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       # taz.de -- Proteste gegen Verhaftungen in Tunesien: Die Stimme des Volkszorns
       
       > Die Regierung hat offenbar große Angst vor kritischen Stimmen: In
       > Tunesien werden engagierte Rapper und Filmemacher weggesperrt.
       
   IMG Bild: Jetzt im Knast: der regimekritische Rapper Klay BBJ.
       
       MADRID taz | „Die Hexenjagd hat begonnen“, heißt es in einem
       Solidaritätsaufruf junger tunesischer Künstler und Aktivisten an ihre in-
       und ausländische KollegInnen. Das zwei Seiten lange Dokument wurde von der
       34-jährigen franco-tunesischen Journalistin des Radiosenders France-Info
       Hind Meddeb verfasst und von sechs Künstlern aus der tunesischen Film- und
       Musikbranche erstunterzeichnet.
       
       „Die Kinder der tunesischen Revolution vom Dezember 2010/Januar 2011 sind
       zurzeit eindeutig das Ziel einer systematischen Unterdrückung in Tunesien“,
       heißt es im Aufruf anlässlich zahlreicher Verhaftungen von Musikern und
       Filmemachern. Der Regierung unter Führung der islamistischen Ennahda-Partei
       sei es gelungen, Frankreich, Europa und den Rest der Welt davon zu
       überzeugen, dass sie Demokraten seien. Doch die Geschehnisse der
       vergangenen Wochen bewiesen das Gegenteil.
       
       „Es ist unsere Aufgabe, Alarm zu schlagen. Wenn die internationale
       Öffentlichkeit und die europäische Politik nicht reagieren, riskiert
       Tunesien, den Übergang in eine Demokratie zu verpassen“, schreiben die
       Künstler, die zu denen gehören, die im Dezember 2010 auf die Straße gingen
       und schließlich am 14. Januar 2011 den Sturz des langjährigen Diktators
       Zine el-Abidine Ben Ali bewirkten. Die sogenannte Jasminrevolution war der
       Auslöser für Revolten in weiteren arabischen Ländern.
       
       Seit den ersten freien Parlamentswahlen vom Oktober 2011 regiert
       Wahlsiegerin Ennahda in Koalition mit zwei kleinen, säkularen Parteien.
       Eine neue Verfassung, die binnen eines Jahres ausgearbeitet werden sollte,
       gibt es bis heute nicht. Die Islamisten nutzen die Zeit, um die
       Gesellschaft nach ihren Vorstellung umzubauen. Radikale Gruppen haben im
       vergangenen Jahr zwei linke Oppositionspolitiker ermordet. Die Lage ist
       angespannt.
       
       Hind Meddeb, die bei einer Protestaktion vor dem Gerichtsgebäude während
       der Verhandlung gegen den Rapper Weld El 15 verhaftet wurde und
       anschließend nach Frankreich floh, wirft der Regierung vor, „das von der
       Diktatur geerbte Polizeistaatssystem“ reaktiviert zu haben.
       
       ## Haft wegen kritischer Texte
       
       Neben Rapper Weld El 15 und dessen Kollegen Klay BBJ, die wegen ihrer
       kritischen Texte beide Anfang September in Abwesenheit zu 21 Monaten
       Gefängnis verurteilt wurden, legen sich Polizei und Justiz auch mit
       kritischen Filmemachern und deren Umfeld an. So wurde in der Nacht vom 20.
       auf den 21. September der 29-jährige Dokumentarfilmer Nejib Abidi, der
       Tonmeister Abdallah Yahya, der Komponist und Jazzmusiker Slim Abida, der
       Pianist Mahmoud Ayed, der Klarinettist Skander Ben Abid sowie zwei weitere
       Personen in Abidis Haus in der Innenstadt von Tunis festgenommen.
       
       „Sie wurden ins Polizeirevier Bab Bhar von Tunis gebracht, wo sie zwölf
       Stunden festgehalten wurden. Wir wissen zurzeit weder, wo sie hingebracht
       wurden, noch, in welchem Zustand sie sich befinden“, heißt es in dem
       Solidaritätsaufruf. Abidi ist Filmemacher und Präsident der gewaltfreien
       Organisation „Asso Chaabi“ sowie ehemaliges Mitglied der tunesischen
       Studentengewerkschaft UGET, wo er bereits unter der Diktatur von Ben Ali
       Oppositionsarbeit betrieb.
       
       Am Tag vor der Verhaftung wurde in seine Wohnung eingebrochen, eine
       Festplatte mit seiner jüngsten Arbeit entwendet und eine weitere gelöscht.
       „Diese letzte Verhaftung markiert eine neue Phase der Freiheitsverletzung
       in Tunesien“, beschwert sich Meddeb. Die Polizei habe keinen
       Durchsuchungsbefehl gehabt. „Es handelt sich nicht um eine Verhaftung,
       sondern um eine Geiselnahme“, heißt es im Aufruf.
       
       „Warum sind die engagierten Rapper und Filmemacher so gefährlich für die
       derzeitige Regierung?“ fragt Meddeb und gibt die Antwort gleich selbst.
       „Weil sie allen Einschüchterungen widerstehen, weil sie dem Volkszorn eine
       Stimme geben, weil sie eine verstörende Realität bezeugen und weil es ihnen
       gelingt, das von Tag zu Tag lauter werdende Echo des Widerspruchs zu
       verbreiten. Sie repräsentieren eine neue politische Kraft, die außerhalb
       der Parteien heranwächst. Sie haben einen unbestreitbaren Einfluss in den
       einfachen Vierteln, und sie bringen das wahre Gesicht der Partei Ennahda im
       Ausland ans Tageslicht.“
       
       3 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reiner Wandler
       
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