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       # taz.de -- 75 Jahre Münchner Abkommen: Becherbitter und Becherovka
       
       > Das Münchner Abkommen besiegelte das Ende der Vorkriegs-Tschechoslowakei.
       > In Ústí nad Labem soll ein „Museum der Deutschen“ entstehen.
       
   IMG Bild: Er hat hunderte Zeitzeugen befragt, Exponate gesammelt: Kurator Jan Sicha in den Räumen des zukünftigen Museums.
       
       USTI NAD LABEM taz | Noch hängt die Renovierung, die der einstigen Aussiger
       Bürgerschule ihren alten Glanz zurückgegeben hat, förmlich in der Luft. Die
       hohen Wände des 1876 im Stil der Neorenaissance erbauten Gebäudes, in dem
       heute das städtische Museum sitzt, zieren frisch erneuerte Inschriften:
       „Bildung macht frei“, steht da auf Deutsch. Und: „Gott mit uns.“
       
       Die breiten Treppen und die langen, lichtdurchfluteten Gänge, die früher
       Heimat für Generationen von Schülern waren, glänzen vor Sauberkeit. Gleich
       gegenüber des schweren Eingangstores hängt ein lebensgroßes Porträt Franz
       Josefs I., des österreichisch-ungarischen Kaisers, unter dessen Herrschaft
       die Elbestadt Aussig zum größten Binnenhafen seines Reichs anwuchs.
       
       Ihm gegenüber wirbt ein Plakat in sattem Altrosa für die Musicalversion von
       „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, irgendwo im benachbarten Sachsen. Und
       überall, zwischen Franz Josef und Aschenputtel, den frisch verputzten
       Wänden und gut gewässerten Pflanzen, ist er zu spüren: der Duft des Neuen.
       
       „Wir schaffen hier etwas Einzigartiges“, sagt Jan Sicha und schließt eine
       weiß lackierte Holztür im zweiten Stock auf. Hier entsteht gerade das
       „Museum der deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder“. Mit viel
       Energie und Herzblut kuratiert der gelernte Historiker und Diplomat Sicha
       den Aufbau dieses deutsch-tschechischen Projektes.
       
       ## 50 Millionen Kronen zu verbuchen
       
       Gemeinsam mit seiner Kollegin Blanka Mouralová, die dem Collegium Bohemicum
       vorsteht, das 2006 gegründet wurde, als die lang gehegte Idee eines Museums
       der böhmischen, mährischen und schlesischen Deutschen konkrete Formen
       annahm, ist er auf der Jagd nach Exponaten Tausende von Kilometern
       gefahren, hat Hunderte von Zeitzeugen, Sammlern und Antiquariaten besucht.
       
       „Jetzt müssen nur noch ein paar bürokratische Hürden gemeistert werden“,
       erklärt Blanka Mouralová, die gerade von einer Besprechung aus dem
       tschechischen Kulturministerium im rund hundert Kilometer entfernten Prag
       zurückkommt. Zum Beispiel, wie genau man die 50 Millionen Kronen (zwei
       Millionen Euro) verbucht, die der tschechische Staat dem Museum versprochen
       hat. „Dass die Gelder ausgezahlt werden, ist jedenfalls sicher“, sagt
       Mouralová. Obwohl die letzte Regierung im Juni dieses Jahres zurücktrat,
       ohne Fakten zu schaffen, und die jetzige Hausmeisterregierung es vor den
       Wahlen Ende Oktober auch nicht mehr schaffen wird, das versprochene Geld zu
       überweisen.
       
       „Wir haben hier in Tschechien halt keine Erfahrung mit der Gründung neuer
       kultureller Institutionen“, meint Mouralová und schüttelt ihre hellbraunen
       Locken. Bevor die Politologin 2007 in die nordböhmische Provinz berufen
       wurde, war sie Stipendiatin der Robert-Bosch-Stiftung und leitete vier
       Jahre lang das Tschechische Zentrum in Berlin, das Gegenstück zum deutschen
       Goethe-Institut.
       
