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       # taz.de -- Grüne nach der Wahlniederlage: Das alte Manko Schwammigkeit
       
       > Nirgends suchen die Grünen so intensiv nach Gründen für ihre Niederlage
       > bei der Bundestagswahl wie in Bremen. Die sind freilich schwer fassbar.
       
   IMG Bild: Anja Stahmann (Die Grünen) bemüht fürs schlechte Wahlergebnis auch mal Wetter-Metaphern.
       
       Für Bremen ändert sich nichts. So viel scheint klar, und dafür gäbe es auch
       gar keinen Grund: Am Montag bereits haben die Grünen „alle Mitglieder und
       Interessierten“ zur Aussprache über das Bundestagswahlergebnis eingeladen,
       als erster Landesverband überhaupt. Und nirgends, nicht mal in
       Baden-Württemberg, wo das Ergebnis ja im Vergleich zur Landtagswahl noch
       drastischer einbrach, diskutiert die Partei so intensiv das eigene
       Verwelken bei der Bundestagswahl, nirgends sucht sie so beflissen nach
       Gründen dafür.
       
       Dabei lässt sich das Grünen-Ergebnis auch beim bestem Willen nicht als
       Quittung für die Landespolitik lesen, wie Kristina Vogt (Die Linke) in der
       jüngsten Bürgerschaftsdebatte suggeriert hatte: Im Gegenteil, die Verluste
       liegen im Durchschnitt – und nur leicht unter dem Mittel der Abgänge in
       anderen Öko-Hochburgen. Auch bei den Mitgliederzahlen hatte es vorab keine
       dramatischen Bewegungen gegeben, „da stagnieren wir seit zwei Jahren“, sagt
       die Landesvorsitzende Henrike Müller. Und trotzdem: Schon diesen Montag
       sind alle Bremer „Mitglieder und Interessierten“ zwecks Nachbereitung ins
       Konsul-Hackfeld-Haus geladen, ab 19.30 Uhr.
       
       Und in der Rubrik „Die Meinung am Freitag“, in der die Redakteure der
       Partei-Homepage beinahe jede Woche einen Kommentar aus dem Inneren der
       grünen Körperschaft publizieren, drängen sich seither die Beiträge: Acht
       mehr oder minder prominente örtliche Grüne haben sich dort schon geäußert,
       auch wenn – oder vielleicht gerade weil – klar ist, dass die wahren Gründe
       der Niederlage nicht wirklich fassbar sind: Denn, klar habe „jeder
       anekdotisch mal den Veggie-Day, mal das Pädophilie-Thema, mal die
       Steuerfrage“ genannt bekommen, sagt Matthias Güldner, grüner
       Fraktionsvorsitzender in der Bürgerschaft. Aber „es gibt keine
       Untersuchungen, die konkrete Gründe für das Nichtwählen der Grünen
       benennen“. Wo Empirie nicht möglich ist, wird Denken spekulativ.
       
       In der Politik aber führt das dazu, dass jeder an die Leerstelle der
       vermeintlich gesuchten Ursache je nach Gusto schon lange definierte
       Defizite setzen kann: Er muss es nur mit genügend Überzeugungskraft als
       bedeutendes Problem bestimmen. Und so eröffnet sich ein Feld für den Kampf
       um Richtung und Form. Der tritt als Analyse verkleidet auf, aber letztlich
       geht’s weniger um Erkenntnis als die gerade bei den Grünen eher verschämt
       gestellten Fragen der Macht. Oder, weil es weniger anrüchig klingt, um die
       Deutungshoheit. Das lässt sich an den Äußerungen ablesen. Es herrscht eine
       metaphernreiche Sprache, und anstelle argumentativer Stärke überzeugt das
       Sprachbild, indem es schlau klingt.
       
