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       # taz.de -- Natur ohne Mensch: Die Welt soll wilder werden
       
       > Tiere und Pflanzen machen, was sie wollen – wenn der Mensch sie lässt.
       > Forscher arbeiten daran, dass die Wildnis nach Europa zurückkehrt.
       
   IMG Bild: Leben, wo andere Urlaub machen: Wolfsrudel in Mecklenburg-Vorpommern
       
       SALAMANCA taz | Die Wölfe sind von allein in die Lausitz gekommen und
       breiten sich im Nordwesten Europas aus. Bis nach Holland ist einer von
       ihnen in diesem Sommer gelaufen. Er war der erste Wolf seit 140 Jahren
       dort, wurde jedoch überfahren. Elche haben die Oder von Polen aus überquert
       und bevölkern den Osten Deutschlands. Und zwei Goldschakale haben den Weg
       vom Balkan nach Brandenburg gefunden, doch bis das Kojote-ähnliche Tier in
       Deutschland die Wildnis bereichert, werden wohl noch einige Jahre vergehen.
       
       Doch wer weiß das so genau. Tiere und Pflanzen machen, was sie wollen, wenn
       der Mensch sie lässt. Und wild sollen sie sich auch verhalten, denn genau
       das Anarchische macht Natur erst zur Wildnis und stellt selbst erfahrene
       Wildnisforscher wie Christof Schenk vor willkommene Rätsel.
       
       „Biologen und Artenschützer haben Schwierigkeiten mit Wildnis“, sagt
       Schenk, der Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt ist und
       drei Jahre seines Lebens im Nationalpark Manú im peruanischen
       Amazonasgebiet im Zelt gelebt und geforscht hat. „In Europa ist die Sorge
       um die Einzelarten noch sehr groß – da wird der Brachpiper oder die
       Orchideenwiese geschützt anstatt ein Ökosystem.“
       
       Dieser museale Naturschutz ist nicht nur unnatürlich, er ist auch teuer.
       Wildnisgebiete kosten hingegen kein Geld, denn der Mensch soll sich ja
       komplett heraushalten. Wildnis spart sogar Geld, weshalb die
       niederländische Regierung zur Vorbereitung auf den Klimawandel plant, die
       natürlichen Überflutungsflächen an der Küste zu erweitern. Weniger Deich,
       mehr Wald und Wiese ist ihre Devise.
       
       ## Die Wildnis spart Geld
       
       „Natürliche Systeme sind kosteneffizienter, die Natur erhält sich selbst“,
       sagt Bas Roels vom niederländischen Ministerium für Wirtschaft und Umwelt.
       Er ist es gewohnt, dass seine Zuhörer ihn skeptisch anschauen. Die
       Niederländer haben in den vergangenen Jahrzehnten die Natur in Treibhäuser
       verwandelt, nun planen sie Wildnis. „Der Klimawandel erfordert eine neue
       Sichtweise auf die Natur“, sagt Roels.
       
       Ob der Klimawandel oder einfach das Wetter eine Flut auslöst, spielt
       natürlich keine Rolle. Doch eine Oderflut wie im Frühsommer wäre
       undramatisch und kostenneutral, wenn das Hochwasser in Auwäldern oder
       Flussbetten ausgelaufen wäre, anstatt die Keller der Anwohner zu fluten.
       Oder wie Christof Schenk sagt: „In der Natur gibt es keine Katastrophen.“
       
       Roels, Schenk und 800 Wildnisexperten aus 50 Ländern von allen Kontinenten
       diskutieren gerade auf der Wildniskonferenz im spanischen Salamanca alle
       Aspekte der Wildnis. Organisiert von der amerikanischen Wild Foundation
       suchen die Vertreter von Regierungen, indigenen Gruppen,
       Naturschutzorganisationen und Universitäten nach Möglichkeiten, die Welt
       wilder zu machen.
       
       „Die Natur braucht die Hälfte“ ist die politische Forderung der
       Wildnisexperten, denn nur wenn die Menschheit der Natur die Hälfte des
       Platzes auf der Erde überlässt, haben Tiere, Pflanzen und natürliche
       Lebensräume eine Chance zu überleben. Und damit auch der Mensch. Rund 37
       Prozent der Landmasse weltweit ist Wildnis oder wird von indigenen Völkern
       natürlich genutzt, schätzen Experten.
       
       ## Es gibt auch gute Nachrichten
       
       Der Energiehunger der Industrieländer, all die Minenkonzerne,
       Palmölplantagen, Straßen und die industrielle Landwirtschaft gefährden
       zusammen das natürliche Leben und die biologische Vielfalt. Das
       Artensterben hat weltweit eine Dynamik entfaltet, die kaum mehr aufzuhalten
       scheint. Doch bei aller Dramatik um aussterbende Tiger in Asien und
       Nashörner in Afrika gibt es auch gute Nachrichten.
       
       „In Europa beobachten wir ein erstaunliches Comeback der Wildnis“, sagt
       José Tavares, der für die Schweizer VCF Stiftung die Wiederansiedlung von
       Geierarten auf dem Balkan organisiert. Doch ohne solche Projekte,
       Schutzgebiete und Gesetze hätte die Natur auch in Europa keine Chance. „Die
       Geier bringen Hoffnung“, sagt Tavares. „Sie zeigen, dass eine Verwilderung
       möglich ist.“
       
       Wildnisentwicklung und Artenschutz könnte man das auch nennen. Christof
       Schenk und Mitstreiter aus Großbritannien, Katalonien, den Niederlanden,
       der Slowakei und anderen europäischen Ländern wollen genau das fördern und
       haben daher eine „Vision für ein wilderes Europa“ entwickelt.
       
       Für ihren Mut zur Verwilderung bewundern Wildnisexperten aus Alaska oder
       Südafrika die Europäer, denn vorhandene Wildnis zu schützen sei ja nichts
       gegen den Plan der Europäer, die Wildnis zu schaffen. Als Nächstes wollen
       die europäischen Wildnisexperten ihre Regierungen überzeugen, Wildnis
       umzusetzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat immerhin schon 2007 das Ziel
       verabschiedet, zwei Prozent der staatlichen Fläche bis 2020 in Wildnis zu
       verwandeln.
       
       Noch hat Deutschland nicht einmal ein Prozent Wildnis. Aber Schenk ist
       optimistisch, den notwendigen Wandel auch in den Köpfen zu befördern.
       „Wildnis ist etwas für die Seele“, sagt der Wissenschaftler. Und die
       brauchen auch die Europäer. „Deswegen gehen wir zurück nach vorn.“
       
       7 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Fokken
       
       ## TAGS
       
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