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       # taz.de -- Justiz: Warum Sarrazin keine Strafe fürchten muss
       
       > Rassismus ist fest im deutschen Rechtssystem verankert, erklärt Iman
       > Attia, Professorin für Migration an der Alice-Salomon-Hochschule, bei
       > einer Veranstaltung des Migrationsrates.
       
   IMG Bild: Thilo Sarrazin (SPD)
       
       Wie kommt es eigentlich, dass die Justiz in Berlin lieber ein
       internationales Abkommen bricht, als Thilo Sarrazin zu verurteilen? Im
       April hatte der [1][UN-Ausschuss für die Beseitigung der
       Rassendiskriminierung] eine [2][Rüge veröffentlicht]: Es verstoße gegen das
       [3][internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
       Rassendiskriminierung] (PDF), dass die Staatsanwaltschaft Sarrazin wegen
       seiner Äußerungen nicht vor Gericht angeklagt hat. Der Türkische Bund hatte
       eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Beleidigung erstattet. Nach der
       Veröffentlichung der Entscheidung prüfte die Staatsanwaltschaft den Vorgang
       erneut - und wollte Sarrazin immer noch nicht anklagen. Warum nicht?
       
       [4][Iman Attia], Professorin für Diversity Studies/Rassismus und Migration
       an der Alice-Salomon-Hochschule meint: Ein Polizist, Staatsanwalt oder
       Richter muss gar keine explizit rassistischen Einstellungen haben, um zu
       rassistischen Urteilen oder Entscheidungen zu kommen. Es sei nämlich "ein
       Strukturmerkmal dieser Gesellschaft, dass sie Rassismus institutionalisiert
       hat", sagte sie am Dienstagabend auf einer Veranstaltung des
       [5][Migrationsrates Berlin und Brandenburg]. Die Gesellschaft und das von
       ihr geschaffene Recht ist also so rassistisch geprägt, dass es der einzelne
       Akteur im Justizapparat nicht mehr sein muss.
       
       Antimuslimischer Rassismus zeigt sich nach Attias Analyse in vielfältiger
       Weise: "Menschen, die als Muslime wahrgenommen werden, werden beschimpft,
       verdächtigt, belehrt, bevormundet, herabgesetzt - das sind alltägliche
       Erfahrungen." Das Spektrum der Diskriminierungserfahrungen sei sehr breit
       und äußere sich nicht nur in Aggression, sondern zum Beispiel auch in
       Mitleid gerade gegenüber Frauen. Attia: "Ich war in einem Frauenhaus, da
       wurde es als Befreiung gefeiert, dass eine Frau ihr Kopftuch abgelegt hat."
       Das Ablegen sei jedoch eher eine Kolonisierung der Frau. Sie fühle sich
       dazu gedrängt, um Hilfe in dem Frauenhaus zu erhalten.
       
       Die Funktion des antimuslimischen Rassismus ist es nach Attias Aussage,
       "Privilegien zu sichern und nationale Identität zu revitalisieren".
       Angesichts begrenzter Ressourcen könne die weiße deutsche
       Mehrheitsgesellschaft ihren Reichtum nur behalten, wenn sie die
       Arbeitskraft von Migranten und Illegalen ausbeutet und diesen den Zugang zu
       Privilegien verwehrt. Der antimuslimische Rassismus diene dazu, diese
       Diskriminierung zu rechtfertigen und den Diskriminierten die Schuld in die
       Schuhe zu schieben. Nach dem Motto: Die Muslime sind kriminell, ungebildet
       und gewalttätig, sie haben also nicht die gleichen Rechte verdient wie
       weiße Deutsche.
       
       Zwar leugnete auch Attia nicht, dass bestimmte Migrantengruppen häufiger
       kriminell oder arbeitslos sind. Das hat ihrer Meinung nach allerdings keine
       religiösen Gründe, sondern soziale und hänge damit zusammen, dass diese
       Menschen in der Vergangenheit diskriminiert wurden. Die Ursache des
       Problems seien also nicht die Migranten, sondern die rassistische
       Gesellschaft.
       
