URI: 
       # taz.de -- Ästhetik und Lohnarbeit: Kapitalistisches Elend
       
       > Eine Retrospektive des spanischen Künstlers Santiago Sierra zeichnet in
       > den Deichtorhallen Hamburg dessen Weg zu radikalen Konzepten nach.
       
   IMG Bild: Weißgold und Palladium: Kette.
       
       Am Eingang der ehemaligen Phoenix-Gummiwerke im Hamburger Stadtteil
       Harburg, heute Standort der Sammlung Falckenberg mit zeitgenössischer
       Kunst, hängt ein sonderbares Hinweisschild. Es enthält eine Auflistung
       unerwünschter Personengruppen, darunter Alkoholiker, Junkies, Obdachlose,
       Bettler, aber auch Alte, Ungebildete und Frauen mit Kindern. Geht es bei
       Kunstausstellungen – wie jetzt bei der Retrospektive des spanischen
       Künstlers Santiago Sierra – inzwischen so zu?! Nicht wirklich, denn das
       Schild ist neben Video, Fotografie und Skulptur Teil der Ausstellung.
       
       Das Schild verstört, obwohl es Selbstverständliches benennt. Zwar steht
       kein Aufpasser vor den Museumstoren, der die Besucher sortiert. Doch Museen
       sind oft genug, ob sie es wollen oder nicht, soziale Segregationsanstalten.
       Wenn vielleicht nicht immer Bildung, braucht es aber wenigstens das
       Privileg freier Zeit für den Gang ins Museum.
       
       Santiago Sierra hat mit seinen Arbeiten in den vergangenen Jahren oft für
       Diskussionen gesorgt. So ließ er sechs nebeneinanderstehenden jungen
       Kubanern gegen Bezahlung eine durchgehende Linie auf den Rücken tätowieren.
       Andere ließ er gegen Bezahlung eine umkippende Wand stützen oder
       stundenlang unter einem Pappkarton sitzen und masturbieren.
       
       Im nordrhein-westfälischen Stommeln verwandelte er die ehemalige Synagoge
       durch die Zufuhr von Autoabgasen in eine Gaskammer. Der empörte Protest
       zwang Sierra, die Aktion nach wenigen Tagen vorzeitig zu beenden.
       
       ## Es geht nicht um Wünsche, es geht um die Realität
       
       In Hamburg zeigt sich Sierra während der Eröffnung irritiert über den
       Zuspruch der Gäste. Er ist Anfeindungen gewohnt. Interviews vermeidet er.
       „In meinen Arbeiten sind nicht meine Wünsche, sondern die Realität zu
       sehen“, sagt Sierra. In seinem Werk gehe es nicht um ihn.
       
       Die Empörung über das Werk ist erklärungsbedürftig. Sierras Berliner
       Galerist Alexander Koch sagt: „Menschen arbeiten für weniger als den
       Mindestlohn, und nun sitzen sie dafür eben in Kartons.“ Sierra zufolge
       sollte Kunst nicht als letzte moralische Instanz verstanden werden. „Was in
       der Welt der Kunst erlaubt ist, deckt sich natürlich mit dem, was im
       Kapitalismus erlaubt ist. Wir teilen dieselbe Wirklichkeit“, sagte Sierra
       einmal.
       
       Eine reine Verdoppelung des kapitalistischen Elends ist Sierras Kunst
       jedoch nicht. Hängt die Aufregung über Sierras Aktionen damit zusammen,
       dass hier die Absurdität und Brutalität von Lohnarbeit sichtbar werden? Die
       Arbeit in seinen Projekten erzeugt keinerlei Mehrwert. Sie ist
       gesellschaftlich vermittelt und steht so für Tod und Elend, für
       Entfremdung, Zwang und verlorene Lebenszeit. Sierras Kritik ist
       fundamental. Es gibt nichts zu verbessern. Entsprechend fordert Sierra
       keine Lohnerhöhung und stellt auch keine alternativen Formen der
       Arbeitsorganisation vor.
       
       ## Der rote Faden durch die Hamburger Ausstellung
       
       Das Thema Arbeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Hamburger
       Ausstellung. Zu sehen sind dort auch frühere, weniger spektakuläre
       Arbeiten. Deutlich wird hier Sierras Auseinandersetzung mit Minimal- und
       Concept-Art sowie Bezüge zu Joseph Beuys, Richard Serra und Franz Erhard
       Walther, bei dem er Anfang der 90er Jahre studierte.
       
       Aus der Zeit seines Kunststudiums in Hamburg stammt die Fotoserie „Walks“.
       Entstanden ist sie bei einem Gang durch den Hamburger Hafen. Die kleinen
       quadratischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Baumaterialien, Bagger,
       Holzpaletten. Die formale Klarheit erinnert an die Wassertürme von Bernd
       und Hilla Becher. Allerdings wechseln die Ansichten auf die Dinge innerhalb
       der Reihe. Der Blick wird somit subjektiv, und auch die Dinge verändern
       sich, werden historisch.
       
