Bann von
       Rassentheorien. Damit war Brasilien zu einer maximal zweitklassigen
       Zivilisation verurteilt, aufgrund seiner gemischten Bevölkerung. Das
       Projekt der Aufweißung durch europäische Einwanderer konnte da nur bedingt
       Abhilfe schaffen, es waren einfach zu viele Exsklaven und deren Nachfahren
       da. Ein erster wichtiger Schritt zu einer eigenen Identitätsstiftung ging
       vom brasilianischen Modernismus aus, einer Bewegung in Literatur, Kunst und
       Architektur. Deren Beginn wird auf die Woche der modernen Kunst im Jahr
       1922 datiert. 1928 erschien das berühmte Anthropophagische Manifest, das
       den Kannibalismus als kulturelle Metapher verwendete. Es hieß: Wir müssen
       uns die Kultur Europas aneignen, sie aufessen, um sie dann wieder als etwas
       Eigenes auszuspucken. Wir müssen aufhören sie zu imitieren und sie
       stattdessen zu etwas Neuem verarbeiten.
       
       Neu war auch das Konzept Copacabana, das etwa um jene Zeit entstand. 
       
       Ja, Copacabana war nicht nur ein ganz neuer Stadtteil, es stand auch für
       eine neue Lebensform. Es ist der erste Ort in Brasilien, wo sich das
       Apartment als vorherrschende Wohnform durchsetzte. Die Villen und Paläste
       wurden abgerissen, an deren Stellen entstanden Luxusapartmentblöcke. Sport
       und Sonne werden zum integralen Bestandteil des Alltags in Copacabana.
       Körperliche Ertüchtigung und ein gebräunter Teint gehören zu diesem
       anfänglich noch aristokratischen Lebenskonzept und waren jetzt positiv
       konnotiert, im Gegensatz zu früher. Bis dahin kam es vor allem darauf an,
       wie man gekleidet war.
       
       Das Nachtleben Copacabanas machte sich in den 50er Jahren einen Namen und
       zog viele Hollywoodstars an. Das klingt glamourös, aber auch elitär. 
       
       Das Nachtleben in Copacabana konnten sich nur wenige leisten. Es gingen
       auch mal Minderbegüterte aus anderen Stadtteilen in Copacabana aus und
       verschuldeten sich, um die Verlobte auszuführen. Wer die Bars aber dort
       regelmäßig frequentierte, war die Oberschicht und Subalterne wie Musiker,
       die letztlich aber nur Dienstleister waren. Es gab zum Beispiel Läden, da
       durften Musiker umsonst trinken, aber bekamen kein Eis. Und wenn man im
       Sommer seinen Whiskey ohne Eis trinkt, dann ist man sehr schnell betrunken.
       Aber die Musik war gleichzeitig auch das, warum die Leute in den 1950ern
       und 1960ern dorthin wollten, Samba, Bossa Nova, Jazz. Das gehörte zum
       Modernitätsverständnis dieser Oberschicht.
       
       Wie exklusiv ist Copacabana heute? 
       
       Ein Bier kostet in Copacabana heute nicht mehr als woanders. Es gibt auch
       viele Einwohner mit wenig Geld. Sie leben teilweise zu viert in 25
       Quadratmeter kleinen Wohnungen. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Leute
       sich im Wohnen abwechseln: die eine arbeitet nachts als Prostituierte, der
       andere tagsüber im Büro. Manch ein Favela-Bewohner hat mehr Geld und sagt
       sich: ich wohne lieber freiwillig hier oben als da unten in so einem Klotz,
       wo mich keiner kennt und keiner grüßt.
       
       Ist es kein Zeichen der Armut, in einer Favela zu wohnen? 
       
       Die Favela ist ein sehr komplexes Gebilde. Wenn man in der Favela lebt,
       dann ist man in der hegemonialen Wahrnehmung per se arm und kriminalisiert.
       Doch 99 Prozent der Favela-Bewohner sind schwer arbeitende und in der Regel
       schlecht bezahlte Menschen, die ihre Familie durchbringen und ihren Kindern
       ein besseres Leben ermöglichen wollen. Nur eine sehr kleine Gruppe ist in
       kriminelle Geschäfte verwickelt und nimmt die ganze Favela quasi in
       Geiselhaft, genauso wie es die Polizei auch macht, wenn sie sich dort
       einquartiert. Favelas gibt es ja nur, weil Leute nah bei ihrer Arbeit
       wohnen möchten. Historisch sind die Favelas immer in unmittelbarer Nähe
       derer entstanden, die Arbeit für ungelernte Arbeitskräfte zu vergeben
       hatten. Die Oberschicht braucht Köche, Chauffeure, Hausangestellte,
       Putzkräfte.
       
       Und das betrifft bis heute größtenteils die schwarze Bevölkerung? 
       
       Ja, in der Favela finden sie überwiegend schwarze Bewohner. Die Sklaverei
       wurde in Brasilien erst 1888 abgeschafft. Die Gleichung schwarz gleich arm
       gilt in Brasilien immer noch und ist dann auch die Antwort auf die Frage,
       ob es in Brasilien Rassismus gibt.
       
       Dennoch charakterisieren sie gerade den Strand von Copacabana als einen
       demokratischen Ort, an dem die gesellschaftlichen Gruppen
       selbstverständlich zusammenkommen. 
       
       Man darf dieses Allgemeinheitsprinzip, auf das die Brasilianer mit Recht
       stolz sind – der Strand als öffentlicher Ort, zu dem jeder Zugang hat –
       nicht mit einem Gleichheitsprinzip verwechseln. In Brasilien gab es keinen
       Ku-Klux-Klan und keine juristische Apartheid. Trotzdem ist ganz
       offensichtlich, dass man als Afro-Brasilianer oder Indigena zu einer sozial
       wie politisch diskriminierten Bevölkerungsgruppe gehört. Am Strand sitzt
       der Arme neben dem Reichen, doch das Verhältnis der beiden ändert das
       nicht.
       
       Soziale Ungerechtigkeiten waren auch der Grund für die Massenproteste im
       Juni. Wie ist die Stimmung in Rio momentan? 
       
       Nach den Massenprotesten haben sich in den Stadtteilen Komitees gebildet,
       die lokale Themen diskutieren. Es ist aber auch eine Radikalisierung zu
       beobachten. Neuerdings gibt es schwarze Blocks, die auf Militanz und auf
       symbolisch ausgeübte Gewalt setzen. Die Bewegung für den öffentlichen
       Nahverkehr gibt es aber schon seit 2005. Überraschend war vor allem die
       Wucht der Massenmobilisierungen am Rande des Confed-Cup im Juni.
       
       Hat die neue Bewegung so etwas wie ein gemeinsames Ziel? 
       
       Sie hat auf jeden Fall auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, dass enorme
       Summen für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016
       ausgegeben werden, während sich in den zentralen Problembereichen
       Brasiliens – öffentliches Bildungssystem, Gesundheitsversorgung – kaum
       etwas verändert. Das widerspricht natürlich auch dem Bewusstsein
       Brasiliens, dass sich politisch über die PT-Regierungen unheimlich viel
       bewegt habe in den letzten zehn Jahren. Die Armut sei verringert worden und
       man sei in der ersten Welt angekommen. Doch im Alltag kriegen die
       „einfachen Leute“ keinen Arzttermin, auch wenn es Ihnen richtig dreckig
       geht. Sie verbringen Stunden in überfüllten Bussen. Das kontrastiert mit
       der Erzählung vom modernen, erfolgreichen Wirtschaftswunder.
       
       7 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
       
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