       Richtigstellung zu diesem Artikel von Iman Attia 
       
       Der Autor behauptet, ich hätte erklärt, dass Rassismus fest im deutschen
       Rechtssystem verankert sei. Diese Aussage habe ich nicht gemacht. In meinen
       Ausführungen zum Unterschied zwischen Vorurteilsforschung und
       Rassismusforschung habe ich die Begriffe des strukturellen und des
       institutionellen Rassismus eingeführt und gesagt, dass die Hinzuziehung
       dieser Ebenen für das Thema "Rassismus und Justiz" bedeuten würde, dass
       nicht (nur) Einstellungen und Interpretationen einzelner Personen im
       Rechtssystem auf rassistischen Gehalt und entsprechende Verstrickungen hin
       zu analysieren seien und Maßnahmen auf dieser Ebene ansetzen müssten,
       sondern dass das Rechtssystem daraufhin untersucht werden müsste, ob und
       wie sich rassistische Effekte auf Grund institutioneller Diskriminierung,
       also Routinen im Handeln und das ganz normale Vorgehen der Justiz ergeben,
       auch dann, wenn Einzelne nicht rassistisch eingestellt seien oder
       rassistische Motive hätten. Ich habe
       
       im Vortrag explizit darauf hingewiesen, dass ich keine
       Rechtswissenschaftlerin bin, dass allerdings erste Arbeiten hierzu in der
       einschlägigen Literatur zu finden sind. Ich habe also nicht behauptet: "Die
       Gesellschaft und das von ihr geschaffene Recht ist also so rassistisch
       geprägt, dass es der einzelne Akteur im Justizapparat nicht mehr sein
       muss", sondern dass die verschiedenen Ebenen (subjektiv, diskursiv,
       institutionell und strukturell) in Analysen und bei Gegenmaßnahmen zu
       berücksichtigen seien.
       
       Auch die Behauptung: "Zwar leugnete auch Attia nicht, dass bestimmte
       Migrantengruppen häufiger kriminell oder arbeitslos sind" und die Ursache
       in der rassistischen Gesellschaft zu suchen sei, ist nicht richtig
       wiedergegeben. Ich habe mich nicht zur Quantität von Kriminalität und
       Arbeitslosigkeit geäußert, entsprechende Äußerungen und Zahlen also weder
       bestätigt noch widerlegt. Vielmehr habe ich darauf hingewiesen, dass
       Bildungsstand, Arbeitslosigkeit, Segregation, Kriminalität und andere
       Themen als islamische und kulturelle verhandelt würden, es sich dabei aber
       um soziale und gesellschaftliche handelt, die treffender mit der sozialen
       und gesellschaftlichen Situation von Migrant_innen und der
       gesellschaftlichen Struktur dieser Gesellschaft (und nicht der Kultur der
       Anderen) nachvollzogen werden können, wie dies etwa die Pisa-Studie oder
       Studien zur institutionellen Diskriminierung in der Schule zeigten.
       
       Missverständlich ist die Aussage "ich war in einem Frauenhaus". Richtig
       ist, dass ich dort in der Beratung gewaltbetroffener Frauen gearbeitet
       habe. Das Ablegen eines Kopftuchs habe ich nicht im Zusammenhang mit den
       Ausführungen zum Frauenhaus als "Kolonisierung der Frau" bezeichnet,
       sondern im Zusammenhang mit dem französischen Kolonialismus in Algerien
       angeführt.
       
       Zu Sarrazin habe ich mich nicht geäußert. Hierzu hat der Co-Referent und
       Anwalt Hans-Eberhard Schultz die Klage des TBB auf europäischer Ebene
       zitiert (die im Artikel eingangs genannt wird) und in diesem Zusammenhang
       erwähnt, dass es interessant sei, zu verfolgen, welche Stellungnahme die
       zuständigen Stellen in der Sache geben werden. Ob Sarrazin eine Strafe
       fürchten muss oder nicht (siehe Titel des Artikels), war an diesem Abend
       kein Thema.
       
