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       # taz.de -- Die Montagsreportage: Notarzt to go
       
       > Es begann vor zehn Jahren mit einer Namensliste. Heute ist die
       > „Notarzt-Börse“ so gefragt wie nie. Der Ärztemangel hat aus der Idee ein
       > gutes Geschäft gemacht. Ein Besuch beim Chef des Branchenführers im
       > lauenburgischen Idyll.
       
   IMG Bild: Der Mediziner André Kröncke ist erfolgreicher Ärzte-Vermittler - lebhaft wird er allerdings, wenn es um Offroad-Themen geht.
       
       KIEL taz | Blaue Augen, ein dynamischer blonder Mittelscheitel und das
       Lächeln eines amerikanischen Fernsehpredigers. So empfängt André Kröncke
       auf der Webseite seiner Firma. Auf dem Bild trägt er Smoking und hält in
       den ausgestreckten Händen einen Defibrillator. Heute braucht der 46-Jährige
       lange, bevor er lächelt. Er sei müde, sagt er, und sinkt in die braune
       Ledersofa-Garnitur seines Büros.
       
       In den vergangenen Wochen ist er als Werks-Arzt für Mercedes bei der
       Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt gewesen, anschließend
       als Notarzt bei einer Auto-Rallye in Montreux. Erst gestern Abend ist er
       zurückgekommen. Hier an den malerischen Ratzeburger See, in den Erlenhof,
       einem ehemaligen Gasthaus im Fachwerkstil, das Büro und Familienwohnsitz
       zugleich ist.
       
       Das weiße Hemd, das Kröncke zu den Bluejeans trägt, wölbt sich ein wenig am
       Hosenansatz. Das Kleidungsstück sieht bei ihm so fehl am Platz aus wie ein
       Anzug bei einem Fußballer. Kröncke nippt am Kaffee, dann fängt er langsam
       an zu erzählen. „Es hat uns vor sich hergetrieben.“
       
       Es, das ist die Idee der Notarzt-Börse. Als Kröncke vor dreizehn Jahren vom
       Kieler Arbeiter-Samariter-Bund gefragt wurde, ob er fünf Kollegen kenne,
       die spontan Dienst als Notärzte übernehmen könnten, fand er diese Kollegen.
       Sie kamen dem ASB zu Hilfe und Kröncke schrieb sich ihre Namen auf ein
       DIN-A4-Blatt. Die Anfragen nahmen zu. Am Ende des ersten Jahres waren zu
       den fünf Namen 195 weitere dazugekommen. Ärzte, die noch Kapazitäten frei
       hatten. Manche arbeiteten auf einer Dreiviertel-Stelle im Krankenhaus,
       andere waren selbstständig.
       
       ## Froh über Abmeldungen
       
       Heute hat Kröncke monatlich etwa 20 Abmeldungen und bis zu 80
       Neuanmeldungen. „Ich freue mich über die Abmeldungen“, sagt er. Denn er sei
       kein Datensammler. Dreißig Ärzte sind jeden Tag auf Vermittlung der
       Notarzt-Börse unterwegs. Sie fahren 13.000 Einsätze im Jahr, für
       Krankenhäuser, die Probleme beim Besetzen des Notarztdienstes haben, für
       Kommunen, die sich schwer tun, ihre Rettungsstellen zu besetzen. Die
       DIN-A4-Liste ist auf 4.500 Namen angeschwollen.
       
       „Es werden einfach viele Dienste durch die Notarzt-Börse vermittelt“, sagt
       Christoph Thaler. Der 37-jährige freiberufliche Notarzt ist über den Tipp
       von Freunden seit 2012 bei Krönckes Firma eingetragen und arbeitet von
       Lübeck aus. Er ist zufrieden mit der Arbeit: „Man hat recht gut zu tun, die
       Börse hat viele Aufträge auf Lager. Man kann, aber muss nicht alles
       annehmen.“ Eine durchaus positive Entwicklung, meint Thaler, die ihm
       gefalle. Er könne sich die Arbeitsmenge frei einteilen, hat Spielraum für
       sein Leben. Für ihn persönlich ein „erheblicher Vorteil“.
       
