# taz.de -- Berliner Szenen: Dit is ’n Zauberstab
> Es nieselt, Liebe wird aus Mut gemacht und keiner hört zu.
IMG Bild: Früher Jochen Schmidt, heute Rudi Meier.
Verdammter, ekelhafter Nieselregen. Und immer noch gibt es keine
Schirmständer in der S-Bahn. Man weiß nie, wohin mit dem nassen Schirm.
Schirmständer wären gut, auch wenn man ständig seinen Schirm darin
vergessen würde, aber das würden andere auch tun, und man könnte sich, wenn
man mal einen braucht, einfach einen nehmen, den jemand anders vergessen
hat. Schirmsharing.
Jedenfalls sitze ich in der S-Bahn und lese Zeitung. Ein Mann mit buntem
Hemd steigt ein und setzt sich neben mich, seinen Schirm steckt er sich
zwischen die Beine. „Sagen Sie“, dreht er sich zu mir, „sieht das
unanständig aus, wie ich hier so sitze?“ „Wieso?“, frage ich. „Na ja“, sagt
er, und nickt Richtung Schirm.
Der Schirm ist ein langer Schirm, also ein normaler, nicht so ein
Klappdings, und ragt senkrecht zwischen den Beinen des Mannes hoch. „Wegen
dem Schirm, so?“, frage ich. „Wegen dem Schirm“, sagt er. „Nee“, sage ich,
„ist nicht unanständig. Ist ja nur ’n Schirm, wa?“ Er guckt mich an.
„Denkste. Dit is ’n Zauberstab.“
„Ach“, sage ich, „aber selbst dann ist es eigentlich nicht unanständig.“ Er
grinst. Irgendetwas in mir sagt, ich könnte ihn zurückfragen, ob er es
unanständig findet, dass meine Zeitung ein bisschen feucht ist, aber –
nein. Ganz bestimmt nicht. Ich könnte auch sagen, dass ich gerade über
Schirmständer nachgedacht habe – auch nicht. Nein, nein, nein. Ich lese
weiter.
Dann fängt er an, zum ganzen S-Bahn-Waggon zu reden. „Liebe wird aus Mut
gemacht, und ich bau mir ein Schloss aus Sand“, sagt er. „Wenn ihr mich das
nächste Mal seht, werde ich mir eine Plastiktüte über den Kopf gezogen
haben.“ Und: „Halt’s Maul, Josef.“
Niemand guckt ihn an, natürlich, und niemand sagt etwas. Wenn jemand in der
S-Bahn zu allen Leuten spricht, antwortet keiner. Heißt aber vermutlich
auch niemand Josef. Vielleicht heißt der Mann selber Josef. Oder der
Zauberstab.
27 Sep 2013
## AUTOREN
DIR Margarete Stokowski
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