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       # taz.de -- Die deutsche Linke und Europa: Die Hegemonie der Regeln
       
       > Bleibt Europa der Verlierer, wenn die Linke in Deutschland gewinnt?
       > Womöglich, denn sie verfolgt keine Alternativen zur Austeritätspolitik.
       
   IMG Bild: Würde sich mit der Linken für Europa etwas ändern?
       
       Die Bundestagswahl wirft allen, denen an der Zukunft Europas gelegen ist,
       zwei Fragen auf: Erstens: Bedeutet ein Sieg der deutschen Linken ein Ende
       der Austeritätspolitik? Und zweitens: Kann die Linke an der Macht die
       Eurozone aus der Krise führen?
       
       Die erste Frage wird natürlich durch Koalitionsfragen verkompliziert. Den
       Umfragen zufolge gibt es keine Mehrheit für SPD und Grüne ohne die
       Linkspartei. Eine Koalition mit der Linkspartei oder eine rot-grüne
       Minderheitsregierung hat die SPD jedoch ausgeschlossen. Aber auch für den
       Fall, dass eine Zusammenarbeit aller drei Parteien möglich wäre, lautet die
       Antwort vieler Beobachter auf beide Fragen: Nein.
       
       Denn zum einen gibt es zurzeit keine Austerität in Deutschland, nur in
       seiner Peripherie, und da deren Bewohner nicht in Deutschland wählen
       dürften, gibt es keinen Grund, sie nicht weiter zu schröpfen. Zum anderen
       ist eine deutsche Führung Europas aufgrund der Geschichte wenig
       wahrscheinlich.
       
       Beide Antworten sind wohl richtig, aber aus Gründen, die etwas anders in
       der deutschen Geschichte begründet liegen als gemeinhin angenommen, nämlich
       in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und dem Aufstieg der
       ordoliberalen Wirtschaftstheorie nach 1945.
       
       ## Keine Nachfragepolitik
       
       Die Börsenkrise von 1873 hatte in Deutschland die Diskreditierung des
       Wirtschaftsliberalismus britischen Stils zur Folge. Das Kaiserreich
       schwenkte auf ein staatlich gelenktes Industrialisierungsmodell um. Große
       Firmen, für deren Risikokapital große Banken bürgten, die wiederum von
       Staatsgarantien unterstützt wurden und deren Profite auf Exporte und der
       Konsumzurückhaltung der Bevölkerung basierten, wurden zum deutschen
       Wachstumsmodell.
       
       Zwei Kriege und die zwischenzeitliche Teilung des Landes haben es nicht
       verändert. Exporte sind noch immer die treibende Kraft, Konsumzurückhaltung
       ist weiterhin angesagt.
       
       Dies erklärt auch, weshalb der deutschen Linken der Keynesianismus niemals
       so recht eingeleuchtet hat. Konsumausgaben bedingen Lohnerhöhungen, die
       wiederum die Exporte verteuern, was Wachstum und letztendlich Arbeitsplätze
       beeinträchtigt. Warum also sollte man dies tun? Die SPD hat kaum einmal
       Nachfragepolitik betrieben, von den 1970er Jahren abgesehen. Aber besonders
       an die Jahre unter Helmut Schmidt erinnert man sich heute in Deutschland
       als Zeit, in der die Staatsverschuldung und die Arbeitslosigkeit anstiegen.
       Dass ohne Nachfragepolitik die damalige Krise weitaus schlimmer ausgefallen
       wäre, wird kaum gesehen. Deutschland glaubt an Wettbewerbsfähigkeit als dem
       einzigen Weg zu ökonomischem Erfolg.
       
       Damit wären wir beim zweiten Grund für den deutschen Hang zur Austerität:
       dem Comeback des ökonomischen Liberalismus im Nachkriegsdeutschland, dem
       Siegeszug der Freiburger Schule um Walter Eucken. Ihr Ordoliberalismus ist
       ein seltsames Zwitterwesen.
       
       ## Neue Erfolge
       
       Er hält staatliches Eingreifen für richtig, um Wettbewerb inmitten
       monetärer Stabilität sicherzustellen. Die Gründung eines Kartellamtes und
       die Bundesbank erfüllten diese Rolle gut, das deutsche Modell feierte neue
       Erfolge. Und zwar so sehr, dass andere europäische Länder beschlossen, es
       mitten in die EU-Architektur zu kopieren: sodass die Kommission stärker als
       das Parlament ist, die Wettbewerbsfähigkeit - nicht Konsum - das Ziel ist
       und eine starke Zentralbank vor allem Preisstabilität im Auge hat.
       
       Als Konsequenz ersetzen heute in der EU Regeln die politische Führung. Und
       daher basiert auch das, was wir als Vorschläge für Europas Zukunft sehen,
       auf immer neuen Regeln, die jeder befolgen soll: neue fiskalische Ziele,
       Schuldenbremsen und so weiter. Aber Führung durch Regeln zu ersetzen führt
       zu dem Problem, das der Ökonom Paul De Grauwe als die Idee beschreibt, dass
       es keinen Bedarf für eine Feuerwehr gäbe, wenn sich jeder an die Regeln zur
       Feuervermeidung hielte.
       
       Es sei denn, dass Feuer aus allen möglichen Gründen ausbricht, nur nicht
       aus dem Grund, dass sich jemand nicht an die Vorschriften gehalten hat.
       Genau das aber ist die Ursache, warum wir politische Führung ebenso
       brauchen wie Regeln.
       
       Aufgrund dieser deutschen Wirtschaftsgeschichte gibt es keinen Anlass zu
       der Annahme, dass die deutsche Linke - an der Macht - etwas anderes als die
       Rechte tun würde. Die Austeritätspolitik würde fortgesetzt, eine „Hegemonie
       von Regeln“ weiterhin die politische Führung ersetzen, die Europa so
       dringend braucht.
       
       Aber es gibt eine Alternative. Ein Anfang wäre, die immer weiter in die
       Krise führenden Austeritätsprogrammen zu beenden. Um eine Werbung von Nike
       zu zitieren: „Just (don't) do it!“ Frankreich und Portugal wuchsen im
       letzten Quartal, ebenweil sie ihre Defizitziele verpasst haben. Die
       Freiburger Ideen und ihre Institutionen haben für Deutschland funktioniert.
       Aber in ganz Europa können nie alle gleichzeitig einen Exportüberschuss
       erzielen.
       
       Hilfreich wäre auch, einen Teil der Schulden zu erlassen. Griechenland wird
       sie niemals zurückzahlen können. Weshalb sollen wir also so tun, als ob?
       
       Das alles ist nicht das gigantische Wachstumspaket für die Krisenländer,
       das manche empfehlen. Aber es könnte das Leben von Millionen normaler
       Menschen verbessern. Und das ist schließlich immer noch das wichtigste
       Argument der Linken.
       
       Übersetzung: Kim Winkler
       
       18 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mark Blyth
       
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