       ## Neue Lebensbedürfnisse
       
       Auch der Hartmannbund, der Ärzteverband, der freie und angestellte Ärzte
       vertreten will, kann nichts Schlechtes an der Idee der Notarzt-Börse
       finden. Im Gegenteil: Neben dem wichtigen Aspekt der Versorgung werde die
       Börse der Tatsache gerecht, „dass sich die Formen der Berufsausübung neuen
       Lebensbedürfnissen anpassen“, so schreibt Michael Rauscher, der
       stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Hartmannbundes. Karrieren würden
       „nicht mehr zwangsläufig ein Leben lang in der Anstellung ausgeübt, sondern
       zunehmend abschnittsweise und selbstbestimmt organisiert“ – das schütze
       auch vor dem drohenden Burn-out.
       
       Beschleunigt hat den Erfolg von Krönckes Firma der Ärztemangel. Ein Mangel,
       der laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)
       hauptsächlich ein Problem regionaler medizinischer Abdeckung ist. In
       Städten ist die Pro-Kopf-Versorgung nach wie vor hoch. 2003 erhielt die
       Notarzt-Börse ihren ersten Komplettbesetzungsauftrag für eine Rettungswache
       der 351-Einwohner-Gemeinde Züsow bei Wismar.
       
       Kröncke weiß, dass der Notdienst als erster unter Personalengpässen zu
       leiden hat. Aber, und das betont er, bis der Ärztemangel kam und sein
       Geschäft an Fahrt aufnahm, habe er es „just for fun“ gemacht. Aus Freude am
       Beruf, aus Spaß an der Hilfe. Kröncke ist Pfadfinder und noch immer
       Mitglied bei „Horst Pfeil Segeberg“. Auch mit 46 Jahren trifft er sich noch
       mit seinen Pfadfinder-Freunden zum selbstgefangenen Schweinebraten. Er
       schiebt sich aus der Sofapolsterung hervor und nickt Richtung Wand. Dort
       hängt ein brauner, dünner Krückstock.
       
       ## Souvenir aus der Wüste
       
       Ein Mitbringsel aus dem Oman, sagt er. Mitgenommen, als er mit einer Firma
       eine Wüstendurchquerung machte. „Ein bisschen offroad, ein bisschen raus.
       Das sind die Sachen, die mir wirklich Spaß machen.“ Krönckes zweite Firma,
       Docmondis, vermittelt Ärzte weltweit an die Industrie und an
       Hilfsorganisationen. Die Vermittlung sei eine bürokratische Geschichte,
       sagt er.
       
       Das könnten auch seine Mitarbeiter, „die Nicht-Ärzte“, übernehmen. Kröncke
       selbst ist lieber draußen unterwegs. Ob Welttouren mit einer Autofirma von
       Shanghai bis nach Helsinki oder Dienste in Katastrophen-Gebieten wie Haiti
       und Sri Lanka: „Ich finde es toll, Medizin in Bereichen zu gewährleisten,
       wo man nur schwer Medizin hinbringen kann.“ Kröncke wuchtet sich mit einem
       Mal an die Kante des Sofas, jetzt ganz wach und holt Luft. Einmal hat er
       eine Gruppe Manager zum Mental-Training in die schwedische Wildnis
       begleitet.
       
       ## Der Duft von Abenteuer
       
       Die Ausgangssituation: Dreißig Menschen sind gemeinsam unterwegs, einer
       wird zum Projekt-Manager des Tages gewählt. „Da vorne ist der Wildfluss,
       fünfzehn Meter breit. Hier sind Seile, da sind Bäume. Trocken rüber, das
       ist die Aufgabe.“ Der nächste Schritt: Ressourcen scannen. Kröncke nennt
       das „einen Stab“ aufbauen. Der Plan wird ausgeführt, danach sitzt man
       gemeinsam am Feuer und diskutiert. Es riecht nach Abenteuer. Kröncke lacht,
       zum ersten Mal heute. „Ja“, sagt er. „Ich denke schon, dass ich ziemlich
       pragmatisch bin. Den ganzen Wusch um das Problem herum wegnehmen, wie
       kriegen wir die Lösung – das macht mir Spaß.“
       
       Als er durch seine Büroräume führt, bleibt er vor einem Regal stehen. In 25
       Fächern stehen 100 rote Leitz-Ordner. Er nimmt einen heraus und schlägt das
       fotokopierte Bild einer Ärztin auf, Lebenslauf, Qualifikationen. Insgesamt
       4.500 solcher Karteien quetschen sich in den Ordnern. Und Kröncke will
       anbauen. Oberhalb des Regals liegt bereits ein schmales Fünf-Fächer-Regal.
       Es wird nicht lange leer bleiben. Das Geschäft läuft gut. Die Notarzt-Börse
       erhält von den Auftraggebern pro erfolgreicher Vermittlung eine Provision
       von bis zu achtzig Euro. Kritik, er zocke Leute ab oder mache ein Geschäft
       mit der Not, will Kröncke nicht gelten lassen.
       