       Aus dieser Zeit stammen auch Sierras Aufnahmen von Bergen und Hügeln. Sie
       erinnern an die Fotoarbeiten der Land-Art, an Künstler, die ihre Umgebung,
       ihr hübsches Kalifornien etwa, durchdeklinierten. Was hier an Dünen und
       Felsen erinnert, entstammt der Hamburger Industrie. Es sind Baumaterialien
       und -abfälle wie Schotter, Kies und Teerplatten. Zur natürlichen Umgebung
       gewordene Resultate von Arbeit als gesellschaftlichem Verhältnis.
       
       ## Friedhof verausgabter Arbeitskraft
       
       Konkreter wird Sierra 2007, als er die Fäkalien unterbezahlter Arbeiter in
       Indien drei Jahre lang in Wannen trocknen lässt und mit Härtemittel
       versieht. Es entstehen so schwere braune Klötze, die er wie Leichen in
       Holzkisten packt. In der Sammlung Falckenberg sieht man sie wie Grabsteine
       in Reihen stehen. Ein Friedhof verausgabter Arbeitskraft.
       
       Auch Sierras neuere, zumeist sprachbasierte Arbeiten sind in Hamburg
       vertreten. Darunter die Videoarbeit „KAPITALISM“. Auf zehn Bildschirmen
       arbeiten sich verschiedene Personen an den Buchstaben des Worts
       „KAPITALISM“ ab. Sie zerlegen den Begriff. Die Lettern sind aus
       unterschiedlichen Materialien, Holz, Beton, Stahl. Jemand zerhackt das
       Hölzerne „K“. Ein Baukran reißt das „I“ ein. Ein Weg, den Kapitalismus zu
       überwinden? Wieder haben wir es mit der Form von Lohnarbeit zu tun. Ein
       Zirkelschluss, kein Tigersprung. Der Ausbruch findet nicht statt.
       
       9 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Radek Krolczyk
       
       ## TAGS
       
   DIR Deichtorhallen Hamburg
   DIR Fotografie
   DIR Mindestlohn
   DIR Kunst im öffentlichen Raum
   DIR Gehörlose
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Fotografin Hilla Becher ist tot: Hochöfen als Kunst
       
       Hilla Becher gründete die „Düsseldorfer Fotoschule“. Sie fotografierte
       Fördertürme, Silos und mehr. Mit 81 ist sie nun gestorben.
       
   DIR Auf eigenen Wege: Jenseits von Retro
       
       Die Kieler Sonderausstellung „Old School – Anachronismus in der
       zeitgenössischen Kunst“ untersucht die Aktualität traditioneller Techniken
       und historischen Bildmaterials in Gegenwartskunst.
       
   DIR Mindestlohn in Europa: Deutschland gehen die Ausreden aus
       
       Europäische Arbeitnehmervertreter kritisieren auf einer Expertenkonferenz
       in Berlin ihr Unverständnis über eine fehlende Lohnuntergrenze in
       Deutschland.
       
   DIR 13. Istanbul Biennale: Den Raum des Denkens öffnen
       
       Die 13. Istanbul Biennale zieht sich im Zweifrontenkrieg zwischen
       Staatsmacht und Bewegung auf klassische Konzepte zurück.
       
   DIR Gehörlose US-Künstlerin Sun Kim: „Ich spüre meine Stimme“
       
       Die gehörlose US-Künstlerin Christine Sun Kim über das Arbeiten mit Klang,
       ihre ungebrochene Liebe zu Musik auf Vinyl und eine eigene Form von
       Notation.
       
   DIR Computer-Medien-Kunst: „Bunte Mischungen sind langweilig“
       
       Die Kunsthalle Bremen hat bemerkenswerte Bestände an Computer- und
       Videokunst. Warum sie trotzdem erst mal Fotografie zeigt – und was Fotos
       von Künstlern so besonders macht –, erzählt Sabine Maria Schmidt, seit
       April Kustodin für Gegenwartskunst, im Interview
       
   DIR Ausstellung: „Meine liebsten Schmutzstraßen“
       
       Nach langer Zwangspause arbeitet Robert Kinmont wieder als Künstler. Nun
       zeigt das Künstlerhaus Bremen Arbeiten, die so schlicht wie einnehmend
       sind.
       
   DIR Austellung über Avantgarde-Musiker: Als John Cage nach Bremen kam
       
       Die Weserburg zeigt eine Ausstellung über die Besuche des berühmten
       Komponisten. Eingeladen hatte ihn der Musikchef von Radio Bremen.