       ## Zielgruppe: Deutsche und Tschechen
       
       Innerhalb des nächsten halben Jahres, glaubt Mouralová, sollte das Geld dem
       Collegium Bohemicum als Museumsträger zur Verfügung stehen. „Ein weiteres
       halbes Jahr dürfte es dann dauern, bis der Teil der ehemaligen Bürgerschule
       ausgebaut ist, in dem das Museum der Deutschen beheimatet sein wird.
       
       „Das Auswahlverfahren für die Baufirmen wird dieser Tage jedenfalls
       eröffnet“, erklärt die Direktorin des Collegiums, das seine Mitarbeiter und
       Praktikanten auch in Deutschland rekrutiert. In zwanzig Räumen, die über
       zwei Stockwerke reichen und mit einer Wendeltreppe miteinander verbunden
       sind, wird dann die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung im
       heutigen Tschechien dargestellt werden.
       
       „Unsere Zielgruppen sind Tschechen und Deutsche“, erklärt Kurator Sicha,
       der selbst aus Aussig stammt und einen deutschböhmischen Großvater hatte:
       „Die Tschechen, damit sie einen Teil der Geschichte ihres Landes
       kennenlernen. Und die Deutschen, damit sie erkennen, dass sie hier eine
       über 800-jährige Vergangenheit haben, die sie bei uns in Tschechien auch
       kulturell zu Hause sein lässt.“ Die Konfliktmentalität, die das
       Zusammenleben zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen und Mähren ein
       gutes Jahrhundert lang prägte, werde durch das Museum „bewusst überwunden“,
       wünscht Sicha.
       
       Symbolträchtig auch der Sitz des Museums inmitten des Zentrums der Stadt,
       die heute Ústí nad Labem heißt. Sie war 1945 Schauplatz eines Massakers an
       Deutschen. Die Explosion eines Munitionsdepots am 31. Juli wurde als
       Anschlag nationalsozialistischer deutscher Freischärler verkauft. Der
       Volkszorn richtete sich gegen die deutschen Zivilisten, die an ihrer weißen
       Armbinde leicht zu erkennen waren, die sie nach dem Krieg in der
       Tschechoslowakei tragen mussten. Sie wurden erschlagen oder von der
       Elbbrücke in den Fluss geworfen. Selbst Babys waren unter den Opfern, deren
       genaue Zahl bis heute nicht ermittelt ist. Allein in Meißen wurden 80
       Leichen aus der Elbe gezogen.
       
       ## Bevölkerungsaustausch
       
       Heute ist Ústí eine durch realsozialistische Plattenbauten verschandelte,
       heruntergekommene nordböhmische Provinzhauptstadt mit Unmengen an sozialen
       Problemen und einer beträchtlichen Roma-Minderheit, die hier angesiedelt
       wurde, um die Deutschen zu ersetzen. „Nach dem Krieg wurde hier die
       Bevölkerung komplett ausgetauscht“, erklärt Jan Sicha. Dazu kommt, dass die
       Industrie, die die Stadt einst ernährte, vollständig verschwunden ist. Im
       19. Jahrhundert war Aussig das Zentrum der österreichisch-ungarischen
       Chemieindustrie.
       
       „In Wien wurde einfach beschlossen, die Chemieindustrie in Aussig
       anzusiedeln, hauptsächlich wegen seines großen Elbhafens“, erklärt Jan
       Sicha. Mitten in der Stadt standen die Chemiewerke. „Noch vor 20 Jahren war
       die Elbe ein giftiger Fluss“, erinnert sich der 46-Jährige, der in Ústí
       aufgewachsen ist. Heute kann man wieder in der Elbe baden, und auf den
       Hügeln der Umgebung stehen gesunde Bäume. Dafür liegt die Arbeitslosigkeit
       bei rund 12 Prozent. „Die Stadt sucht noch immer ihre Identität, hier ist
       alles noch ein bisschen chaotisch“, sagt Jan Sicha.
       