       Richtigstellung von Anna-Esther Younes und Iris Rajanayagam im Namen des
       MRBB 
       
       Der Migrationsrat Berlin-Brandenburg (MRBB) weist darauf hin, dass der
       Artikel dem Rahmen des Workshops und der gesamten Veranstaltungsreihe nicht
       gerecht wurde und die weiteren Sprecher_innen sowie die
       Teilnehmer_innendiskussion der Veranstaltung unerwähnt blieben.
       
       Unterstützt von der Bundeszentrale für Politische Bildung wird seit Mai und
       bis November 2013 eine Veranstaltungsreihe des MRBB zum Thema "Rassismus
       und Justiz" durchgeführt. Die einzelnen Workshops sind öffentlich
       zugänglich und bieten eine Plattform zur Information und sollen zur
       Diskussion und zum Austausch anregen.
       
       Im Fokus der Workshops stehen zwei Leitfragen: 1. Welche verwaltungs-,
       politik- und organisationsimmanenten Strukturen bedingen Rassismus und
       ethnische Diskriminierung in der Rechtspflege?
       
       2. Was kann von nichtstaatlicher Seite getan werden, um Rassismus und
       ethnischer Diskriminierung in der Rechtspflege entgegenzuwirken? Die
       Veranstaltungsreihe bietet ein Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit
       den genannten Fragen. Leider verfehlt der genannte Artikel in Wort- und
       Themenwahl den Charakter der Veranstaltungsreihe und vermittelt keinen
       adäquaten Eindruck von den Vorträgen und der angeregten Diskussion an
       diesem Abend.
       
       Das Thema "Rassismus und Justiz" kann - nicht nur aktuell - nicht sensibel
       genug behandelt werden:
       
       Immer noch erkennt die Bundesregierung den Genozid an Herero und Nama nicht
       an. Die Morde an Eingewanderten durch die NSU werden durch politisches und
       juristisches Fehlverhalten und institutionelle Diskriminierung begleitet.
       Es steht eine Reaktion der Bundesregierung auf die gewonnene Klage des
       Türkischen Bundes Berlin vor der EU-Kommission gegen rassistische und
       ethnische Diskriminierung aus. Racial Profiling ist von einem Gericht als
       rechtswidrig eingestuft worden und dennoch weiterhin polizeiliche Praxis.
       Neukölln entwirft ein neues Strafmodell, wonach Exekutive und Legislative
       schneller Jugendliche, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft
       angehören, kriminalisieren, verhaften und verurteilen können. Oury Jalloh
       wird in einer deutschen Gefängniszelle ermordet.
       
       Mit diesen Themen beschäftigt sich die Veranstaltungsreihe des MRBB.
       
       Als Dachverband repräsentiert der MRBB über 70
       "Migrant_innen"-Selbstorganisationen. Seit 2011 dokumentieren und
       veröffentlichen der Migrationsrat und die Kampagne für Opfer rassistischer
       Polizeigewalt Prozesse zu Racial Profiling vor Berliner Gerichten. Zudem
       begleitete der MRBB in der Vergangenheit Studien zur Kriminalisierung von
       Migrant_innen, Schwarzen Menschen und People of Color kritisch und
       verfasste Stellungnahmen zum Themenkomplex Rassismus und Justiz. Vor diesem
       Hintergrund finden die Workshops der Reihe statt. Wir begrüßen ausdrücklich
       die Berichterstattung dazu, die in Zukunft hoffentlich besser recherchiert
       und in die Öffentlichkeit getragen werden.
       
       Der nächste Workshop der Veranstaltungsreihe "Rassismus und Justiz" findet
       am 24. September von 18 bis 21 Uhr statt.
       
       Näheres unter: [6][www.mrbb.de] oder (030) 61 65 87 55.
       
       4 Sep 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www2.ohchr.org/english/bodies/cerd/
   DIR [2] /!114711/
   DIR [3] http://www.admin.ch/ch/d/sr/i1/0.104.de.pdf
   DIR [4] http://www.ash-berlin.eu/hsl/index.phtml?id=762
   DIR [5] http://www.mrbb.de/
   DIR [6] http://mrbb.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Heiser
       
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