       Die Honorare der Ärzte orientierten sich daran, „was regional üblich ist“.
       Bis zu 40 Euro pro Stunde für Notärzte als Bereitschaftsdienstler. Was
       preislich ungefähr dem Niveau von Krankenhäusern entspreche, so Kröncke.
       „Aus der Allgemeinkasse wird da nicht mehr und weniger rausgenommen.“
       Chirurgen im Dauerdienst könnten bis zu 85 Euro verdienen, da komme es auf
       die Dringlichkeit der Auftragsausschreibung an. Und Kröncke gibt zu
       bedenken, dass die Ärzte freiberuflich bei ihm arbeiteten. Je nach
       Steuersatz gehen 30 bis 40 Prozent vom Stundenlohn ab.
       
       ## Symptom-Bekämpfung
       
       Im Großen und Ganzen ist der Preis aufgrund des Ärztemangels gestiegen – um
       etwa 15 Prozent seit Gründung der Notarzt-Börse. Aber seine Firma sei, so
       Kröncke, Vermittler, nicht Auftraggeber – letzteres sind die Krankenhäuser
       oder Kommunen. Was heißt: Den Ärztemangel wird die Notarzt-Böse nicht
       beheben können. Sie ist Symptom-Bekämpfung, keine Problemlösung. Das weiß
       auch Kröncke.
       
       Aber Kröncke wäre nicht Kröncke, hätte er sich nicht zumindest schon
       Gedanken über eine Lösung gemacht. Vor allem müsse man die ärztliche Arbeit
       vom bürokratischen Ballast befreien, ist er überzeugt, und auf
       nicht-akademische Füße stellen. So wie es mitunter schon in der
       Notarzt-Börse abläuft, wo 20 Mitarbeiter die Vermittlung regeln.
       
       Mediziner gewinnen so Zeit zurück, um sich ihrer eigentlichen Tätigkeit zu
       widmen: zu helfen. Darüber hinaus glaubt Kröncke, sollte jeder, der Arzt
       werden wolle, auch an die Universität gelassen werden. „Ein Numerus clausus
       bringt vielleicht gute Wissenschaftler hervor. Aber ich glaube nicht, dass
       er hilfreich ist, um gute Ärzte heranzuziehen.“
       
       ## Etwas zurückgeben
       
       Und dann hat er noch eine andere Idee. Die Universitäten sollten die
       Medizinstudenten nach Abschluss dazu verpflichten, ein paar Jahre in einer
       bestimmten Region tätig zu sein. In anderen Ländern wie Chile oder Peru
       herrsche auch Ärztemangel und dort werde es bereits gemacht. Die Ausbildung
       hier sei kostenlos. Da könne man für den Staat ruhig etwas Gegenleistung
       bringen, meint Kröncke. Das sei allerdings seine Privatmeinung. Der
       Ärztemangel ist ein Problem, das andere lösen müssten.
       
       Für die Notarzt-Börse gibt er das Motto vor: „Weiterarbeiten“. Kröncke will
       auch in zehn Jahren nah am Patienten sein. Wenn nötig mit Wanderstiefeln.
       „Ich werde hier nicht zu Hause sitzen, wenn es da draußen zur Sache geht.“
       Und da draußen ist überall, ob ein gebrochenes Bein auf Fehmarn oder
       Umweltkatastrophen wie der Tsunami 2004 in Sri Lanka und das Erdbeben 2010
       auf Haiti.
       
       In Syrien soll demnächst ein Krankenhaus aufgebaut werden. Kröncke würde
       gerne. Der Einsatz soll allerdings fast ein halbes Jahr dauern – zu lange.
       Dafür sei seine Verantwortung gegenüber der Notarzt-Börse zu groß. Fällt
       einer seiner Leute plötzlich aus, muss Kröncke dafür geradestehen und
       sofort einen Ersatz besorgen.
       
       Dann wühlt er in den roten Ordnern und fängt wieder an zu telefonieren.
       „Schade eigentlich“, sagt er. „Es ist etwas ganz Besonderes, wenn man aus
       dem europäischen Elfenbeinturm rauskommt und sieht, mit wie einfachen
       Mitteln man diesen Menschen effizient helfen kann.“
       
       7 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR E. F. Kaeding
       
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