       Da kommt das Museum nicht ungelegen, das nicht nur die einstige Identität
       der Stadt wieder ein bisschen aufleben lässt, sondern auch Besucher in die
       Stadt locken soll. „Das Museum soll auf drei Säulen basieren“, erläutert
       Blanka Mouralová. „Wir wollen nicht nur museumspädagogisch aktiv sein,
       sondern auch wissenschaftlich. Das heißt, das Collegium Bohemicum vergibt
       Promotionsstipendien, organisiert Konferenzen zu verschiedenen Punkten des
       deutsch-tschechischen Verhältnisses und schickt Zeitzeugen in Schulen.“
       
       Nicht minder wichtig seien die kulturellen Veranstaltungen wie die „Tage
       der deutsch-tschechischen Kultur“, die jeden Herbst parallel im
       böhmisch-sächsischen Grenzgebiet stattfinden.
       
       ## Seit dem 13. Jahrhundert
       
       Schließlich wolle man das lange Zusammenleben zwischen Deutschen und
       Tschechen nicht auf die Konflikte des 20. Jahrhunderts reduzieren, ergänzt
       Blanka Mouralová und hebt an, das Museum anhand eines detailgetreuen
       Papiermodells zu erklären. „Im ersten Raum wird anhand eines Films
       definiert, was einen Deutschen in Böhmen und Mähren eigentlich ausmachte“,
       sagt sie.
       
       Vor allem sei das die Sprache, deshalb ist das Museum auch offiziell den
       deutschsprachigen Bewohnern der Region gewidmet. Dann geht es weiter mit
       der Landschaft des Grenzgebiets, in der bis heute noch Reste der deutschen
       Kultur erhalten sind, wie Aussichtstürme oder Wegkapellen.
       
       Im 13. Jahrhundert kamen die Deutschen nach Böhmen, damals schon ein
       fertiges Staatsgebilde. Auf Einladung des Premyslidenkönigs Otokar
       siedelten sie sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten an, die die
       Grenze Böhmens und Mährens bilden. „Die Deutschen kamen in unwirtliches
       Gebiet und mussten sich ihren Reichtum selbst schaffen“, sagt Mouralová und
       weist darauf hin, dass sowohl der Besiedlung des 13. Jahrhunderts wie auch
       dem deutschen Unternehmertum je ein eigener Raum des Museums gewidmet ist.
       
       ## Böhmische Glaskunst
       
       Sehr erfinderisch seien die böhmischen Deutschen gewesen, weiß Sicha. „Im
       alten Österreich wurden die meisten Patente gerade in den deutsch
       besiedelten Gebieten Böhmens und Mährens angemeldet, das nicht umsonst als
       das industrielle Herz des Kaiserreichs galt“, berichtet er. Zum Beispiel
       hätten Deutschböhmen die Technik erfunden, rubinrotes Glas herzustellen,
       erklärt er und zeigt auf eine tiefrote Glasvase, die unter den Exponaten
       steht, die schon in den Räumen des Museums auf seine Eröffnung warten.
       
       Gleich neben ihr liegen zwei silbern glänzende Instrumente aus dem frühen
       20. Jahrhundert. „Toll, diese Saxophone, nicht wahr“, sagt Sicha stolz.
       „Die Deutschen waren auf der ganzen Welt bekannt für ihren
       Instrumentenbau.“
       
       Aber nicht nur schauen, sondern sich auch einfühlen soll man im Museum. In
       fünf Räumen wird das kulturelle deutschsprachige Leben in fünf
       verschiedenen Städten thematisch dargestellt. Nicht fehlen darf natürlich
       eine komplett eingerichtete Wirtsstube im Stil des frühen 20. Jahrhunderts.
       „Wo ist denn der Becherovka geblieben“, fragt Jan Sicha und sucht ein
       deutschböhmisches Erzeugnis, das sich im heutigen Tschechien großer
       Beliebtheit erfreut: einen Kräuterlikör, der früher Karlsbader Becherbitter
       hieß.
       
       Bis Jan Sicha und Blanka Mouralová zusammen auf die Eröffnung des Museums
       anstoßen können, wird es noch etwa eineinhalb Jahre dauern. Schon jetzt
       sind sich beide einig: Wir sind in den vergangenen Jahren ein enormes Stück
       vorangekommen. Damit meinen sie nicht nur das Museum, sondern das gesamte
       deutsch-tschechische Verhältnis.
       
       29 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexandra Mostýn
       
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