       So bemüht Marieluise Beck, alte und neu gewählte grüne
       Bundestagsabgeordnete, das sprachliche Bild von „kommunizierenden Röhren“,
       um das Verhältnis von SPD, Linken und Grünen zu problematisieren. Und dort,
       wo sie auf den erheblichen Abfluss von Stimmen an die CDU zu sprechen
       kommt, setzt sie halt einfach nur ein Ausrufezeichen: „Wenn wir“, bedrängt
       sie sodann ihre Mitgrünen, „diese Botschaft nicht verstehen, dann sind wir
       nicht zu retten.“
       
       Sozialsenatorin Anja Stahmann dagegen nutzt eher trübe Wetter-Metaphern:
       Bei ihr folgt auf Sonne Regen und vice versa, der Hahn kräht auf dem Mist
       und auch der heilige Petrus tritt auf: „Politik machen heißt“, definiert
       Stahmann schließlich, „immer einmal mehr aufstehen als umgeworfen werden.“
       Immerhin, das kommt an: Eine Leserin behauptet, die Anja habe es damit „auf
       den Punkt“ gebracht. Ein anderer postet, es gehe halt nicht mit Intellekt
       allein. Und vielleicht meint er’s gar nicht ironisch.
       
       Die Schwammigkeit ist tatsächlich ein altes Manko. Und vielen ist beim
       Wahlprogramm der Kragen geplatzt. Als viel zu detailliert, schwer erklärbar
       und öffentlich umdeutbar hat es Hermann Kuhn, mit Müller
       Parteivorsitzender, bezeichnet, „zu sehr im Detail statt in den großen
       Visionen“ war es laut Stahmann. Und „wir Grünen neigen dazu, alles auf
       einen großen Haufen zu schmeißen und alles gleich wichtig zu finden“, sagt
       Bürgermeisterin Karoline Linnert.
       
       Der Haufen hatte in diesem Fall rund 50 Seiten mehr als eine normale
       Ausgabe von Jean-Jacques Rousseaus „Contrat Social“ und erzählte die
       barocke Geschichte von einer Lage, die zwar „auf den ersten Blick gut“ sei,
       doch sei dies alles eitel Schein, überall herrsche nur Ungerechtigkeit. Und
       die Erlösung aus dem Jammertal sollte über ein Kreuz bei den Grünen in „ein
       besseres Morgen“ führen, oder, so christologisch klingt das da wirklich, zu
       einer „Welt der Gerechtigkeit“.
       
       Ach, Gerechtigkeit: 234-mal taucht der Wortstamm „gerecht“ im Wahlprogramm
       auf, und oft genug in exquisiten Komposita wie verteilungsgerecht,
       globalgerecht, altersgerecht oder zentralgerecht. Es ist ein wenig wie bei
       den arktischen Völkern mit ihren vielen Namen für unterschiedliche
       Erscheinungsformen von Schnee, bloß wird denen keiner die Expertise
       absprechen. „Unsere Stammwähler sagten uns oft, sie hätten die Grünen nicht
       wiedererkannt im Wahlkampf“, berichtet Müller von ihren Erfahrungen. Und in
       den Stammwählergebieten sind die Verluste am höchsten gewesen. Ungerecht.
       
       Schwarz-Grün wird in Bremen kein Thema sein: Aus seiner Sicht sei „die
       einzige geradlinige Konsequenz aus dem Wahlergebnis, im Bundestag in die
       Opposition zu gehen“, sagt Güldner. Auch Müller sieht das so. Und Linnert
       reagiert fast schon dünnhäutig auf die aus ihrer Sicht „rein taktisch“
       motivierte Forderung, mehr in die Mitte zu rücken: „Das Gegenteil ist doch
       richtig“, sagt sie. „Wir müssen auch die Mitte so umwerben, dass sie zu uns
       kommt.“ Für eine Partei sind solche Treffen wichtig. Es wäre auch falsch,
       sie als Nabelschau zu verunglimpfen. Sie können Probleme lösen, wenn auch
       deren Zusammenhänge ganz andere sind als diejenigen, die laut Tagesordnung
       gerade an der Reihe wären: Es wird ein Stimmungsbild geben, ein wenig
       Bedauern über die Personalien im Bund, und einiges an Unmut über den
       landespolitischen Sparkurs, aber keinen Grundsatzstreit. Man wird die
       Haltung am Ende bekräftigt haben und mehr zusammengerückt sein. Und für
       Bremen ändert sich nichts.
       
       4 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
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